Wie die Währungsunion Europa spaltet

Nicht alle Länder sind gleich leistungsfähig und können es auch nicht sein. Aber auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit werden im System Euro die Schwächeren geopfert.

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Die Europäische Währungsunion steckt in einer Dauerkrise. Die Wirtschaftskraft der beteiligten Länder driftet auseinander, statt sich einander anzunähern. Das schafft großen Frust in den abgehängten Ländern und heftigen Streit zwischen den Regierungen und mit Brüssel.

Die ursprüngliche Verheißung war, dass sich die Wirtschaftsstrukturen und Wohlstandsniveaus der Mitglieder der Währungsunion annähern würden. Die ärmeren Länder sollten aufholen. Das ist nicht passiert, im Gegenteil. Philipp Heimberger vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) warnt in einer Analyse von Oktober 2018:

„Die Polarisierung der Produktionsstrukturen zwischen Kernländern und den Ländern der südlichen Peripherie stellt das größte Risiko für das Fortbestehen der Währungsunion dar.“

Während die deutsche Volkswirtschaft seit Beginn der Währungsunion 1999 bis 2017 um 27 Prozent und die österreichische sogar um 33 Prozent gewachsen ist, waren es in Italien nur bescheidene sechs Prozent und in Portugal 12 Prozent. In Griechenland lag das Bruttoinlandsprodukt 2017 inflationsbereinigt auf dem gleichen Niveau wie 19 Jahre vorher. Während der Anteil der deutschen Industrie an der Wertschöpfung auf hohem Niveau fast stabil blieb, ging er in der Peripherie kräftig zurück.

Die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) sehen die Schuld am Zurückfallen der Peripherie bei den Regierungen der Südländer. So schreibt die Europäische Zentralbank (EZB):

„Konvergenz liegt hauptsächlich in der Verantwortung der nationalen Regierungen.“

Dass es keine Konvergenz gebe, habe mit schwachen Institutionen, strukturellen Starrheiten, schwachem Produktivitätswachstum und nicht ausreichenden Maßnahmen gegen Hauspreisblasen zu tun. Ganz ähnlich schreibt auch der IW

„Einkommenskonvergenz setzt Reformen voraus, die das Produktivitätswachstum in den nachhängenden Ländern antreiben.“

Zentrifugale Kräfte

Für Michael Landesmann und Roman Stöllinger vom WIIW machen es sich EZB und IWF zu einfach. „Die Qualität der Institutionen hängt eng mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau zusammen“, halten sie gegen. Man könne nicht einfach einfordern, dass eine weniger entwickelte Wirtschaftsnation Institutionen auf dem Qualitätsniveau der fortschrittlichsten haben sollte.

Heimberger macht in seiner Analyse „selbstverstärkende Prozesse“, ohne kompensierende Gegenkräfte im Rahmen der Währungsunion verantwortlich für die ökonomischen Fliehkräfte. Sie hätten dazu geführt, dass das technologisch führende Deutschland seinen industriellen Vorsprung weiter ausbauen konnte, während die Peripherie weiter zurückfiel.

Als Ursache identifiziert er etwas, was in der von EU-Kommission, EZB und IWF zugrunde gelegten neoklassischen Theorie kaum vorkommt: die Vorteile der Massenproduktion. Wenn Handelshemmnisse abgebaut werden und sich dadurch der Markt vergrößert, profitieren die führenden Anbieter hochwertiger, komplexer Produkte am meisten. Denn sie sind besonders auf einen großen Absatzmarkt angewiesen, um die hohen Fixkosten aus Forschung und Entwicklung auf viele Produkteinheiten verteilen zu können. Weil bei solchen Produkten die Durchschnittskosten mit steigender Produktionsmenge besonders stark sinken, ist bei ihnen die Tendenz der Marktkonzentration auf die führenden Anbieter besonders stark. Dieser Effekt begünstigt gemäß dem Gravitationsmodell des Handels vor allem Unternehmen im Zentrum eines Handelsraums, da diese den Gesamtmarkt mit den geringsten Transportkosten bedienen können. Die weitere Vertiefung des gemeinsamen Binnenmarktes, die die EZB als Strategie für mehr Konvergenz vorschlägt, könnte daher ohne kompensierende Maßnahmen eher das Gegenteil von Konvergenz bewirken.

