Wie man, auch ohne das Haus zu verlassen, mit der Welt in Kontakt bleiben kann

Die Menschen sollen in den nächsten Wochen zu Hause bleiben. Aber in der Not wächst das Rettende auch: Die virtuelle Realität bringt uns die Welt von gestern, heute und morgen nach Hause.

© Getty Images

In den letzten Tagen musste ich oft unwillkürlich an den Film »The Lobster« (2015) des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos denken, in dem eine rigide Gesellschaft das Sozial- und Paarungsverhalten der Menschen stark reglementiert: Als Paar finden dürfen sich nur Menschen, die eine bestimmte Eigenschaft – zum Beispiel die Neigung zum Nasenbluten – miteinander teilen. Findet man in einer bestimmten Zeit keinen passenden Partner, wird man in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Der Protagonist hat sich bereits entschieden, im Falle seines Scheiterns in einen Hummer verwandelt werden zu wollen (wegen der Langlebigkeit des Tiers und weil er das Meer liebt).

Daneben existiert eine andere Gesellschaft der Entflohenen, die im Wald hausen und laut Gruppenkonsens gar keine feste Beziehung eingehen dürfen. So sind beide Welten auf klaustrophobische Weise unerfüllt und lassen keinen Raum für die freie Entscheidung des Einzelnen. Der Hauptdarsteller flieht im Laufe der Handlung in die Wildnis, doch am Ende des Films geht es erneut um die Konformität der Partner, die der Protagonist nun selbst herbeiführen könnte. Doch dieses Ende bleibt offen.

Die zunächst medizinische, vielleicht auch politische Corona-Krise führt allmählich zu einer – offiziell eingeforderten – radikalen Absonderung von Menschen. Langsam bewegen wir uns so auf ein Gedicht des Romantikers William Wordsworth zu, der 1806 die Verse (hier in der Übersetzung von Marie Luise Gothein) schrieb: »Die Nonne liebt des Klosters enge Zelle, / Den Eremit beglückt der Klause Dach, / Den Denker freut sein heimlich still Gemach […]« Das ist natürlich eine Möglichkeit. Doch der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen. Was macht man also, ob allein oder zu mehreren, in der Klause, damit einem ihr Dach nicht allzubald auf den Kopf fällt?

Das Bedürfnis, Teil eines größeren Ganzen zu sein

Die Frage ist, wie man, auch ohne aus dem Haus zu gehen, im Kontakt mit der Welt bleiben kann. Individuell finden sich da Lösungen. Man kann endlich mal die Plattensammlung sortieren, fleißig putzen und bügeln oder sich in seine ›Bibliothek‹ (vulgo Lesesessel) zurückziehen. Doch das Bedürfnis, Teil eines größeren Ganzen zu sein, sollte vielleicht auch nicht zu kurz kommen.

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Das ist vor allem denen bewusst, die es zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben, andere in öffentlichen Häusern zu unterhalten und sie in der ästhetischen Kontemplation zusammenzuführen. Das geht nun fürs erste nicht mehr, seit Theater, Opern und Konzerthäuser rund um die Welt ihre Tore schließen mussten. Es eröffnet aber auch Chancen. Auf die Einschränkung ihrer normalen Aufgaben antworten die Kulturinstitutionen mit virtuellen Angeboten und gewähren ihrem heimatlosen Publikum ein häufig kostenloses Online-Programm aus Mitschnitten, teils sogar Live-Streamings. Was sich ereignet, gleicht einer Globalisierung der Kultur.

So gibt es eine Aufzeichnung der neuen »Rosenkavalier«-Inszenierung von André Heller aus der Staatsoper Unter den Linden. Günther Groissböck als grobianischer Baron Ochs von Lerchenau ist dabei durchaus sehens- und hörenswert, und die Staatskapelle holt unter Zubin Mehta auch noch das letzte Fünkchen Sinn aus der gut hundertjährigen Partitur. Am 12. März hatte man noch eine Carmen ohne Publikum live gestreamt. Daneben stellt die Staatsoper täglich ein anderes Video online. Geboten werden unter anderem eine klassische »Schwanensee«-Aufführung nach Entwürfen von Marius Petipa und Lew Iwanow oder auch Verdis »Macbeth« mit Anna Netrebko und Plácido Domingo in einer hollywoodesken Inszenierung von Harry Kupfer.

