Kläger-Anwalt über Wirecard: „Einer der größten Wirtschaftsprozesse aller Zeiten“

Der Bilanzskandal beim Zahlungsabwickler Wirecard nimmt immer größere Ausmaße an. Maximilian Weiss von der Kanzlei Tilp, die schon eine erste Schadensersatzklage eingereicht hat, kündigt im Interview mit Börse Online an, nun auch den festgenommenen Ex-Vorstandschef Braun ins Visier zu nehmen. Von Wolfgang Ehrensberger

imago images / Sven Simon
Ex-Wirecard-Vorstandsvorsitzender Markus Braun ist festgenommen worden (Fotomontage)

Der Bilanzskandal beim Zahlungsabwickler Wirecard nimmt immer größere Ausmaße an. Der zurückgetretene Ex-Vorstandschef Markus Braun ist von der Staatsanwaltschaft München festgenommen worden. Eine Richterin soll nun über Untersuchungshaft wegen des Verdachts auf Marktmanipulation und Bilanzfälschung entscheiden. Ihm wird laut einer Pressemitteilung vorgeworfen, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen von Wirecard „durch vorgetäuschte Einnahmen aus Geschäften“ aufgebläht zu haben.

Das Unternehmen erklärte zu Wochenbeginn, dass die in der Bilanz fehlenden 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf Treuhandkonten bei zwei philippinischen Banken liegen sollten, mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ nicht existierten. Wirecard verhandelt jetzt intensiv mit seinen Banken um die Fortführung der Kreditlinien, um den Geschäftsbetriebe aufrechterhalten zu können. Allein die Commerzbank, die LBBW und die ING sollen laut Finanzkreisen mit jeweils 180 Millionen Euro involviert sein. Eine Invsolvenz von Wirecard gilt als nicht ausgeschlossen. Die Wirecard-Aktie stürzte am Montag weiter fast 40 Prozent auf 16 Euro ab. Am Dienstag erholte sie sich nach einem weiteren Absturz auf unter 13 Euro wieder etwas. In der Vorwoche hatte das Papier über 70 Prozent verloren, nachdem die Bilanzvorlage zum vierten Mal verschoben wurde, weil die Wirtschaftsprüfer EY eine 1,9 Milliarden-Lücke in der Bilanz entdeckt hatten.

Aufsicht räumt Fehler ein: „Eine Schande“

Der Fall wirft auch ein schlechtes Licht auf die Finanzaufsicht Bafin und die Wirtschaftsprüfer EY, die das Zahlenwerk erst nach einer externen Sonderprüfung genauer überprüften. Bafin-Chef Felix Hufeld räumte am Montag Fehler ein. Was dort passiert sei, sei ein „totales Desaster“, sagte Hufeld. „Es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist.“ Private und öffentliche Institutionen, inklusive seiner eigenen Behörde, hätten versagt, sagte Hufeld. Zur Frage, ob Wirecard seine Banklizenz behält, wollte sich die Bafin auf Anfrage von Börse Online nicht äußern. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sprach am Montag mit Blick auf Wirecard von einem „ernsten Problem für die Aktienkultur und die Corporate Governance in Deutschland“.

Derweil könnte mit Wirecard nach der Lufthansa innerhalb kurzer Zeit ein weiterer Konzern aus dem DAX absteigen. Die nächste Index-Überprüfung der Deutschen Börse steht am 3. September an. Ein sofortiger DAX-Ausschluss ist beispielsweise bei einer Insolvenz möglich. Kursverfall, ein fehlendes Testat oder ein fehlender Jahresabschluss allein sind noch kein Grund. Die Deutsche Börse wollte sich auf Anfrag von Börse Online nicht konkret dazu äußern, wann Wirecard den DAX verlassen könnte.

