Das Glück beginnt für Epikur auf dem Teller, aber es endet nicht dort. In diesem Sinne richtet sich dieses Buch weniger an ausgewiesene Feinschmecker als all jene, die gut und „normal“ essen wollen, auf Grundlage deutscher Küchentradition, ohne Verbote und Gebote.
Das mediale Dröhnen um Köche, Küche und Kulinarik, die Allgegenwart der Kochshows im deutschen Fernsehen, mehr als 2 000 Kochbücher, die jedes Jahr auf den Markt kommen, nicht zu vergessen die unter PR-Getöse publizierten Rankings maßgeblicher Gastroführer wie dem „Guide Michelin“ – all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass guter Geschmack und die Fähigkeit zum Genuss nicht selbstverständlich sind, und es um die deutsche Esskultur ein halbes Jahrhundert nach Ausrufung des „deutschen Küchenwunders“ nicht zum Besten steht.
In den Siebzigerjahren, als der größte Hunger der Nachkriegszeit gestillt war, versuchten Kochkünstler wie Eckard Witzigmann, Alfons Schubeck, Franz Keller und Vincent Klink sowie Gastronomiekritiker wie Wolfram Siebeck oder Gert von Paczensky den Deutschen lustvolles Essen und Genießen auf Grundlage qualitätsvoller und frischer Produkte nach französischem und italienischem Vorbild nahezubringen.
Was sie mühevoll anstießen, droht nun einer regelungswütigen Politik und dem woken Zeitgeist zum Opfer zu fallen: der Globalisierung mit Geringschätzung des Eigenen bei kritikloser Anbetung alles Fremden, dem Individualismus, der Effekthascherei, dem Ökologismus, einer moralgetränkten Cancel Culture, dem Bequemlichkeits- und Schlankheitswahn, dem Gesundheitsimperativ.
Den Rest besorgt der wirtschaftliche Niedergang einer bislang führenden Wirtschaftsnation. In Deutschland gibt es mittlerweile rund 340 Sternerestaurants, selbst eine Mittelstadt wie Augsburg kann mit einer Handvoll sogenannter Gourmettempel aufwarten. Doch woher sollen die Gourmets kommen, zumal das Geld längst nicht mehr so locker sitzt wie einst? Schon heute arbeiten viele Restaurants an der Rentabilitätsgrenze, suchen händeringend nach Personal.
Zugleich wollen immer weniger Menschen selbst kochen, droht der häuslichen Küche ein Traditionsabriss. Großmütter, die vielleicht noch einen Hauswirtschaftsunterricht oder eine entsprechende Ausbildung genossen haben, gehen den Weg alles Zeitlichen; ihre (weiblichen) Nachkommen sehen den familiären Dienst am Herd als Erniedrigung an und geben entsprechende Fertigkeiten nicht mehr an die nächste Generation weiter. Die Enkel- und Urenkel können oft nicht einmal mehr eine Möhre von einer Lauchstange unterscheiden, geben sich allzu bereitwillig den Verheißungen der Lebensmittelindustrie hin und bevölkern mittelmäßige Restaurants.
