Martin Walser, Selbstporträt als Roman: Statt etwas oder Der letzte Rank

Ich schreibe, also bin ich. Wer mit Neunzig an der Liebe noch so grandios leiden kann wie Martin Walser, ist nicht alt. Er ist neunzig Jahre jung.

Dies ist keine Rezension. Sie wäre anmaßend. Nicht, weil sich da ein demnächst Neunzigjähriger so gut wie jedes Jahr einen Roman, nein, nicht abringt, sondern hoch in die Luft wirft, und deshalb nur noch Bewunderung oder gar Nachsicht verdient hätte. Nicht, weil Martin Walsers jüngstes Spätwerk außerhalb der Kritisierbarkeit stünde. Dieser Autor sperrt sich dagegen, als abgeklärt wahrgenommen zu werden. Vielleicht ist er nicht mehr ganz so leicht entzündlich wie früher. Aber er brennt doch noch immer lichterloh. Schon gar nicht sind letzte Worte zu finden in diesem Buch, nur Satz für Satz zum Äußersten getriebene Lebenssätze. Selbst wenn es die letzten wären: Solche letzten Sätze hätte es in der deutschen Literatur noch nicht gegeben.

Natürlich erzählt Walser in allen seinen Romanen von sich selbst, von wem denn sonst. Aber noch nie so direkt. In der ersten Person. Hatte er bisher nicht gewagt zu gestehen, dass es sich um ihn selbst handle, weil er doch wusste, „was er zu erwarten gehabt hätte“, so ist ihm dies jetzt egal. Sollen sie ihn eben weiter verurteilen. Er will erkennbar sein, angreifbar ist er immer gewesen. Mit Neunzig weiß er, weshalb. Über Walser schreibt Walser nun, dass er „politisch unreif“ gewesen, „eine Zeit lang zu Extremisten gerannt“ sei. Aber das hatte man ihm längst nachgesehen. Etwas anderes nicht. Dass er Anfeindungen nicht hingenommen hatte. Dass er sich verfolgt gefühlt hatte vom großen Verreisser, dessen Name nicht noch einmal auftauchen muss, er ist ja nur einer von vielen gewesen, dieser Verfolger, der sich selbst von Walser verfolgt gefühlt hatte. Überhaupt: „Dass er Leute unsympathisch fand“: ein Fehler. Nur kein Fehler, den Walser bedauern müsste, auch wenn es zu seinem Nachteil war. „Alles, was ihm gelang, war zu seinem Nachteil.“ Also durfte er darauf keine Rücksicht nehmen.

Walser besaß und besitzt Gegner, die nicht für ihn waren, Feinde, die keine Gelegenheit ausließen, „mich herunterzumachen“. Und dazu das „Gefühl, dass ich keine wirklichen Freunde hatte“. Dem Leser entgeht nicht, dass er darunter gelitten und damit doch auch gut gelebt hat. „Dass es mir ein bisschen zu gut geht, diese Formulierung habe ich – das gesteh ich gern – von meinem Feind.“ Aber jetzt müssen seine Gegner und Feinde zur Kenntnis nehmen, dass er „nicht mehr einholbar“ ist. „Ich bin allem und jedem entkommen.“ Wirklich? „NOCH nicht. Das kommt noch.“ Hoffentlich noch lange nicht. Walser ist diesmal nur von Kritik uneinholbar, weil sein Buch nichts anderes ist als ein Selbstporträt. Nicht als Autobiographie, sondern als Charakterbild. Der Autor erzählt nicht sein Leben, stellt nur das Bild von sich scharf. Jede Kritik von und an Walsers Buch könnte nur ein Abklatsch, das Porträt des Porträts des Porträtisten sein.