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Die vor allem in der „Financial Times“ erhobenen Manipulationsvorwürfe hatten 2019 mehrfach drastische Kursstürze ausgelöst. Im September 2019 hat der Aufsichtsrat die Wirtschaftprüfung KPMG mit einer Sonderprüfung beauftragt. Das Ergebnis wurde Ende April 2020 vorgelegt. Die Prüfer beklagten fehlenden Datenzugang und nicht nachvollziehbare Zahlungen. Nach der erneuten Verschiebung der Bilanz am 18. Juni trat Wirecard-Chef Markus Braun am vergangenen Freitag zurück. Er hatte Manipulationen stets bestritten und sah sein Unternehmen als Opfer von Leerverkaufs-Attacken.

Klagewelle rollt

Die juristische Aufarbeitung des Skandals ist in vollem Gang. „Sicher ist bereits jetzt, dass wir mit dem Fall Wirecard Zeugen eines der größten Wirtschaftsprozesse aller Zeiten werden“, sagte Anwalt Maximilan Weiss von der Kanzlei Tilp gegenüber Börse Online (siehe Interview unten). Auch die Fondsgesellschaften DWS und Union Investment, die zeitweise zu den größten Wirecard-Aktionären gehörten, haben Klagen angekündigt. Die Staatsanwaltschaft München prüft nach Angaben von Montag eine Ausweitung ihrer Ermittlungen. „Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten“, sagte eine Behördensprecherin.

Börse Online: 1,9 Milliarden Euro fehlen in der Wirecard-Bilanz. Wie hoch schätzen Sie das insolvenzrisiko ein?
Maximilian Weiss: Zur Frage des Insolvenzrisikos äußern wir uns nicht. Wir gingen aber schon zuvor davon aus, dass das Geld nicht verschwunden ist – weil wir Grund zu der Annahme hatten, dass das Geld nie da war.

Werden Sie die Klage nach der jüngsten Zuspitzung ausweiten?
Wir klagen kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche gegen Wirecard ein. Daneben werden wir womöglich noch weitere Haftungsgegner ins Boot holen, etwa Ex-Vorstände. Schon jetzt sind wir aber sicher: Wir werden mit Wirecard Zeuge eines der größten Wirtschaftsprozesse aller Zeiten. Ich rechne mit Schadensersatzansprüchen von zwei Milliarden Euro.

Warum verklagen Sie nicht auch gleich EY, die Wirtschaftsprüfer von Wirecard?
Wir haben EY ebenso im Visier wie andere Haftungsgegner. Wir haben uns ein Jahr vorbereitet, dass bei Wirecard eine Bombe platzt. Jetzt gegen EY zu klagen, wäre aber verfrüht. Aber EY läuft uns nicht weg. Ein guter Jäger schießt, wenn alles passst.

Mit was ist der Fall Wirecard vergleichbar? Etwa dem Comroad-Skandal aus der Zeit des Neuen Marktes, wo Chef Bodo Schnabel wegen Betrugs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde?
Comroad, Infomatec, EM.TV – es gab leider viel zu viele solcher Fälle zu Zeiten des Neuen Marktes. Immerhin hat sich seitdem einiges getan. Vor allem hat der Gesetzgeber das Haftungsregime zum Wohl der Aktionäre deutlich verschärft. Die Werkzeuge nutzen wir jetzt, um den Wirecard-Geschädigten möglichst viel Geld zurückzuholen.


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Kommentare ( 29 )

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Fulbert
3 Jahre her

Gegen das, was die EZB tut, geradezu Lappalien.
Ansonsten hat das Unternehmen doch nur die Regierungsdoktrin beherzigt, sich an das Recht zu halten, so weit dies moeglich ist.

Korner
3 Jahre her

Endlich wieder eine Gelegenheit, bei der nur die Anwälte die Gewinner sind.

conanthebarbarian
3 Jahre her

Ein Blick auf die Aktie der Deutschen Bank offenbart ebenfalls viel über die Aktienkultur hierzulande. Der Chartverlauf des größten deutschen Bankhauses ist der eines Pleitekandidaten.
Es gehört schon jede Menge Hochmut dazu, jetzt die Backen aufzublasen wie Herr Sewing das tut.

Alexis de Tocqueville
3 Jahre her

Puh, darauf nen Luckin Coffee.