Dann werden die Schlangen an den Kassen der Discounter, wohlgemerkt eine deutsche Erfindung, lang und länger und auf den Parkplätzen von Aldi, Lidl und Penny stauen sich beileibe nicht nur Wagen der Unter- und Mittelklasse. Zu den Kunden der Billigheimer zählen nicht nur jene, die sparen müssen, weil ihnen das Geld zum Lebensunterhalt fehlt, sondern auch die, für die Sparen eine Art Sport geworden ist. Und während sich leichtlebigere Völker wie Franzosen und Italiener lustvoll über Essen unterhalten, eine ihrer Hauptbeschäftigungen, tauschen sich deutsche Konsumenten im Zweifel darüber aus, wo man ein noch günstigeres Sonderangebot findet oder eine neue Rabatt-App herunterladen kann. (…)
Wer Frankreich bereist, meint immer noch, sich in einem anderen Universum zu befinden. Fast jede Region verfügt über ihre kulinarischen Besonderheiten, auf die sich der patriotische Stolz der Bevölkerung richtet. Immer noch gibt es, trotz Ladensterben, in jeder größeren französischen Stadt mindestens einmal pro Woche einen bestens sortierten Bauernmarkt, wo sich die Franzosen mit frischem Obst und Gemüse, Fleisch, Käse und anderen Viktualien eindecken. In den Großstädten bieten öffentliche Markthallen ein Angebot, von dem man in Deutschland vielerorts nur träumen kann. Bis zu vom Staat finanzierten Prestigeprojekten wie der „Cité de la Gastronomie“ in Dijon, einer Hochburg des guten Geschmacks in Frankreich. (…)
Undenkbar in Deutschland, wo sich die Kartoffelsuppen-Kanzlerin Angela Merkel und der Currywurst-Groupie Gerhard Schröder für ihre genussferne Lebensweise rühmen konnten und Politiker wie Oskar Lafontaine mit Hohn übergossen wurden, der als saarländischer Ministerpräsident für die Berliner Landesvertretung des Saarlandes die Chuzpe besaß, einen bekannten Koch zu engagieren. „Ein Spitzenkoch leistet mehr als mancher Sesselfurzer“, konterte der genussfreudige Sozialist seinen Kritikern. Wenn Linke auch meist daneben liegen, in dieser Hinsicht hatte der Mann recht. (…)
Genussfeindlichkeit, Sparsamkeit, Verzichtskultur – woher rühren diese Prägungen? Wenn man sich die Landkarte der verzeichneten Sternerestaurants in der deutschen Ausgabe des „Guide Michelin“ betrachtet, kommt man dem Rätsel auf die Spur. Im Süden und Südwesten des Landes ballen sich die noblen Adressen, während der Osten und Norden zur kulinarischen Diaspora zählen. Das Nordost-Südwest-Gefälle hat mit Wohlstand, aber ganz offensichtlich auch mit kulturellen Einflüssen zu tun, die aus Italien und Frankreich segensreich auf Deutschland einwirken und deren Wurzeln bis in die Antike reichen, als die Römer ihre Esskultur in Germanien implantierten, gipfelnd und bis heute symbolisch aufgeladen in den verschwenderischen Gastmählern des Feldherrn und Feinschmeckers Lucius Licinius Lucullus. Davon zehren wir noch heute.
Im Protestantismus gibt es diese recht bequeme Form der Sündenvergebung nicht. Dort gilt, was der bedeutende deutsche Soziologe Max Weber als „innerweltliche Askese“ bezeichnete. Vor allem der Calvinismus propagiert Weber zufolge eine „Lebensform des permanenten Aufschubes“, die sich in Sparsamkeit und strenger Arbeitsdisziplin niederschlägt. Zur Staatsform wurde diese Lebensform im protestantischen Preußen, welches große Teile Nord- und Ostdeutschlands umfasste. Diese macht sich bis heute in der kulinarischen Landschaft bemerkbar.
Zum Preußentum gesellte sich in Mittel- und Ostdeutschland nach Kriegsende der „real existierende Sozialismus“, der wiederum maßgeblich auf protestantischer Arbeitsethik fußte. Dazu kam ein tiefsitzendes Ressentiment gegenüber den, so das Klischee, stets schlemmenden und Zigarre rauchenden Kapitalisten. Die Mangelwirtschaft tat ein Weiteres, um die DDR zum kulinarischen Niemandsland zu machen. Auch diese Prägung wirkt fort.
Unterdessen zieht sich das Christentum katholischer wie protestantischer Prägung auf breiter Front zurück, was Räume eröffnet für Heilslehren wie den Ökologismus und den alle Lebensbereiche tangierenden Kampf gegen die „Klimakrise“. Jetzt legen sich die Gläubigen nicht mehr aus Gottesfurcht, sondern aus angeblich wissenschaftlich begründeter Notwendigkeit Fesseln an, um schon im Hier und Jetzt ins Nachhaltigkeitsparadies einzugehen.
