Nudging – Erziehung zum Spießertum

Richard Thaler, der diesjährige Träger des Nobelpreises für Wirtschaft, glaubt, man müsse Menschen lenken. „Nudging“, Anstupsen, nennt er sein Konzept eines „sanften Paternalismus“, der direkt in einen Nanny-Staat voller Spießer führt.

© Jonas Ekstromer/AFP/Getty Images
US economist and Nobel Prize for Sveriges Riksbank Prize in Economic Sciences 2017 laureate Richard H Thaler receives his Nobel Prize by King Carl XVI Gustaf of Sweden during the Nobel award cermony at the Concert house in Stockholm, December 10, 2017

Jedes Mal wenn die Königliche Akademie der Wissenschaften in Stockholm im Oktober die Nobelpreisträger kürt, gibt sie zu den einzelnen Preisträgern eine Pressemitteilung heraus. Dort verweist sie auf ihre Website, auf der man sich zum Preisträger und seiner Arbeit schlau machen kann.

In der Regel ist das dringend nötig, denn nur die wenigsten Geehrten sind der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Als besonderen Service findet man dort dann jeweils ein Dokument für „Fortgeschrittene“ und eines für den Normalbürger – „popular information“. Beim Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2017, dem 72-jährigen, an der Universität von Chicago lehrenden Amerikaner Richard Thaler, wäre das ausnahmsweise nicht nötig gewesen. Denn zumindest eifrigen Kinogängern ist der Präsident der American Economic Association kein Unbekannter.

In dem 2015 auf den Leinwänden in aller Welt erfolgreichen Spielfilm „The Big Short“ spielte sich Thaler in einer kurzen Szene selbst und erklärte – zusammen mit Selena Gomez am Spieltisch eines Casinos sitzend –, wie das Geschäft mit den sogenannten Collateralized Debt Obligations funktionierte. Diese Zusammenfassung und Verbriefung risikoreicher Hausfinanzierungen in einer scheinbar sicheren Anleihe hatte die Finanzkrise mit ausgelöst und schlussendlich zum Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 geführt. Der Film feiert die härtesten Jungs der Wall Street, die rechtzeitig gegen den Mainstream gewettet hatten.

Das Taxifahrer-Paradoxon

Thaler gewann die Auszeichnung für seine Beiträge zur Integration von Psychologie und Ökonomie. Die „popular information“ gibt ein Beispiel: So beschreibt Thaler die Angewohnheit von Taxifahrern, ihre tägliche Fahrzeit am Erreichen eines Umsatzziels auszurichten. Wenn sie das Ziel erreicht haben, machen sie Schluss und kümmern sich um die Familie oder ihre Hobbys. Dieses Verhalten scheint auf den ersten Blick vernünftig, führt aber dazu, dass die Taxifahrer an Tagen mit hoher Nachfrage früher Feierabend machen (und damit das Angebot verknappen), während sie an Tagen mit geringer Nachfrage länger arbeiten. Das sieht jetzt schon gar nicht mehr so vernünftig aus.

Am Recht vorbei
Nudging und die Anmaßung von Wissen
Folgten die Taxler einer anderen Regel, so Thaler, könnte allen geholfen werden. Führen sie beispielsweise immer so lange, bis ein bestimmter Stundenumsatz unterschritten ist, würden sie an nachfrageschwachen Tagen früher aufhören und an nachfragestarken länger fahren und pro Stunde deutlich mehr verdienen. Aufs Jahr gesehen, hätten sie so bei weniger Arbeit mehr in der Kasse – und in den Städten wären Taxis dann unterwegs, wenn sie tatsächlich gebraucht werden.

Umstrittener Erfinder des „Nudging“

Das sind sinnvolle, nachvollziehbare und durchaus preiswürdige Überlegungen. Gleichwohl ist Thaler nicht unumstritten. Das liegt an seinem wirkmächtigsten, 2008 zusammen mit seinem Kollegen Cass Sunstein verfassten Buch „Nudge“. Dort predigt er einen „sanften Paternalismus“: „Menschen mit mehr Wissen“ sollten „Menschen mit weniger Wissen“ zu „klugen Entscheidungen“ anschubsen („nudge“).

Klar, dass gestaltungswütige Politiker in aller Welt die Ideen von Thaler und Sunstein begierig aufgriffen. Auch im Kanzleramt gibt es mittlerweile eine entsprechende Abteilung, und der ausscheidende Justiz- und Verbraucherschutzminister Heiko Maas ließ sich von den Wissenschaftlern mehrfach beraten, wie sich das Verhalten der Bürger mit kleinen, psychologischen Tricks beeinflussen lässt.

