Mitten in der guten Stube steht er – prachtvoll geschmückt, mit goldenen Kugeln, Glitzersternen, Strohfiguren und echten Kerzen. Kaum ein anderes Symbol ist so eng mit unserem Empfinden von Weihnachten verbunden. Ein Stück Natur im Haus, das man sich alle Jahre wieder hereinholt.
picture alliance / dpa Themendienst | Karl-Josef Hildenbrand
Kaum ein anderes Symbol ist so eng mit unserem Empfinden von Weihnachten verbunden wie der Christbaum. Und er riecht – frisch, harzig, lebendig. Dieser Duft, den viele für das eigentliche Weihnachtsaroma halten, stammt aus den sogenannten Terpenen – leicht flüchtigen Kohlenwasserstoffen, die die Nadeln verströmen. Sie wirken beruhigend, leicht stimmungshebend und gehören zu den komplexesten Duftgemischen, die Pflanzen abgeben.
Doch mit dem Baum holt man sich nicht nur Wald und Wohlgeruch in die warme Wohnung, sondern auch ein kleines Ökosystem: winzige Pilzsporen, Bakterien, Staubpartikel. Ein genauer Blick auf Baum und Borke zeigen, dass sich auf der Rinde und den Nadeln eines Baumes mehrere hundert Arten von Mikroorganismen finden können – von harmlosen Bodenbakterien bis zu Schimmelpilzen. Unter dem Mikroskop entpuppt sich die vermeintlich glatte Tannennadel als Miniaturlandschaft: Rillen, Poren, feine Harztröpfchen – ideale Plätze für Kleinstlebewesen.
Wenn der Baum in die warme, trockene Heizungsluft gestellt wird, verändert sich sein Mikrobiom. Die Feuchtigkeit sinkt, Sporen lösen sich leichter von der Oberfläche. Messungen in amerikanischen und skandinavischen Wohnungen zeigten, dass die Zahl luftgetragener Schimmelsporen nach dem Aufstellen eines Weihnachtsbaums zunächst leicht ansteigt, nach etwa zehn Tagen aber ihr Maximum erreicht. Danach fällt sie wieder ab. Für gesunde Menschen ist das unbedenklich, bei Allergikern und Asthmatikern kann es aber Reizungen auslösen.
Abhilfe schaffen einfache Maßnahmen: Baum kurz abduschen, trocknen lassen, nicht zu lange stehen lassen, regelmäßig lüften. Auch ein Luftreiniger mit HEPA-Filter kann Spitzenbelastungen dämpfen. Im Übrigen stammen die meisten Bakterien in der Wohnung ohnehin nicht vom Baum, sondern von uns selbst – über Hautpartikel, Kleidung, Atemluft.
Rund 26 Millionen Weihnachtsbäume werden jedes Jahr in Deutschland verkauft. Etwa 80 Prozent davon sind Nordmanntannen – mit dunklem, glänzendem Grün und weichen, nicht stechenden Nadeln. Die Art stammt aus dem westlichen Kaukasus, wo sie der finnische Botaniker Alexander von Nordmann im 19. Jahrhundert entdeckte. Sie kann bis zu 60 Meter hoch und 500 Jahre alt werden.
Ehe sie in deutschen Wohnzimmern landet, liegt ein langer Weg hinter ihr. Das Saatgut stammt fast immer aus Georgien, wo Erntearbeiter die Zapfen pflücken – oft 50 Meter über dem Boden. Eine Nordmanntanne blüht erst nach 20 bis 25 Jahren; aus den Zapfen werden die Samen gewonnen, in Baumschulen ausgesät und zwei Jahre später als kleine Sämlinge „verschult“ – das heißt, umgepflanzt. Nach zehn bis zwölf Jahren steht sie als Zweimeterbaum auf dem Hof eines Händlers.
Der Aufwand ist groß: Auf einem Hektar Weihnachtsbaumplantage fallen jährlich etwa 80 Stunden Handarbeit an. Um formschöne Bäume zu erhalten, werden Spitzen gestutzt und Seitentriebe abgezwickt. Damit Vögel die zarte Spitze nicht abbrechen, klemmen Arbeiter kleine Stäbe an – Sitzplätze, die die obersten Triebe schützen. Denn ein Weihnachtsbaum mit abgebrochener Spitze lässt sich kaum verkaufen.
Ein Weihnachtsbaum wächst nicht in unberührter Wildnis. Auf den Plantagen wimmelt es von Brombeeren, Gräsern, Läusen, Spinnmilben und Pilzen, die um Nährstoffe konkurrieren. Ohne gezielten Pflanzenschutz würde kaum ein Baum die geforderte Qualität erreichen. Gegen Unkraut kommen Herbizide oder zunehmend Schafe zum Einsatz – sie fressen Beikräuter, verschonen aber die Tannen.
