„Megamaschine: Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ Fabian Scheidlers Geniestreich und Gesinnungsmanifest – neues Kultbuch des Zeitgeists?

Es gibt Bücher, welche die geistige Verfassung einer Zeit, einer Schicht, einer intellektuellen Elite schlaglichtartig beleuchten. Ein solches Buch ist einem Außenseiter ohne Vorbereitung und Vorankündigung gelungen. Wer wissen will, was sich in Kreisen von Attac, Grünen und Linken an politischer Aufklärung, an sozialer Hellsicht und historischem Überblick in aller Stille entwickelt hat, der sollte dieses Buch studieren. Obwohl außerhalb des akademischen Betriebs entstanden, ist es dennoch von einem Meister geschrieben, der mit gleich gut fundiertem historischen Wissen über die steinzeitlichen Anfänge menschlicher Historie wie über den Kapitalismus der Neuzeit schreibt. Dem Autor geht es darum, die Gründe aufzuzeigen, warum Geschichte von ihrem Anfang bis heute, immer wieder zu einem Irrweg wurde, wo Menschen andere Menschen beherrschten und sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten, kurz sich selbst in Zwangsjacken der Macht stecken ließen – in das Gehäuse der Megamaschine.

Auch wenn Fabian Scheidler im Vergleich völlig unbekannt ist – und vom akademischen Milieu vermutlich ebenso ignoriert werden wird wie andere Außenseiter von der Art des geistsprühenden Egon Friedell oder des großen Demokraten Lewis Mumford – habe ich nicht die geringsten Bedenken, ihn an die Seite eines berühmten Anthropologen wie Jared Diamond oder eines bekannten Historikers wie Ian Morris zu stellen. Fabian Scheidler bietet zwar keine eigene Forschung, er bedient sich nur einer Fülle von wissenschaftlichen Quellen, die heute jedermann zu Gebote stehen, aber seine ganz eigene und besondere Leistung besteht darin, der schönen Fassade der offiziellen Geschichtsschreibung die düsteren Hinterhöfe der realen Wirklichkeit gegenüberzustellen. Fabian Scheidler ist ein Aufklärer, der sich nicht mit den offiziellen Verlautbarungen über Christentum, Demokratie, Marktwirtschaft, Kapitalismus etc. zufrieden gibt, sondern uns mit unbestreitbaren Fakten und gut gesicherten Forschungsergebnissen beweist, welche Motive und Interessen sich hinter den wohltönenden Parolen verbergen. Seine Aufklärung ist in der Tat mitleidslos. Auf weite Strecken gleicht Scheidlers Gang durch die Geschichte der Führung durch die Korridore eines Zuchthauses. Eine Tür nach der anderen öffnet sich vor dem erschreckten Leser – und hinter jeder Tür werden ihm Mörder und Leichen gezeigt.

Sagt Fabian Scheidler also die Wahrheit?

Diese Frage glaube ich nur durch den Vergleich mit einem anderen Autor beantworten zu können, der auf seine Weise gleichfalls die Wahrheit sagt. In der bekannten ‚Kriminalgeschichte des Christentums’ zählt Karlheinz Deschner akribisch auf, was die höchstgestellten Vertreter dieser Religion im Namen des Evangeliums alles an Verbrechen begangen haben. Sein Bericht, dessen historischer Wahrheitsgehalt trotz eines großen Aufgebots an wissenschaftlicher Gegenexpertise bis heute nie ernsthaft in Frage gestellt werden konnte, ist niederschmetternd. Hinter der schönen Fassade der Christenliebe haben sich menschliche Bosheit, Grausamkeit bis hin zur Bestialität zweitausend Jahre lang üppig entwickeln können. Würde ein Außerirdischer (oder auch nur ein fundamentalistischer Muslim) dieses Buch von Anfang bis Ende lesen, dann müsste er Deschners Buch als dringende Aufforderung zur sofortigen Abschaffung des Christentums und der ihn verkündenden Kirchen verstehen.

Unbestritten sagt Deschner die Wahrheit, aber er sagt sie nur halb. Denn es gibt noch etwas ganz anderes als den düsteren Hinterhof der Verbrechen – es gibt jene zahllosen Menschen, die sich für andere im Namen des Glaubens geopfert haben, es gibt die Liebe, die ihren Ausdruck in den gregorianischen Gesängen und der Musik von Bach, in den Marienstatuen und den unglaublichen Schöpfungen der Gotik gefunden hat, die kein Werk von Sklaven waren, sondern von Menschen, die ihrem emotionalen Überschwang eine sichtbare Form geben wollten. Soziale Institutionen sind fast immer komplex. Das Christentum kennt eine unendliche Geschichte der praktizierten Liebe, so wie man es andererseits als eine Abfolge von Verbrechen verstehen kann. Die erste Art von Geschichte, die tausendfältige Geschichte der Liebe, lässt sich nicht schreiben und wird nie geschrieben werden, weil ihre Wirkungen so flüchtig sind wie ein Händedruck, ein verstehender Blick, eine anonyme Wohltat, deren Wirkung jeweils nur ihr Adressat wirklich begreift. Allenfalls wird diese Geschichte zu zweifelhaften Wundermärchen verdünnt, die man an ebenso zweifelhaften Heiligen illustriert. Nur die zweite Art von Geschichte, die der Verbrechen, lässt sich akribisch fixieren, zumal der Mensch für die ihm von seinen Mitmenschen zugefügten Untaten ein weit schärferes Gedächtnis besitzt. Aus diesem Grund ist es so schwer, etwas anderes als eine Geschichte menschlichen Versagens zu schreiben. Die Unfähigkeit, über anderes als unsere Schandtaten zu reden, macht uns selbst dann noch zu schaffen, wenn wir uns mit Dante in Fantasien über das Jenseits ergehen. Die Divina Commedia kennt zwar eine überwältigend großartige Höllenvision, über das Paradies aber weiß auch ein Dante kaum etwas zu sagen.