Echten Liberalen stellen sich da die Nackenhaare auf. Wer legt fest, was eine „kluge Entscheidung“ ist? Wer bestimmt, wer die „Menschen mit mehr Wissen“ sind, die an die Nudging-Hebel dürfen, um die Dummerchen anzustupsen? Im Kern dreht es sich also um die politische Steuerung eines von einzelnen Gruppen unerwünschten Verhaltens. Heute geht es gegen Sexismus und Tabak, morgen gegen Zucker, Alkohol, Fett, Extremsportarten oder etwa Dieselfahrzeuge. Das Ganze wird dann mit dem Mäntelchen „kollektiver Verbraucherschutz“ behängt.

Hinter all dem steht das Leitbild eines an der Grenze zur Debilität verharrenden, einer umfassenden Betreuung bedürftigen, hilflosen und unmündigen Verbrauchers, der auch noch gegen die kleinste Gefahr der Irreführung geschützt werden muss. Die Unternehmen betrieben eben auch in großem Stil Nudging, verteidigen sich Maas & Consorten. Das reiche von der verführerischen Werbung für Schokoriegel über die lockende Präsentation der Waren im Supermarktregal bis hin zum voreingestellten Abschluss einer Reiserücktrittsversicherung bei Flugbuchungen im Internet.

Dabei machen sie allerdings einen groben Denkfehler: Das, was Wirtschaftsunternehmen zur Beeinflussung der Kunden – und sei es nur, um die Toiletten sauber zu halten (siehe Kasten) – durchaus gestattet sein mag, sollte für den Inhaber eines Regierungsamts tabu sein. Denn Minister sind nicht einzelnen Gruppen oder Überzeugungen verpflichtet, sondern dem Gesamtwohl. So lautet zumindest der Amtseid.

Kein Wunder also, dass Nudging von unterschiedlichen Seiten heftig kritisiert wird. Der „Spiegel“ lästert über den „Nanny-Staat“, die „FAZ“ fürchtet einen Anschlag auf die Freiheit: „Schubsen ist Manipulation, Manipulation Bevormundung und Bevormundung entwürdigend.“

So sieht das auch Jan Schnellenbach, Professor in Cottbus und bis 2014 am Walter-Eucken-Institut in Freiburg, wo man sich überwiegend mit ordnungspolitischen Fragen beschäftigt. Er verweist auf einen aus seiner Sicht problematischen Charakterzug dieses Steuerungsinstruments: „Der sanfte Paternalismus funktioniert vor allem dann gut, wenn die Begleitumstände intransparent sind.“ Das hingegen passe nur schlecht zum Setting einer modernen, aufgeklärten und demokratischen Ordnung. Im Sinne der Transparenz ist Schnellenbach ein klares Verbot deshalb lieber als undurchsichtiges Nudging.

Der Professor sieht eine weitere Gefahr: Wenn Staat oder Organisationen den Menschen systematisch Entscheidungen abnehmen, kann eine auf Eigenverantwortung basierende Entscheidungsroutine nur schlecht gedeihen. Solche Mechanismen können eine Gesellschaft laut Schnellenbach grundlegend prägen. Der sanfte Paternalismus schaffe soziale Konventionen und erzeuge Konformitätsdruck. Am Ende wären wir ein Volk unerträglich braver Spießer.


Dieser Beitrag von Frank B. Werner ist in Tichys Einblick Ausgabe 12/2017 erschienen >>

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Kommentare ( 51 )

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Frankenstein
6 Jahre her

Ist Thalers Punkt nicht der, dass es für die meisten Dinge im Leben bereits eine neutrale Gestaltung unmöglich ist und man daher das Ausgangsszenario optimiert?
Beispiel wäre ein Kantine in der Schule. Speisen müssen irgendwie platziert werden, und es ist sicherlich besser, diese so anzuordnen, dass die gesünderen Speisen häufiger gewählt werden als beispielsweise die Dickmacher, allerdings ohne die Auswahl zu limitieren.

Wolfgang Lang
6 Jahre her

Das passt jedenfalls ideal in das Portefolio der Kanzlerin, bzw. der MerkelMedienMaschine, mit der das Volk seit Jahren täglich desinformiert und verdummt wird.