Sinnbildlich stehen dafür Vegetarismus und Veganismus, wobei die Verzichts- und Unverträglichkeitslisten immer länger werden: kein Fleisch, kein Fisch, kein Fett, kein Alkohol, kein Salz, keine Laktose, kein Gluten, aus welchen nachvollziehbaren oder eingebildeten Gründen auch immer. Genervte Köche, konfrontiert mit den pseudo-asketischen Anwandlungen ihrer Gäste, können ein Lied davon singen.
Dabei handelt es sich aufseiten der Dies-das-und-jenes-Verweigerer meist nur um den Wunsch nach Distinktion, nach dem Motto „Sag mir, was du nicht isst und ich sag dir, was du bist!“, und nicht wirklich um eine Verzichtsleistung, weil man die Leerstellen im Zweifelsfall mit Substituten wie veganem Fleischersatz zu kompensieren versucht. Wenn sich „Verzicht“ irgendwo niederschlägt, dann in Sachen Genuss. (…)
Das Anything Goes hat längst die gesamte europäische Gourmetküche durchdrungen und selbst in Wirtshäusern wird zuweilen wild und wurzellos herumexperimentiert. Molekular- wie Kreativküche mögen im Einzelfall neue Geschmackswelten eröffnen, doch selten reicht das, was Epigonen fabrizieren, in Sachen Originalität und Qualität an das Original heran. Im Gegenzug ist oftmals jene Sicherheit auf der Strecke geblieben, die eine Orientierung an überlieferten Regeln bietet. Fast nie weiß man, was einen erwartet. Wahrer Genuss meist nicht.
Statt geschlemmt wird heute verkostet, in kleinen und kleinsten Häppchen. Es ist die größtmögliche Entfremdung von dem, was Ernährung ursprünglich war. Ein Erlebnis, zweifelsohne, aber nichts, was echte Lust am Essen und Trinken bereitet: Kopfküche. Dazu liefert das Servicepersonal oft langatmige Erläuterungen zur politisch korrekten Herkunft der Produkte oder deren Zubereitung. „Betreutes Essen“ sei so unsexy wie ein Menu in der Autobahnraststätte, sagt der Gastrojournalist Ingo Swoboda.
Wo sind sie geblieben, die Schmankerl von einst? Das Schnitzel mit Rahmsoße zum „Niederknien“, der saftige Schweinsbraten, das Wildragout zum „Hineinsetzen“, die unvergesslichen hausgemachten Spätzle, der perfekte Schokoladenpudding oder, schauen wir noch einmal über die Grenze, das geniale Kartoffelpüree des französischen Drei-Sterne-Kochs Joël Robuchon. Sein Kartoffelbrei besteht mindestens zur Hälfte aus Butter und ist unwiderstehlich. Ein Skandal in Zeiten neopuritanischer Enthaltsamkeit, wo Geschmacksträger wie Butter, Sahne und Eier aus der Küche verdrängt werden. Genuss ganz ohne Reue gibt es nicht, aber Reue ohne Genuss ist eine armselige Alternative. (…)
Das Glück beginnt für Epikur auf dem Teller, aber es endet nicht dort. In diesem Sinne richtet sich dieses Buch weniger an ausgewiesene Feinschmecker als all jene, die gut und „normal“ essen wollen, auf Grundlage deutscher Küchentradition, die immer auch von anderen Esskulturen bereichert wurde. Ohne Verbote und Gebote entlang der Richtschnur: Erlaubt ist, was schmeckt. Und das Gebot der Mäßigung, wie von Epikur gefordert, schließt nicht aus, auch mal über die Stränge zu schlagen. (…)
Das höchste Glück, so die unmaßgebliche Meinung des Autors, hält die Wirtshaus- und Alltagsküche bereit, verfeinert, etwas entschlackt, mit guten Produkten, ohne schlechtes Gewissen zubereitet und verzehrt. In dem Bewusstsein, welch ungeheure zivilisatorische Errungenschaft es ist, zumindest in unseren Breiten die Zeiten allgegenwärtigen Mangels einstweilen überwunden zu haben.
Gekürzter Auszug aus:
Georg Etscheit, Kochen für Unbeugsame. Genuss ohne Zeigefinger. Edition AchGut, Hardcover mit Überzug, quadratisch, 160 Seiten, mit 42 satirischen Illustrationen in Farbe, 29,00 €





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