Ein Vision von grandioser Einseitigkeit

Fabian Scheidlers Megamaschine konfrontiert uns mit Geschichte als Zuchthaus und Hölle – eine Vision von grandioser Einseitigkeit. Sie spiegelt aber das Verhältnis eines guten Teils der heutigen intellektuellen Elite zu der sie umgebenden Wirklichkeit. Mindestens fünfhundert Jahre fühlte sich Europa gegenüber dem Rest der Welt sozusagen auserwählt und im Recht. Europa besaß die wahre Weltanschauung, nämlich das Christentum, seit Beginn der Neuzeit auch das wahre Naturverständnis, nämlich die Wissenschaft, dann machte es sich eine wahre Form der Ökonomie zu eigen, mit der es in kurzer Zeit erst die eigene Zivilisation, dann den Rest der Welt eroberte, nämlich die kapitalistische Marktwirtschaft. Alles dies machte einmal den Stolz Europas aus. Bei Fabian Scheidler hingegen lesen wir Seite auf Seite, welches Unheil durch Christentum, Wissenschaft, Marktwirtschaft in die Welt kam. Kein Wort hören wir von den Leidenschaften, der Begeisterung, den kulturellen Großtaten, die das kleine Europa bis ins 19. Jahrhundert zum Zentrum der Welt gemacht haben. Gerade weil hier die Interessen sich so eng aneinander rieben, gerade weil hier der Wettbewerb die größten geistigen Spannungen erzeugte, hat dieser Zipfel am Rande des asiatischen Kontinents mehr Gedanken, mehr Erfindungen, mehr künstlerische Leidenschaften entfesselt als irgendwo sonst.

Dieselbe Frage, die man im Hinblick auf Wahrheit und Wirkung von Karlheinz Deschners Buch stellen muss, drängt sich also auch bei der Lektüre der Megamaschine auf. Würde ein Außerirdischer dieses Buch lesen und sonst über keinerlei Wissen von der großartigen Vergangenheit Europas verfügen, dann würde und müsste er den Globus zur Invasion freigeben. Eine solche Brutstätte der Tyranneien sollte besser heute als morgen vom Antlitz der Erde verschwinden. Aber auf Außerirdische brauchen wir gar nicht zu warten, um diese Reaktion hervorzurufen. Die moderne Konsumgesellschaft hat das Wissen um die eigene Geschichte ja nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in den Köpfen des durchschnittlichen Mitteleuropäers weitgehend ausgelöscht. Wenn jemand kommt und Christentum, Demokratie, Wissenschaft und Wirtschaft fast ausschließlich mit ihren Verbrechen identifiziert, so stößt diese Sicht zumal in Zeiten der Krise auf reges Verständnis.

Die Lektüre der ‚Megamaschine’ hinterlässt deswegen einen so zwiespältigen Eindruck. In den ersten drei Vierteln des Buches stimmt der desillusionierte Europäer seine Jeremiade an: Mea culpa, mea maxima culpa. Wohin er auch blickt, das Menschheitsprojekt ist völlig misslungen, überall vermag er nur noch Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu entdecken. Nein, nicht überall. Natürlich muss sich der Autor nach Zeiten umsehen, in denen es wenigstens annähernd möglich war, ein ganz anderes Leben unabhängig vom Druck der ‚großen Maschine’ aus Ausbeutung und Machtausübung zu führen. Wären solche Zeiten überhaupt inexistent, dann könnte der Verdacht entstehen, als wäre der Mensch sozusagen ‚von Natur aus’ dazu angelegt, nach Macht und Ausbeutung zu streben. Die radikale Umkehr, wie das Buch sie verlangt, würde dann gar zu phantastisch anmuten. Scheidler entdeckt solche Zeiten: In Umkehrung aller üblichen Geschichtsschreibung findet er glückliche Zustände in der Epoche der Jäger und Sammler und in jenem Mittelalter, das auf den Zusammenbruch des römischen Reiches und der von ihm kreierten Megamaschine folgt.

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