Gabriele Kremmel
6 Jahre her

Gut, dass das Thema auf den Tisch kommt, Nudging in der Politik müsste viel stärker thematisiert und durchleutet werden. Für mich ist das Nudging eine unlautere Form der Manipulation, die in der Werbung hingenommen werden kann, weil aufgeklärte Menschen um die manipulative Komponente in der Werbung wissen und selbst entscheiden können, ob sie sich einfach umwerben lassen oder die beworbenen Produkte kritisch prüfen. Fällt man auf die Werbepsychologie herein, ist der Schaden meistens gering. Ein solches Angebot kann ich annehmen oder auch nicht, ich bin aber nicht gezwungen, es zu nehmen, nur weil eine breite, manipulierte Masse es an- und… Mehr

Dr. Klaus Rocholl
6 Jahre her

„Menschen mit mehr Wissen“ sollten „Menschen mit weniger Wissen“ zu „klugen Entscheidungen“ anschubsen („nudge“).
Schon richtig…
aber wie zur Hölle kommen ausgerechnet geistig … eher „eingeschränkt leistungsfähige“ Personen wie der Großteil „unserer“ Politiker (Leute ohne irgendwelche Ausbildung (Fischer, Bütikofer…), mit Endlosstudium von irgendwas, gerne ohne Abschluß (Nahles, Göhring-Dingens, Roth…) – in jedem Fall ohne irgendwelche berufliche Erfahrung im RICHTIGEN Leben (praktisch alle!) auf den verwegenen Trip, ausgerechnet SIE wären mit dem „mehr wissen“ gemeint?!

Die allererste Erkenntnis für diese Leute wäre ja allemal der alte Philosophenspruch „Ich weiß, daß ich nichts weiß“…
Aber nicht einmal dazu reicht‘s ja bei denen…

Stephan Kurz
6 Jahre her

Spießertum in seiner früheren, vermeintlich konservativen Form war ja schon schlimm.
Bei dem heutigen linken Spießertum kann man nur noch im Strahl … naja sie wissen schon.
Ajo und beide Formen bezogen, bzw. beziehen sich auf DIE Moral !

Guten Morgen !

Reimund
6 Jahre her

Nehme ich Ihr Beispiel Taifahrer – hier trifft Theorie und virtuelle Welt mit der Realität zusammen: Der Taxifahrer fährt eine Tour nach der anderen, ohne große Pausen, maximal ein Kaffee. Der Chef schubst ihn immer noch a bisserle noch ein paar Thaler zu verdienen und so fährt er in den frühen Morgen hinein mit kleinen Schubsern. Wegen der doch auftretenden bisserl geminderten Konzentrationsfähigkeit schubst er die an Schlaflosigkeit leidende alte Oma auf dem Zebrastreifen zum alten Petrus – wo se et hoffentlich jut hat. Für die Rentenkasse ein Gewinn, die Versicherung wird sich wohl zu drücken versuchen wegen grober Fahrlässigkeit.… Mehr

Old-Man
6 Jahre her

Wenn der alte Nobel heute sieht,was aus seiner Idee gemacht wurde,und wer für welchen Schei….. alle seinen eigentlich gut gedachten Preis erhält,dann wird er im Grab rotieren.
Ein Obama= Friedens Nobelpreisträger,verantwortlich für seeehr viel Leid und Tote.
Und Obama war noch einer der sympatischsten Empfänger,an Arafat möchte Ich gar nicht denken.

Tim Buktu
6 Jahre her

Am Besten gleich im Kindergarten damit anfangen
https://www.youtube.com/watch?v=HTnf14hrKYU

T.K.
6 Jahre her

Der Liberalismus wendet sich an den selbständig denkenden Menschen, der eigenverantwortlich Entscheidungen trifft. Das ist gut so – aber leider sind so nicht alle Menschen gestrickt. Ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung kann nur begrenzt selbstverantwortlich denken und handeln – was macht man mit diesen Menschen? Das nudging ist daher in meinen Augen ein durchaus probates Mittel, diese Menschen auf einer „default“-Einstellung durch das Leben zu geleiten. Aber es gilt wie überall im Leben: „dosis facit venenum“, ein Übermaß ist schädlich. Das ist für mir der gravierendste Einwand: wenn Politiker mit diesem Instrument erst einmal begonnen haben, können sie gar… Mehr

KimJFUN
6 Jahre her

Nudging….traurig das es funktioniert.
Ich habe allerdings bemerkt, dass Menschen ab einem gewissen Intelligenzgrad eine Resistenz dagegen entwickeln.

Daher müsste dass Ziel einer sich weiterentwickelnden Gesellschaft, maximale Bildung (eigentlich Intelligenz und Vernunft) sein, damit die jüngere Generation mit Problemlösungen daher kommt, die mit der Erfahrung der Älteren umgesetzt werden.

Wer sein Volk dumm hält hat weniger Interesse an Gesamtgesellschaftlicher Entwicklung als seinem Schweizer Konto. Ich frage mich bis heute warum gerade die Pisa Sieger regelmäßig so kosvervativ wählen. Ich sehe da einen Zusammenhang.