Begriffe wie Zentrum und Peripherie kommen in den Analysen von EU, IWF und EZB zur Konvergenz kaum oder gar nicht mehr vor; die Tendenz zur Marktkonzentration bei hohen Fixkosten entsprechend auch nicht. Heimberger kritisiert den Ansatz der EU-Kommission mit deutlichen Worten:

„Einseitige Betonung von Strukturreformen und solider Finanzpolitik ist mit einem Konvergenzprozess nicht kompatibel.“

Nötig sei eine Industriepolitik auf europäischer Ebene. Andernfalls werde die immer weiter zunehmende Polarisierung zwischen industriellen Gewinnern und Verlierern zu „toxischen Konflikten“ führen, die die Währungsunion gefährden.

Landesmann und Stöllinger stellen zwar fest, dass es seit einigen Jahren ein neu erwachtes Interesse der Ökonomen an Industriepolitik gebe. Sie bemängeln aber, dass dieses sich sehr stark auf die Bedürfnisse der führenden Industrieländer beziehe und die Weiterentwicklung der fortschrittlichsten Technologien und Verfahren fördert. Eine ökonomische Forschungsrichtung, die vor allem mit dem Harvard-Ökonomen Philippe Aghion verbunden ist, betont demgegenüber, dass Länder an der Spitze der technologischen Entwicklung eine andere Industriepolitik brauchen als technologisch weniger entwickelte Länder. Die Nachzügler bräuchten, so die WIIW-Forscher, eine Förderung ihrer Kapazität zur Verwendung der bereits entwickelten Technologien und Verfahren.

„Interner Kolonialismus“

Der norwegische Wirtschaftshistoriker Erik Reinert spricht sogar von „internem Kolonialismus“ in der EU, weil die Gemeinschaftsinstitutionen den offenkundigen Unterschied zwischen der gesamtwirtschaftlichen Wertigkeit verschiedener Branchen und Produkte ignorierten – zum Nachteil der Peripherie. Je standardisierter die Produkte, desto höher ist der Wettbewerbsdruck und desto geringer die Wertschöpfungsquote. Ganz unten stehen typischerweise Landwirtschaft und einfache Dienstleistungen, ganz oben komplexe industrielle Produkte. Wirtschaftliche Konvergenz würde verlangen, den Nachzüglern dabei zu helfen, die Komplexitätsleiter hinaufzusteigen. Stattdessen werde ihnen geraten, durch Kostensenkungen wettbewerbsfähiger zu werden.

Zum Beleg führt Reinert den Wandel in der Definition des Industrieländerklubs OECD von Wettbewerbsfähigkeit an. 1992, als der Vertrag von Maastricht unterschrieben wurde, war sie definiert als „das Ausmaß, in dem ein Land das heimische Einkommen steigern und gleichzeitig Güter und Dienste produzieren kann, die gegenüber ausländischen Konkurrenten bestehen können“. Im Jahr 2015 war Wettbewerbsfähigkeit für die OECD dagegen „ein Maß für den Vorteil oder Nachteil eines Landes beim Verkaufen seiner Produkte auf internationalen Märkten“, gemessen vor allem anhand der Lohnstückkosten.

Das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, bedeutete also 1992 höherwertige Produkte zu erzeugen, die höhere Löhne ermöglichen, 2015 dagegen, die Löhne und damit die Lohnstückkosten zu senken. Eine solche Strategie führe aber, so Reinert, zu Wettbewerbsvorteilen, vor allem bei einfachen Produkten und verstärke so eher die Divergenz der Wirtschaftsstrukturen.


Der Beitrag von Norbert Häring ist zuerst hier erschienen.

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Kommentare ( 21 )

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21 Comments
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Gisela Fimiani
5 Jahre her

Ist es möglich, dass eine Wunschideologie, welche alles und jeden unter einen Hut zu zwängen versucht, an der Vielschichtigkeit, Vielgestaltigkeit sowie unterschiedlichen Vorstellungen und Leitbildern, wie sie die Realität präsentiert, zu scheitern droht? Hat ein solcher Gedanke nicht im Großen wie im Kleinen Geltung?

