Hänsel und Gretel in Hanoi

Die deutsche Märchenwelt ist nicht nur in Deutschland allseits bekannt, sondern hinterlässt auch am anderen Ende der Welt ihre Spuren: Eine weihnachtliche wahre Geschichte.

picture-alliance/ dpa/dpaweb | Inga Sommer

Diese wahre Geschichte atmet den weihnachtlichen Geist, obwohl es in den asiatischen Ländern natürlich keine Weihnachten gibt. Sie zeigt, dass die historische deutsche Kultur bis heute in allen Ländern verbreitet und wirksam ist, denn Deutschland war einmal das Land der Dichter und Denker und vor langer Zeit auch das Land der Komponisten. Und wenn sie nicht gestorben wären, dann lebten sie noch heute. Das wünschte man sich, hätte man einen Wunsch frei. Denn neu dazugekommen sind in Deutschland seit langer Zeit keine mehr, weder Dichter, noch Denker.

Nun, so denkt manch geneigter Leser, Grimms Märchen kenne man nur in Deutschland. Aber nein, sie sind international bekannt. Auch hinter den Sieben Bergen in Vietnam erzählen die Eltern ihren Kindern manch deutsche Mär.

Gerne erzählen sie den Kleinen auch von Hänsel und Gretel. Vor 30 Jahren, als Vietnam noch sehr arm war, wurde das Märchen der armen Eltern, die ihre Kinder aus Not verstoßen, noch ganz anders verstanden, als das heute im noch reichen Deutschland der Fall ist.

Folgende Geschichte hat sich tatsächlich zugetragen. Vor 30 Jahren, als ein guter Freund in Hanoi noch ein Kind war, musste seine Mutter Nudelsuppe verkaufen, um ein kärgliches Überleben zu sichern. Der Vater, ein Lastwagenfahrer, war zumeist unterwegs und kam nur selten nach Hause.

Eines Tages tobte der Bub mit seiner kleinen Schwester durch das Häuschen. Die Kinder spielten Fangen, sprangen über Tisch und Stuhl, und im Überschwang warfen sie die Suppenschüsseln um, in denen bald die Nudelsuppe verkauft werden sollte. Scheppernd zersprangen sie auf dem Steinboden. Der armen Mutter ging das über die Hutschnur und sie raunzte die Kinder an: Verschwindet, ich will euch nicht wieder sehen!

Kurz zuvor hatte die Mutter den Kindern das Grimm’sche Märchen von Hänsel und Gretel vorgelesen. Die Kinder mussten gehen, weil die armen Eltern nichts mehr zu essen hatten. Und so verstand der Junge die Mutter auch. Die Suppenschüsseln waren kaputt. Wie sollte die Mutter nun Geld verdienen? Dem Kind wurde plötzlich klar, dass sie von nun an auf sich selbst gestellt waren. So sprach Tienh zu seiner kleinen Schwester: Du hast Mutter gehört. Sie will uns nicht mehr, weil wir alles kaputt gemacht haben. Wir müssen nun gehen und gucken, wo wir unser Essen finden. Wir können hier nicht mehr bleiben.

Die kleine Schwester fing alsbald an zu weinen, aber was half’s? Da nahm Tienh seine Schwester bei der Hand und so verließen sie das Haus. Aber ganz hatte der Junge seine Eltern nicht aufgegeben und er erinnerte sich an Hänsel und Gretel. So sprach er zu seiner Schwester: Lass uns an der Straße Steine sammeln. Bevor wir verhungern, versuchen wir wie Hänsel und Gretel mit der Spur der Steine wieder zu Mama zurückzufinden. Der Bub hing sich eine kleine Tasche um und sie verließen das Häuschen, um im Großstadtdschungel zu überleben.

