Der Tatort aus Münster erfindet das Fahrrad neu, entsorgt alte Rollenbilder, streicht bewährte Spitzen und bleibt doch beim bewährten Zerrbild der eigenen Welt. Zwischen Cannabis-Palliativpflege, politisch bereinigtem Humor und grotesker Täterzeichnung zeigt sich vor allem eines. Der Sonntagabendkrimi muss zeitgeistig auf der Höhe sein.
screenshot/ ARD Tatort
Es ist reichlich gewagt, die ungekrönte Hauptstadt des Fahrraddiebstahls Münster zum Ursprungsort des Fahrrades zu küren. Aber natürlich weiß das ARD-Tatort-Team, dass die zig-millionen Fans des westfälischen Sonntagskrimis diesem Drehbuch (Thorsten Wettcke) so ziemlich alles durchgehen lassen würden. Es war immer ok, wenn Herbert „Vadder“ Thiel (Claus D. Clausnitzer) unter mildem Protest seines Sohns Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) seinem Hang zu Cannabisprodukten frönte, oder Pathologe Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) seine Assistentin Silke Haller (ChrisTine Urspruch) mit Kommentaren über ihre Grösse aufzog.
Die neueste Folge räumt allerdings mit alten Gewohnheiten auf: Vaddern darf zwar noch unter eifrigem Nicken von Boerne die medizinischen Vorzüge von Cannabisöl in der Palliativpflege schildern, aber so wie den Zwerg aus der Nibelungensage darf der Professor seine Assistentin nun nicht mehr nennen. Obwohl ChrisTine Urspruch (Im Interview mit „allesmuenster“) den Spitznamen „für mich in der Rolle und auch als Privatperson total in Ordnung“ findet, seien „aber die Entwicklungen natürlich so und auch in der Gesellschaft…dass man sehr aufpassen muss, was gesagt wird. Vieles steht einfach sehr auf dem Prüfstein. Und ich kann es natürlich dann auch nachvollziehen, wenn auch wir uns da ein bisschen angleichen an gesellschaftlichen Entwicklungen.“
Das bisschen Altersdiskriminierung…
Beim Thema Zerrbild bleibt die ARD sich aber treu, hier in der Schilderung des Opfers, das dem Premierenpublikum bei der Vorstellung eines neuartigen Fahrrads „next bike“ auf denkbar makabere Art präsentiert wird. Anstelle dessen, dass sich der Deckel einer Transportkiste hebt und den Blick auf die Neukonstruktion freigibt, liegt da Albert Hobrecht (Heinrich Giskes) vor den Gästen, steifgefroren in einer Tiefkühltruhe.
Albert Hobrecht, das Scheusal: stolz auf die Initialen „A & H“
An dem toten Einzelgänger Albert Hobrecht, Spross aus einer Dynastie von Fahrradproduzenten, lässt sich posthum beim besten Willen kein gutes Haar finden. Bei groben „Soldat“ – Spielchen mit seinem vierjährigen Neffen Kurti (Kurt Hobrecht, gespielt von Simon Steinhorst) um „einen Mann aus ihm zu machen“ nahm er den weinenden Jungen so brutal in den Schwitzkasten, dass er ohnmächtig wird und einen Hirnschaden erleidet. Daraufhin wird er vom Patriarchen aus dem Haus geworfen, ihm Firmenanteile und Erbrecht gestrichen.
Von nun an macht Albert auf eigene Art Geschäfte, mit Nordkorea und dem Iran, eigentlich „sogar mit dem Teufel“. Das scheint gut zu laufen, er leistet sich ein grosses Landhaus (Assistent Schrader, gespielt von Björn Meyer, dazu: „ganz schön gross für einen alten Mann allein“) hat 5 Millionen auf dem Konto und auf dem Kaminsims unter den Jagdtrophäen Fotos von Osama Bin Laden und einem Nordkoreanischen Despoten. In seinem Testament vermacht er sein Vermögen konsequent einem Nordkoreanischen Kulturverein sowie dem Jagd- und Schiessklub. Seine Haushälterin Hilde (Julia Schmitt) hasste ihn, weil er sie schlecht bezahlte und nur mit Zettelchen „an meine Putzfrau“ mit ihr kommunizierte. Ausserdem war Albert ein inniger Freund selbstgebrannten Schnapses und dümmlicher Saufspiele wie „Kommando Bimberlä“ (erläutert von Kriminalasssistent Schraderchen und hier erklärt bei Saufspiele.net)
Seltsame Gebräuche in der Grossindustriellenfamilie
Alberts Leiche war den Untersuchungen Boernes und Hallers zufolge misshandelt worden, in dem man ihm alle Finger gebrochen hatte. Weil der tiefgläubige „Kurti“ Hobrecht Thiel nichts verheimlichen kann (Gott will nicht, dass man lügt) gibt er zu, die Verletzungen seinem toten Onkel zugefügt zu haben, als er ihn in der Truhe im Lager entdeckt habe. Aber nur, um den letzten Willen seiner Mutter zu erfüllen, die auf dem Sterbebett bereut habe, Albert nach dem, was er Kurti angetan hatte, nicht gleich selbst die Finger gebrochen zu haben.