Edu
5 Jahre her

Ist ja alles schön und gut- blicken sie einige Jahre zurück: – am Ende der Kohlregierung und Anfang der Schröder Ära war Deutschland der kranke Mann in Europa. Die auch heute noch sehr aktiven Protagonisten diskutierten die Postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft und schauten besonders auf UK und USA mit ihren sterbenden Industriegebiete. Schröder machte die Rosskur mit Arbeitsmarktreformen (Niedriglohnbereich, zurückdrängen der Gewerkschaften, Streichungen im Sozialbereich -Rentenabsenkung, Belastung der Renten etc. – sowie mit der Lohnzurückhaltung der Tarifpartner (Nettolohnrückgang) , dazu Absenkung des Spitzensteuersatzes (rückwirkend für die Industrie zum Verdruss der danach klammen Kommunen). Damit waren die Lohnstückkosten beim kranken Mann gesenkt –… Mehr

mlw_reloaded
5 Jahre her

„Man könne nicht einfach einfordern, dass eine weniger entwickelte Wirtschaftsnation Institutionen auf dem Qualitätsniveau der fortschrittlichsten haben sollte.“

Wenn ich mir so die Institutionen und Verwaltungsapparate unserer Vorzeigenation so anschaue, ihre Kosteneffizienz und Zeiteffizienz, bezweifle ich, dass uns weniger fortschrittliche Nationen darum beneiden.

Herbert Wolkenspalter
5 Jahre her

Wenn Italien 6% Wachstum hatte und Griechenland keines, aber sein Wachstum auch nicht negativ war, ist die schlechter gewordene Situation nicht durch fehlendes Wachstum zu erklären. Schlechtere bis dramatische Lage trotz besserem Ergebnis ist pervers, auch wenn das Wachstum noch so klein oder null ist. Die Fehler müssen andere sein. Darum macht es auch keinen Sinn, die Fehler mit mehr Wachstum zuschütten zu wollen. Es ist dasselbe wie mit Draghis Geldpumpe. An Geld hat es seit dem Euro nie gefehlt. In den Jahren vor der Geldpumpe wuchs die umlaufende Geldmenge jedes Jahr im oberen einstelligen Prozentbereich, manchmal darüber. Jetzt wurden… Mehr

Marc Hofmann
5 Jahre her

Die Berechnung des Wirtschaftswachstum basiert doch auf keiner grundsoliden Marktbasis (Wirtschaft/Finanz Basis). Um hier eine tragende Aussagekraft herbei zu führen muss man bei der Berechnung der Wirtschaftskraft alle Subventionstatbestandteile heraus nehmen. Hier muss der gesamte sog. Erneuerbare Energiesektor (Windmühlen, Solarmodule, E-Autos) rausgenommen werden. Da dieser Sektor auf einen marktfeindlichen Gesetz…dem EEG BASIERT. Somit also bei einer realen Wirtschaftskraft Analyse nicht mit einbezogen werden darf. Weiterhin muss der gesamte Exportanteil in die EU-Euro Länder mit in Abzug gebracht werden….also hier nur Drittländer mit eigener Währung mit aufgeführt werden. Der EU Exportanteil wird schließlich von uns Deutschen Steuerzahler und Sparer über die… Mehr

Ralf Poehling
5 Jahre her

Menschen haben eine optimale Betriebstemperatur, Bodenschätze sind ungleich verteilt und klimatische Verhältnisse je nach Region teils vollkommen anders. Daraus ergeben sich unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeiten, an denen auch die modernste Technik nur wenig zu ändern vermag.
Es macht wegen oben genannten Faktoren z.B. keinen Sinn, energieintensive Schwerindustrie an Italiens Amalfiküste anzusiedeln. Genauso sinnlos wäre es, in Deutschland Öl fördern zu wollen, oder in Schweden drei Stunden Siesta zu halten, weil die nicht vorhandene Mittagshitze irgendwen in die Hängematte zwingen würde.
Die EU erwartet in sämtlichen Regionen die gleiche Leistungsfähigkeit und offenbart sich damit als Sitzkreis von Schildbürgern.