Alexis de Tocqueville
3 Jahre her

Weil es Quatsch ist.

Wolfgang Richter
3 Jahre her

Der Deutsche-Bank-Chef Sewing hat erkennbar auch den Humor einen Komikers. Wenn der von „Aktienkultur“ u. ä. redet, sollte er dabei bedenken, wie viele kriminelle und unredliche Absprachen, Geschäftsmodelle die Aktie der Deutsche Bank in den Keller gedrückt haben. Wenn er die mehr als mindestens 11 Milliarden, die über die Jahre an Strafgeldern gezahlt wurden, noch in der Bilanz hätte, sähen Ansehen und wirtschaftliche Stabilität „seiner“ Bank auch noch anders aus. Statt über andere auch nur ein Wort zu verlieren, hätte er sich besser in Schweigen und Demut bekreuzigt und in die früher mal aus der Schule bekannte Ecke zurück gezogen.

Onan der Barbar
3 Jahre her

EY hat sich damit allen Firmen empfohlen, die sich einen „toleranten“ Buchprüfer nach dem Basd-scho-Prinzip wünschen. Einspringen muss die Haftpflichtversicherung und für diese wiederum die Rückversicherung. Business as usual.
Und da wundert sich noch jemand, dass bei einer gewissen Sorte von naiven Jugendlichen linke Ideologien derzeit hoch im Kurs sind??

Porcelain by Nocken-Welle
3 Jahre her

*

Von Wirecard der Herr Braun sollte eine Stelle in der EU-Kommission bekommen. Da ist bald Expertise über verschwundene Milliarden gefragt….

***

Ronaldo
3 Jahre her

Mir ist das Ganze unerklärlich. Wenn bei Apple einmal 2 Mrd. fehlen würden: Ok. Ist unschön. Aber wenn man zig Milliarden allein in der Kasse hat, relativiert sich das. Bei Wirecard geht es aber um ein Viertel der Bilanzsumme! Wenn Ey anscheinend nicht einmal dafür eine Saldenbestätigung einholt und kritisch prüft, was haben die denn dann im Jahresabschluss geprüft? Ob die Inventur im Büromateriallager in Ordnung war? Und wie sieht es eigentlich mit internen Kontrollen aus? Gab es bei Wirecard keine „interne Revision“? Gab es nicht einmal einen mitdenkenden Buchhalter dort? Von der BAFIN fange ich lieber gleich gar nicht… Mehr

Verleihnix
3 Jahre her
Antworten an  Ronaldo

Nun, irgendwer muss seinem Gewissen wohl auf alternative Weise Luft verschafft haben, sonst wäre ja die Financial Times vermutlich nicht schon vor fast einem Jahr darauf gekommen sein, dass da was faul ist. 1.9 Milliarden einfach verschwinden zu lassen, ist gar nicht so einfach, und läuft sicher schon eine ganze Weile.

Als ich mir anlässlich des DAX-Aufstiegs damals Wirecard angesehen hatte, klang mir das alles recht wolkig. Da habe ich mich an Warren Buffets Ausspruch erinnert: „Only invest in ’simple businesses‘ that you understand“ und es gelassen.

wolleus
3 Jahre her

Ja, die Wirtschaftsprüfer müssen sich trotz Hochsommer warm anziehen, denn sie haben ziemlichen Mist gebaut. Eine oder auch mehrer Bilanzen zu testieren, wo Geld auf Girokonten nicht nachvollzogen werden kann (las ich bei WELT), ist schon dramatisch schlecht. Die Vorlage von Kontoauszügen des Geldinstituts ist einfaches Tagesgeschäft. Wirecard zu verklagen dürfte jedem Anwalt Spaß machen, aber nur solange das Unternehmen existiert. Gehen die in Konkurs, ist bei Wirecard als virtuelle Bank bzw Zahlungsdienstleister doch kein großartiges Vermögen mehr vorhanden. Also wieder eine Abzocke. Doch so ist es immer, wenn man nur Behauptungen aufstellt, Begründungen und Beweise schuldig bleibt. Alleine die… Mehr