Gegen Nadelfraß durch Kleingetier wie den Grünrüssler oder Pilzkrankheiten helfen punktuelle Spritzungen. Verglichen mit normalem Ackerbau ist der Einsatz jedoch gering – der Baum steht zehn Jahre an einem Ort, der Boden wird nicht ständig umgepflügt, und zwischen den Reihen siedeln sich zahlreiche Pflanzen- und Tierarten an.
Bis zu 145 Tonnen Kohlendioxid benötigt ein Hektar Weihnachtsbaumkultur im Lauf der Jahre als „Rohstoff“, um Stamm, Äste und Nadeln zu „bauen“. Wer meint, ein „Plastikbaum“ sei ökologischer, irrt in der Regel allerdings. Kunststoffbäume stammen zumeist aus Asien, werden aus PVC und Metall hergestellt und müssen viele Jahre benutzt werden, um ihren CO2-Fußabdruck zu kompensieren. Ein echter Baum hingegen wächst mit Sonnenlicht, Wasser und Kohlendioxid – und wird meist verbrannt, wodurch die gespeicherte Energie sogar noch genutzt werden kann.
Trotz aller Debatten über sogenannte Nachhaltigkeit bleibt der Naturbaum ein emotionaler Fixpunkt. Junge Familien greifen wieder häufiger zum echten Baum, gerade weil er lebendig ist, duftet und ein Ritual schafft. Viele kaufen zusätzlich kleine Bäume für Balkon oder Terrasse – der Weihnachtsbaum als Fortsetzung des Gartens.
Ein Ökoweihnachtsbaum im strengsten Sinn – ungeschnitten, ungedüngt, naturbelassen – erweist sich meist als Marktflop. Die Kunden wünschen Symmetrie, satte Farbe, dichten Wuchs. Was im Wald romantisch wirkt, sieht im Wohnzimmer schnell nach Sturmbruch aus. So bleibt es beim Kompromiss zwischen Ästhetik und Biologie.
Wenn die Dämmerung hereinbricht und die Kerzen am Baum entzündet werden, beginnt ein anderer Teil des Weihnachtszaubers. Unser Gehirn steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus über Licht. In der Netzhaut sitzen Ganglienzellen mit dem Pigment Melanopsin, die empfindlichst auf blau-türkisfarbenes Licht um 480 Nanometer reagieren. Dieses Licht hemmt die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin. Kerzenlicht dagegen enthält kaum Blauanteile. Seine Farbtemperatur liegt bei etwa 1800 Kelvin, das Spektrum ist warm, orange-rot, melanopisch „schwach“. Das bedeutet: Kerzen beeinflussen die innere Uhr kaum. Sie signalisieren Abend, Ruhe, Rückzug; es fördert die Melatoninproduktion und damit die Schlafbereitschaft.
Der Mensch hat seit jeher im Schein des Feuers Gemeinschaft erlebt – ein Urmuster, das selbst in der elektrischen Welt fortlebt. Wer einmal Weihnachten in den Tropen erlebt hat, weiß, dass etwas fehlt. Nicht nur Schnee, auch die Dunkelheit. Auf der Nordhalbkugel fällt das Fest in die Zeit der Wintersonnenwende – den kürzesten Tag, die längste Nacht. Der Baum, die Lichter, das Feuer – Symbole gegen die Finsternis.
Auf der Südhalbkugel fällt Weihnachten in den Hochsommer. Es wird spät dunkel, die Luft ist warm, und Kerzen wirken deplatziert. Die seelische Tiefe, die im winterlichen Norden entsteht, entfaltet sich dort kaum. Weihnachten ist also nicht nur ein Fest der Geburt, sondern auch ein Fest des Lichts im Dunkel, eingebettet in die astronomische Jahreszeit.
So bringt der Weihnachtsbaum gleich mehrere Welten zusammen: chemisch aufgrund der Terpene, die unser Wohlbefinden beeinflussen, biologisch als Lebensraum für Mikroorganismen, als Sauerstoffproduzent und CO2-Speicher, physiologisch durch das warme Licht, das unseren Tag-Nacht-Rhythmus respektiert, und schließlich kulturell als Symbol von Kontinuität und Geborgenheit in der dunklen Jahreszeit.
Er ist also weit mehr als Dekoration. Er ist eine miniaturisierte Naturerfahrung, ein jahrhundertealtes Ritual und ein biologisches Wohlfühlprogramm zugleich. Zwischen den Nadeln hängen nicht nur Kugeln, sondern Geschichten, vom Zapfenpflücker und auch vom Kind, das mit leuchtenden Augen die Kerzen anzündet. Das ist Weihnachten in seiner schönsten Form – naturwissenschaftlich erklärbar, aber emotional doch ein kleines Wunder.


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Sehr geehrter Herr Douglas.
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, daß die Lust auf einen Tannenbaum mit Ihrem Beitrag gestiegen ist. Naja, heute ist der 24.12. Nun ist er halt da…🥹