Marcel Seiler
5 Jahre her

Das gibt viel Stoff zum Nachdenken. Denn die Kritik des Autors bezieht sich eigentlich weniger auf die Währungsunion als auf die Zollunion der EU, auch wenn der Autor das Problem der Währungsunion anlastet. Denn es ist die Zollunion, die einen großen Handelsraum schafft, in dem, nach Meinung des Autors, die technisch Fortgeschrittenen profitieren und die Nachzügler weiter zurückfallen.

Dies entspricht der These von Paul Collier (Future of Capitalism), dass die Agglomerationsvorteile von Städten die Peripherie ausbluten lässt. Ob ein Ende des Euros dieses Problem lösen würde? Ich bezweifle es.

Marcel Seiler
5 Jahre her
Antworten an  Marcel Seiler

Mein Gott, z.Zt (18.1., 20:23 h) habe ich hier einen Like von -1! Hier hat wahrscheinlich jemand gedacht, ich sei für den Euro. Nein, ich bin gegen den Euro! Und zwar seit 1998 oder so. Ich habe seit 2011 Bernd Lucke (jetzt LKR) in seinem Kampf gegen Griechenland-„Rettung“, gegen „Rettungs“-Schirme usw. unterstützt. Ich halte den Euro für eine europäische Katastrophe! – Das einzige, was ich anzweifle, ist, dass der Euro, und zwar aufgrund der *hier* diskutierten Mechanismen, die angebliche technologische Rückständigkeit bestimmter EU-Länder verursacht. Der Euro ist schrecklich genug, aber vielleicht ist er nicht für *jedes* Elend verantwortlich? Das ist… Mehr

Hans Druchschnitt
5 Jahre her
Antworten an  Marcel Seiler

Seiler

„Es ist das Schicksal des Genies, unverstanden zu bleiben. Aber nicht jeder Unverstandene ist ein Genie.“
Ralph Waldo Emerson

**Nicht falsch verstehen: Mit dem Daumen gewähre ich nur einen Vorschuß auf meinem „Freundlichkeitskonto“. Am Ende des Tages möchte ich es ausgeglichen haben.

Marcel Seiler
5 Jahre her
Antworten an  Hans Druchschnitt

Es geht hier nicht ums *un*-verstanden“ zu werden, sondern darum *miss*-verstanden zu werden. Das ist ein Unterschied.

BK
5 Jahre her

„Die ursprüngliche Verheißung war, dass sich die Wirtschaftsstrukturen und Wohlstandsniveaus der Mitglieder der Währungsunion annähern würden.“ Das ist wohl richtig, und ging für die Deutschen in den letzten 20 Jahren ganz rasant von oben nach unten.

holdtheline
5 Jahre her

Ist doch logisch. Eine Währung kann niemals eine Wirtschaftskraft herbei zaubern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, d.h., nur eine Wirtschaftskraft kann eine starke Währung gewährleisten. Aber wenn in einer Familie mehr Nehmer als Geber sind muss es ja zwangsläufig nach unten gehen. Ist alles so simpel wie 1+1= 2 ist.

Roland Mueller
5 Jahre her

Das Problem sind völlig unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen mit sehr unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen. Während zum Beispiel die überwiegend mittelständische Nahrungsmittelindustrie in Italien der größte Industriezweig ist, führt diese in Deutschland ein vergleichsweise kümmerliches Dasein. Auch die Idee, sogenannte Investoren anzulocken, hat sich als Flop erwiesen. Es handelt sich nämlich fast immer nur um Verlagerer, deren einziges Tatmotiv niedrige Löhne sind, die jede Wirtschaftsdynamik verhindern, weil durch die schlechte Bezahlung vor Ort keine nennenswerte Kaufkraft entsteht. Falls doch allen Umständen zum Trotz etwas neues entsteht, wie der wachsende Tourismus auf Sizilien, stecken Mafiosi dahinter, die das Geschäft für die Geldwäsche entdeckt haben. Kurz gesagt… Mehr