Fussballgesänge wegen eines männlichen Nachkommen?
Kurtis Schwester Klara Hobrecht (,genannt „Löckchen“ gespielt von Karolina Lodyga) weiss über ihren Vater Beklemmendes zu berichten: Gerade noch hatte er ihr vorbildlich auf dem Schoss aus der „Raupe Nimmersatt“ vorgelesen, da habe er sie wegen der Nachricht, dass sie ein Brüderchen bekommen werde, beiseite gesetzt und ein Freudengeheul angestimmt „Olé Olé Olé .. ein Stammmhalter, ein Stammhalter“. Da habe sie sich enorm zurückgesetzt gefühlt. Sie gibt zu, die Gefriertruhe mit Hilfe ihres Liebhabers (anonymer Darsteller „Fiffi“ im Hundekostüm) auf der Bühne platziert zu haben, um die Familie zu kränken und den „Sündenfall der Hobrechts vor der Welt auszubreiten.“ Nun ist zumindest der Weg des makabren Sarkophags bis dorthin geklärt. Wie aber bekam Albert die tödlichen Verletzungen und wer fror den Leichnam ein ?
Schwere Bergetappe zum Tathergang
Da das Thema „Pedalenantrieb“ nun ja vorgegeben ist, hat Professor Boerne es vorgezogen, in dieser Episode Thiel bei der Nutzung des Fahrrades Gesellschaft zu leisten, wenn auch unfreiwillig: Ihm wurde der „Lappen“ abgenommen, was er nun wie gewohnt überkompensiert, indem er Firmenchef Konstantin Hobrecht (Franz Hartwig) sein zunächst geborgtes „next bike“ für schlappe 5.000 Euro abkaufen möchte. Dessen Vater, Kurt Hobrecht sen. (Hannes Hellmann) hat mittlerweile zugegeben, seinen angeblich bei einem Treppensturz ums Leben gekommenen Bruder aus Verlegenheit eingefroren und in seiner Firma zwischengelagert zu haben.
Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), mit der Hobrecht vor vielen Jahrzehnten gemeinsam auf dem sogenannten Hippie-Trail unterwegs war, ihr dort sogar einen Heiratsantrag gemacht hatte, ist schockiert, würde ihm (zu Thiel) nie die Tötung eines Menschen zutrauen. Sie hängt Erinnerungen an diese einzige wahre Liebe nach.
Die Ermittler strampeln gemeinsam zu Alberts einsam gelegenen Haus, um die Theorie des Sturzes zu prüfen, finden aber Hinweise auf einen Autounfall. Nun erweitert Kurt Hobrecht sein Geständnis um den Mord an seinem Bruder, der habe ihn gereizt, dann habe er ihn angefahren und so getötet. Die peinlichere Befragung von Konstantin führt zum wahren Hergang: sein Onkel hatte ihm 500.000 Euro zur Investition in das Konkurrenzprodukt „next bikes“ seines Vaters überlassen, und er hatte Albert im Anschluss an die feuchtfröhlichen Feierlichkeiten wegen eines Schaltfehlers rückwärts angefahren. Nun wird er sich einem Verfahren wegen fahrlässiger Tötung unter Alkoholeinfluss stellen müssen.
„Einfach zu alt für den Scheiss“ ?
Wilhelmine Klemm holt ihre alte Flamme Kurt Hobrecht ab, der das Gefängnis als freier Mann mit ihr im alten VW-Bulli in Richtung eines etwas gesetzteren Urlaubsziels (Schwarzwald) verlassen kann. Sie tritt als Staatsanwältin in Münster ab.
Der „stolzen Stadt Münster“ (Prof. Boerne über sie) wird auch kein Zacken aus der Krone brechen, wenn sie nun nicht, wie im Film anklingt, anstelle von Coventry als Geburtsstadt des Fahrrades gelten darf. Und Mechthild Großmann verspürt, wie sie der Tagesschau verriet, offenbar keine „Wehmut oder Abschiedsschmerz vom Münster-Tatort … sicher erinnere ich mich gerne daran, dass ich das lange gemacht habe.“ auch wenn sie gestehen musste, dass „…bei der Vorab-Premiere wohl ein Tränchen geweint werde…“.
Solange Thiel und Boerne ihren „Humor aus dem letzten Jahrtausend“ (Boerne dazu) nicht verlieren, Thiels entrüstetes Getobe bei Verhören „Ich lasse mich nicht gerne anlügen…raus mit der Sprache verdammt nochmal“ so glaubhaft bleibt, so lange werden ihnen die Zuschauer wohl treu bleiben.

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