Ebenso macht es die New Yorker Metropolitan Opera unter anderem mit einer großen Wagner-Woche ab dem 23. März, mit täglich neuen Streams. Hier sind Stars wie Nina Stemme (als Isolde), Jonas Kaufmann (als Siegmund) und Renée Fleming (in Tschaikowskis »Eugen Onegin«) zu erleben. Die Bayerische Staatsoper präsentiert ein gemischtes Programm aus Konzerten und Opernmitschnitten online; unter anderem gibt es jeden Montagabend ein Kammerkonzert live. Man fragt sich, ob das in Übereinstimmung mit dem bayrischen Ausgangsverbot ist – aber die Künstler gelten vielleicht als eine große Familie.

Ein abwechslungsreiches Programm zeigt auch die Wiener Staatsoper, wo man sich allerdings erst einmal registrieren muss. Und auch die Berliner Philharmoniker lassen sich nicht lumpen und verschenken bis zum 31. März einen zeitlich begrenzten Online-Pass für ihre Digital Concert Hall – vorerst zwar ohne Live-Übertragungen, doch mit gut bestücktem Archiv. Sogar im schwer getroffenen Italien zeigt das venezianische Teatro La Fenice ausgesuchte Produktionen auf seinem Youtube-Kanal. (Noch mehr internationale Klassik-Angebote sind hier versammelt.)

Hausmusik, Kino, Literatur und Museen

Daneben erlauben in dieser Zeit auch einzelne große Künstler einen Einblick in ihre Welt. So streamen einige Pianisten ihre Hauskonzerte mittlerweile online, darunter der feinsinnige Liszt- und Beethoven-Interpret Boris Giltburg auf Facebook und Twitter. Die mittäglichen Konzerte geben ihm, wie er schreibt, auch selbst ein Gefühl der Sinnhaftigkeit in diesen Zeiten. Ab Montag gibt es hier Neues zu hören.

Doch auch für die Liebhaber von Literatur und Film ist gesorgt. Auf der Amazon-Plattform Audible lassen sich derzeit hunderte Buchtitel gratis anhören, zum Beispiel Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«, gelesen von Scarlett Johansson, Michael York oder auch in einer deutschen Übersetzung. Daneben kann man sich natürlich auch in »Moby Dick« oder Aldous Huxleys »Brave New World« (so viel Gegenwartsbezug darf vielleicht doch sein) einhören.

Der Pay-TV-Kanal Sky schaltet einen Monat lang sein Kino- und Serienangebot für alle Kunden frei. Daneben kann man bei Sky und anderen auch aktuelle Filme zu Kinopreisen streamen. Mehr Filme – kostenlos oder für einen kleinen Obolus auch werbefrei – gibt es zum Beispiel bei Netzkino, um von Netflix und Amazon Prime zu schweigen. Wer klassische Filme oder auch literarische Klassiker liebt, wird eventuell auch im Internet Archive fündig. Und für die Hausmusiker gibt es digitalisierte Noten in der Petrucci Music Library IMSLP.

Als etwas anstrengend habe ich die derzeit angebotenen virtuellen Touren durch verschiedene Museen empfunden. Aber vielleicht können auch Ansichten aus dem Berliner Pergamonmuseum oder dem Louvre von so manchem düsteren Gedanken ablenken. Jedenfalls kann man sich mental auf die nächste Bildungsreise vorbereiten oder auf vergangene Erlebnisse zurückblicken. Vielleicht können die virtuellen Entdeckungen einstweilen für neue Erfahrungen in der in der realen Welt entschädigen und dabei helfen, dass uns allen die Decke nicht allzu sehr auf den Kopf fällt.

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Kommentare ( 12 )

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Maria KH
4 Jahre her

Rausgehen und allein oder zu zweit spazierengehen ist doch auch in Bayern und Sachsen ausdrücklich erlaubt. Man muss ja nicht durch Menschentrauben wandeln. Uns kam heute auf dem Feldweg ein komplett schwarz vermummter rasender Radfahrer entgegen, bei dem wir kurz überlegten, ob das jetzt der Ausgang der Antifa ist. Da er aber lauthals grüsste, verwarfen wir die Idee gleich wieder. Ich habe vor Jahren durch eine schwere Erkrankung erlebt, wie man plötzlich aus einem übervollen Leben aus existentiell geglaubten Bezügen, vor allem dem zur Arbeit, gerissen wird. Anfangs war es schier unerträglich und am Ende liebte ich Stille und sogar… Mehr

Lara
4 Jahre her

Vom draußen sein wird man nicht krank, sondern von den Sozialkontakten!
Deshalb war ich heute radeln und das ist absolut undschädlich, ich werde täglich rausgehen und das ist auch erlaubt, nicht nur hier, sondern auch z.B. in Frankreich oder Österreich.
Besonders unsinnig ist der Druck das Rausgehen als Verwerflich darzustellen angesichts der Tatsache, das die meisten ihren Beruf weiterhin mit zahlreichen anderen Menschen zusammen ausüben müssen und auf die gleichen WC, durch die selben Türen und das gleiche Sekretariat gehen.

