„Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ – Teil 2: Herausforderung Demographie

Über die Migration von morgen wissen wir wenig, über Geburten-Entwicklung und Demographie viel mehr. Das relativiert manche Befürchtungen.

Im Unterscheid zur Migration ist Demographie in ihrer langfristigen Entwicklung berechenbar, da diejenigen, die morgen Kinder kriegen können, ja schon geboren sind. Historiker Andreas Rödder verweist auf den „Pillenknick“ als zentrales demographisches Ereignis der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: „Zwischen 1965 und 1975 sank die Zahl der Lebendgeborenen pro Jahr von 1,04 Millionen auf 601.000 … Aber auch schon zuvor, seit Mitte des 19. Jahrhunderts, war die Zahl der Kinder zurückgegangen. Die Pille hat den Geburtenrückgang erheblich verstärkt, aber sie war nicht seine primäre Ursache.“

Wohlfahrt statt Kinder

In der Industriegesellschaft und verstärkt im Wohlfahrtsstaat verloren Kinder nicht nur ihre Rolle als Altersvorsorge der Eltern, sondern wurden zum Kostenfaktor, zum Wohlstandshemmnis. Oswald von Nell-Breuning nannte das ein „System der Prämierung von Kinderlosigkeit“. Den zweiten Grund sieht  Rödder in der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen, einen weiteren in neuen Lebensstilen, den vierten im Trend, „längerfristige exklusive Festlegungen und Bindungen zu meiden, und je häufiger gewollte Kinderlosigkeit wurde, desto normaler wurde sie, im empirischen und im normativen Sinne.“

Die Veränderungen hatten im Kaiserreich begonnen, fiel aber zeitversetzt erst später auf: „Zwischen den Kohorten der 1860 und der 1904 geborenen Frauen ging die Zahl der durchschnittlich geborenen Kinder von fünf auf zwei zurück; die kinderreiche Familie verabschiedete sich als Massenphänomen.“ Die zwei Weltkriege überlagerten diese Tatsache: „Vor diesem Hintergrund lässt sich der ‚Babyboom‘ … als nachholende Ausnahme verstehen. 1964 war der geburtenstärkste Jahrgang der Nachkriegszeit mit einer Geburtenrat von 2,5 Kindern pro Frau.“

Danach setzte sich der langfristige Trend fort, bis zu den dreißiger Jahren war die Rate bereits auf 1,8 Kinder gesunken, 1970 lag sie bei 2,0 und um 1975 bei 1,4 – schon einschließlich der höheren Geburtenraten von Migrantinnen. Rödder macht auf einige Besonderheiten der Entwicklung in der DDR aufmerksam: „Während die westdeutsche Gesellschaft sich langsam in Kinderlose und Familien mit zwei und mehr Kindern spaltete, herrschte  in der DDR die Tendenz zur Ein-Kind-Familie.“ Mit der Vereinigung gingen die Geburtenzahlen im Osten radikal zurück und stiegen erst wieder Mitte der Neunziger.

Der Geburtenrückgang, zeigt Rödder, betraf die gesamte Welt, der Unterschied liegt in der Höhe. China verordnete die Ein-Kind-Politik (und schaltet erst jetzt auf Zwei-Kind-Politik um). In Europa wurden zwischen 2005 und 2010 durchschnittlich 1,53 Kinder pro Frau geboren: Irland und Island 2,0, Frankreich 1,9, Nordeuropa 1,8, UK 1,7 – Schlusslicht Deutschland 1,4, Österreich und Schweiz  ähnlich. Bei 2,1 Kindern bleibt die Bevölkerungszahl konstant: „Mit einer Nettoproduktionsrate von 0,7 reduziert sich die Reproduktion der Gesellschaft … auf 70 Prozent in der ersten, auf knapp die Hälfte in der zweiten und auf gut ein Drittel in der dritten Generation.“

Weniger kann mehr sein

Führt dieser Geburtenrückgang zusammen mit dem gleichzeitigen Prozess der Alterung in die Katastrophe, fragt der Autor. Die Pessimisten sagen, ohne Zuwanderung und mehr Geburten droht „ein Kollaps der sozialen Sicherungssysteme, Wirtschaftsschrumpfung, Innovationsmangel, Wohlstandsverluste und Generationenkonflikte“. Die Optimisten weisen auf die Wohlstandsgewinne durch die Verteilung des Bruttoinlandsprodukts und der Jobs unter den Wenigeren. Die Effekte von deutlich mehr Zuwanderung behandelt Rödder nicht, sie wären auch völlig spekulativ, da wir über Qualität noch weniger wissen als über Quantität.

Unveränderte Fronten: Homogenität versus Multikulti
"Eine kurze Geschichte der Gegenwart" – Teil 1: Migration und Integration
Radikal verändert hat sich die Familie. Skandinavien und Frankreich verstehen Familie als jede exklusive Solidargemeinschaft zwischen zwei oder mehr Personen, die auf relative Dauer ausgerichtet ist, das geht weit über die klassische Vorstellung von Vater, Mutter, Kind hinaus.  Rödder widmet den „Formen des Zusammenlebens“ ein ganzes Kapitel, in dem er bis ins alte Griechenland und Rom zurückgeht und die Entwicklung hin zur Emanzipationsbewegung und den Einzug der Frauen ins Berufsleben bis in die Gegenwart schildert – die queer-theory eingeschlossen zur Auflösung der Geschlechterordnung schlechthin.

Für unseren Autor spricht die „historische Erfahrung, bei aller Vorsicht über ihre prognostischen Qualitäten, nicht unbedingt dafür, dass eine völlig neue Welt zu erwarten ist. Denn die eigentliche Besonderheit der Geschichte von Frauen, Männern und Familien liegt darin, dass die Geschichte des Wandels zugleich eine Geschichte der Kontinuität ist.“

Indiens Bevölkerung, lese ich gerade, dürfte noch bis 2060 zunehmen und schon in nur sieben Jahren Chinas Bevölkerungsgröße überholen. Die Weltbevölkerung soll bis 2070 auf rund 9,5 Milliarden weiter wachsen, dann stagnieren und langsam abnehmen. Die Welt-Geburtenrate ist seit 1950 von 5,0 auf 2,5 gesunken und soll ab 2040 von 2,0 auf 1,8 zustreben. Auch wenn wir über die Migrations-Ströme der Zukunft wenig wissen, wenn die Prognosen der Geburtenraten stimmen, dürften sie durch Migration nicht mehr werden: Denn so wie der Wohlstand steigt, sinken die Geburten.

Andreas Rödder: 21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C. H. Beck 2015.

Teil 3 der Rezension beschäftigt sich mit Staat, Europa und Weltgesellschaft.

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