Dieser Roman berichtet von Tadellosen, von Tugendwächtern, von Scheinheiligen. Die Tadellosen haben versucht, Walser zu beherrschen – durch ihre Tadellosigkeit. Walser hat ihnen seine Zustimmung verweigert. Er hätte sich zugehörig fühlen können – durch Tadellosigkeit. Immer im Namen der so oder so herrschenden Moral, immer im „Namen und Interesse des Großenganzen bzw. der Gerechtigkeit oder der Humanität oder der Demokratie.“ Dagegen war Walser wehrlos. Denn Moralisten beurteilen und verurteilen alles als „moralische Aktion“, auch alles von Walser. Der Moralist als Feind. Nie hat es ein großer Autor deutlicher ausgesprochen als Walser. Die Feinde blieben nicht wirkungslos. Woher sonst sollte er gekommen sein, „mein Argwohn gegen mich selbst“, all die „Selbstverneinung“?

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Das macht aus diesem Buch das Persönlichste zu Gesellschaftskritik. Walser verweigert sich dem „Wahrheitsgewerbe“. In einem der in den Roman eingebauten Gedichte bringt er es auf den Punkt: „Wer ausschert, ist erledigt. Aufpasser gibt es / mehr als je zuvor. Wir sind eine Tugendrepublik.“ Dies gilt dem Fernsehen, gilt den Soziologen. Eine Schrift gegen die Lügenpresse? Natürlich nicht. Walser nimmt nur, und das hat er immer getan, alles persönlich. Das macht ihn empfindlich aber auch unversiegbar, weil er sich bis zum letzten Atemzug zur Wehr setzen muss. Er kann nicht anders, das macht ihn aus. Er kennt nur eine Waffe, die aber hat es in sich: Walsers Sätze treffen immer. Noch über den letzten Atemzug hinaus. Walser erfindet sich seine Hölle selbst. Wir erfahren, wie er, der Verblichene, Vielgereiste den Intercity-Waggon betritt. Alle Plätze, auch der reservierte, sind belegt von Zeitgenossen, die nicht mehr leben, doch ihm alle, als sie noch lebten, das Leben schwer gemacht hatten. Und damit jetzt weitermachen, auf ewig wiederholen, „was zu meinen Lebzeiten andauernd vor sich ging.“ In Walsers Gedächtnis sind alle Verletzungen eingegraben wie Falten. Inzwischen sind (überwiegend) Lachfalten daraus geworden.

Walsers Lebensthemen. Also muss dieser schmale, große Roman auch ein Roman über die Liebe sein. Wer könnte besser Auskunft geben als er, der immer auch ein Praktiker der Liebe gewesen ist. Und auch hier sind die Moralisten seine Feinde. „Offenbar war es nicht erlaubt, zwei Menschen zugleich zu lieben.“ Was heißt zwei? „Ich liebe alle Frauen der Welt.“ Lebenslang hat in ihm „eine Umarmungsbereitschaft, eine Entzündbarkeit“ getobt. Das will man sich von einem bald Neunzigjährigen sagen lassen: „Das ganze Treue-Brimborium ist nichts anderes als die kulturelle Verbrämung einer barbarischen Strafroutine.“ Das Geständnis, dass Liebeserklärungen, „das reinste Selbstgespräch“ seien, darf gegen einen Schriftsteller seiner Güte nicht vorgebracht werden. Es wäre mühelos zu belegen, was die deutsche Literatur Walsers Lieben verdankt. Auch im Selbstgespräch seiner Liebeserklärungen hat Walser sich immer selbst porträtiert. Was ist Liebe anderes, als sich selbst im anderen zu begreifen?

So zu lieben heißt, immer wieder verlieren. „Ich kochte den Schmerz, die irdische Suppe.“ An dieser Stelle folgt die größte, die einzige wahre Liebeserklärung, Lebenserklärung: „Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben.“ Seine Sätze sind so leicht geblieben und so genau,  dass sie ein ganzes Leben zu fassen vermögen. Er hat „dem Schmerz das Singen gelehrt“, wie es in wunderbaren elegischen Zeilen heißt. „Ich leide, also bin ich.“ Ich schreibe, also bin ich. Wer mit Neunzig an der Liebe noch so grandios leiden kann wie Walser, ist nicht alt. Er ist neunzig Jahre jung.

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