Andrej Stoltz
4 Jahre her

Die Merkel beherrscht das aber auch ganz gut.
Sonst hätte sie gestern in ihrem Politiker Intershop nicht noch das Weinregal leergekauft.

Der nachdenkliche Paul
4 Jahre her

*** EILMELDUNG ***

Merkel muss jetzt selbst in Quarantäne, weil sie am Freitag einen Arzt aufsuchte, der jetzt positiv getestet wurde. Das wurde soeben offiziell berichtet, direkt nach ihrer Pressekonferenz. Und nun ???

Harry Charles
4 Jahre her

Machen Sie einem doch keine Hoffnung.

Ohne Worte.

der_sommer
4 Jahre her

Merkel hin, Merkel her – wie kann es sein, dass die Bundeskanzlerin einers Landes mit 80 Mio. Einwohnern sich erst am vergangenen Freitag vorsorglich gegen Pneumokokken impfen läßt? Wie kann es sein, dass diese Impfung ein Arzt durchführt, der wohl vorher nicht auf Kontakte zumindest der letzten 14 Tage genauestens überprüft wurde und dessen Infizierung anscheinend erst nach der Impfung der Bundeskanzlerin festgestellt wurde?
In welchem Trallalla-Land leben wir hier? Was kommt noch?

Harry Charles
4 Jahre her

Macher? OBERLACHER!

Der nachdenkliche Paul
4 Jahre her

Die Basler Zeitung berichtet.
„Zuvor hatte sich aus dem Kabinett auch etwa Finanzminister Olaf Scholz vor wenigen Tagen vorübergehend in häusliche Quarantäne begeben. Ein Test hatte dann ergeben, dass er nicht mit dem Coronavirus infiziert ist.“

https://www.bazonline.ch/ausland/litauen-publiziert-bewegungsrouten-von-infizierten-virus-gelangt-zurueck-nach-china/story/10940689

littlepaullittle
4 Jahre her

Sind die TV Anstalten eigentlich immun ? …… sind „LIVE“-Publikumssendungen wie „Quiz-Champion“, „Wer wird Millionär“, „Gefragt-Gejagt“, oder Schunkel-Silbereisen noch VOR der Kontaktsperre aufgezeichnet worden ? Oder machen sich die TV-Sender der Verbreitung von Seuchen unter ihren Gaesten schuldig ?
Und wird zukünftig das Klatschen nur noch vom Band eingespielt ?

Alex70
4 Jahre her
Antworten an  littlepaullittle

War das je anders?

Harry Charles
4 Jahre her

FREIHEITSBERAUBUNG Genau das ist es eigentlich, wenn man Leuten verbieten will, an die frische Luft zu gehen. Man kann nicht den ganzen Tag in der Bude am Laptop sitzen – ich geh bei dem schönen Wetter raus, in den Wald. Und den Leuten aus dem Weg. Tu‘ ich ohnehin, ob mit oder ohne Corona – es könnten ja Merkel-Wähler sein. Besonders um die mache ich vor allem einen großen Bogen. Wenn überhaupt kommuniziere ich am liebsten mit englischen Muttersprachlern (und da vor allem mit Trump-Wählern), die sind so schön normal. Kultur kann man auch im Wald haben – Kopfhörer an… Mehr

Harry Charles
4 Jahre her
Antworten an  Harry Charles

Hab ich im Wald eh‘ nicht dabei (höchstens z.B. um MP3-Musik zu hören, eben Tannhäuser). Unterhalten kann man sich auch mit Nietzsche. Wenn man ihn fragt „Sieh Dir mal diesen ganzen Zirkus hier an, was hältst Du davon? Was meinst Du was andere, z.B. Goethe, Heinrich von Kleist, etc. dazu sagen würden?“ Wie man die dann alle schimpfen hören kann…