Am Straßenrand sammelten sie Steine, steckten sie in das Täschchen und legten eine Spur, wohin sie auch gingen. Viel Steine gab’s und wenig Brot. Nach einer Zeit bekamen die Kinder Hunger und die kleine Schwester begann zu weinen. Tienh sprach zu ihr: Wir müssen schauen, dass wir nicht an die Hexe geraten. Die will uns schlachten und kochen. Sie liefen an den Straßenküchen vorbei und schauten misstrauisch auf die Verkäuferinnen, ob diese nicht rote Augen hätten, wie dies im Märchen beschrieben war. Endlich kamen sie an einen Stand, an dem ein Mann belegte Baguettes verkaufte.

Ich glaube, das ist keine Hexe, meinte Tienh, und die kleine Schwester schluchzte: Ich habe Hunger. Der Mann guckte mitleidig und schenkte den beiden ein mit gegrilltem Hühnerfleisch belegtes Baguette und das schmeckte so gut, wie es noch nie zuvor geschmeckt hatte.

Weiter gingen die beiden Geschwister durch die Großstadtschluchten und hinterließen fleißig ihre Spur der Steine. Die kleine Schwester begann wieder zu weinen und jammerte: Ich bin müde. Ich will schlafen. Unter einer Brücke fand der Junge einen Platz, auf dem sie es sich so gemütlich machten, wie es eben ging.

Derweil bemerkte die Mutter, dass ihre beiden Kinder nicht mehr da waren. Bald begann sie sich Sorgen zu machen. Sie suchte im ganzen Haus nach den beiden und ging dann auch auf die Straße. Als sie die Steinspur sah, erinnerte sie sich, dass sie ihren Kindern Hänsel und Gretel vorgelesen hatte. Und sie wusste, dass ihre Tochter nicht nur eine reiche Fantasie hatte, sondern auch sehr klug war. Also folgte sie der Spur der Steine, durch die Großstadtschluchten Hanois. Entlang der Baumalleen, die die Franzosen gepflanzt hatten, vorbei an Ständen mit belegten Baguettes, auch ein Erbe der Franzosen. Mit der Zeit zweifelte die Mutter doch, ob sie nicht einer Schimäre folgte, und sie war verzweifelt, dass sie ihre Kinder so angefahren hatte, hatte sie diese doch herzlich lieb.

Zuletzt führte die Spur der Steine unter eine Brücke, wo sie zu ihrer großen Freude ihre beiden Kinder friedlich schlummernd fand. Sie herzte und drückte sie an sich, und die Kinder waren froh, dass sie wieder bei ihrer Mutter waren. Freudigen Herzens machten sie sich auf, um wieder nach Hause zu kommen, immer der Spur der Steine nach.

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Kommentare ( 2 )

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Sonny
3 Stunden her

Wer weiß, ob in fünfzig Jahren überhaupt noch jemand in Deutschland Märchen der Gebrüder Grimm lesen darf. Da habe ich meine argen Zweifel.
Wahrscheinlich gebrandmarkt als zu brutal und außerdem gewinnt überwiegend immer „das Gute“.
Den eigentlichen Sinn dahinter verstehen Deutschlands Cancel-Obermoralisten sowieso nicht. Und traditionell wird sowieso in diesem Land alles ausgegrenzt und abgeschafft, was in der Vergangenheit für weltbestimmende, außergewöhnliche Leistungen stand (z.B. auch deutsche Ingenieurskunst) – wo kämen wir denn da hin, wenn es noch Götter gäbe, die den Berufspoltikern intellektuell überlegen sind?!
Die neuen Märchen sind dann politisch bereinigt. So läuft das heute.

Unglaeubiger
12 Stunden her

Und wenn sie nicht gestorben wären, dann lebten sie noch heute.“ Sie würden jedoch verfolgt, ausgegrenzt und ihrer bescheidenen Existenz beraubt, verspottet und ihre Werke entsprechend verächtlich gemacht. Ihrem Schicksal sei Dank, dass sie die Verzwergung, Verhunzung und Verabscheuung ihrer Kunst, da ja nicht woke und zeitgemäß GAGA, nicht mehr erleben müssen! Auch wenn sie in der Zeit in der sie lebten so manchen Widerstand und Widrigkeiten überwinden mussten.