Tichys Einblick
Gnadenakte der Regierenden

Wenn Politiker die Menschen zu sehr lieben

„Für die Menschen“ in die Politik gegangen. Ob Malu Dreyer oder Angela Merkel: Wenn Regierungspolitiker keine Bürger mehr kennen und diese selbst es auch nicht besser wissen, geht mit der Demokratie etwas grundsätzlich schief. 

Thomas Lohnes/Getty Images
In ihren Floskeln entblößen Politiker oft mehr von sich als in sachpolitischen Aussagen. Gerade weil manche Redensarten zu Politikerfloskeln geworden sind, und die kein Interviewer mehr hinterfragt, sind sie zu Kennzeichnungen nicht nur des einzelnen, sondern der ganzen politischen Klasse geworden. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer gab in der jüngsten Anne-Will-Sendung einen Prototyp dieser Art von sich: „Darum sind wir alle in der Politik: Für die Menschen.“ 

Als vor 30 Jahren in der legendären Volkskammersitzung vom 13. November 1989 Stasi-Chef Erich Mielke – schon sichtlich tatterig – die Abgeordneten zunächst als „liebe Genossen“ ansprach und dann auf den Einwand eines Abgeordneten aus einer Blockpartei, hier säßen nicht nur „Genossen“, seinen berühmten Satz sagte: „Ich liebe doch alle, alle Menschen… ich setze mich doch dafür ein…“,  da erscholl Gelächter aus dem Plenum. In der heutigen Bundesrepublik hat die Sensibilität für politischen Kitsch und die Anmaßung, die in solchen Worten stecken, offenbar abgenommen. 

Abgesang
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Katrin Göring-Eckardts legendärer Kommentar zur Flüchtlingskrise – „Wir bekommen jetzt Menschen geschenkt“ – war sicher ein Höhepunkt dieses Kitsches. In den Niederungen des politischen Alltags sind Politiker vor allem damit beschäftigt, „die Menschen mit(zu)nehmen“ – an solche Phrasen hat man sich gewöhnt. Ja, die „Menschen“ sind, wenn man mal genauer darauf achtet, längst ein Lieblingsbegriff der politischen Kommunikation. Zwei andere Begriffe dagegen, die bis vor einiger Zeit das politische Denken, Schreiben und Reden prägten, kommen kaum noch vor: Nämlich weder „Bürger“ noch „Deutsche“ (oder gar das im Grundgesetz erwähnte und das Reichstagsgebäude zierende „deutsche Volk“). In den Wahlprogrammen von Union und SPD zum Beispiel schien Deutschland ganz zum Land der Menschen geworden zu sein.

Die Bundeskanzlerin selbst – diese unübertreffliche Meisterin der Verwirrung stiftenden Rede – hat den Wandel hin zu den „Menschen“ besonders konsequent vollzogen. Während sie als Oppositionsführerin vor 2005 durchaus noch die Worte „Deutsche“, ja sogar „Vaterland“ und „Nation“ in den Mund nahm, spricht sie schon lange nur noch von „Menschen“ oder etwa in einem ihrer seltenen Fernsehinterviews mit Anne Will 2016 von denjenigen, „die schon länger hier leben“, und denen, „die neu dazugekommen sind“. Im Februar 2017 behauptete sie auf dem Landesparteitag der CDU in Mecklenburg-Vorpommern: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“ Solch ein hanebüchener Unsinn aus dem Munde der Regierungschefin macht sprachlos. Vermutlich ist genau das auch das Erfolgsgeheimnis merkelscher Reden.

Die Feststellung des Trends zum „Menschen“ in der Politikersprache ist keine Spitzfindigkeit. Es geht da ums Eingemachte der Demokratie. Denn wer als Politiker nur noch von „Menschen“ spricht, für die man Politik mache, verwischt die für jede Politik im Rechtsstaat essentielle Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Nicht-Bürgern. Das hat nichts mit nationalistischem Dünkel oder Diskriminierung von Nicht-Deutschen zu tun. Es geht um ein fundamentales Prinzip der Demokratie: das Prinzip der Repräsentation, also des politischen Handelns einer oder mehrerer Personen im Namen und Interesse einer Gruppe. Repräsentation ist, wie die Politologen Danny Michelsen und Franz Walter schreiben, »der legitime Antriebsstoff für jene interinstitutionellen Dynamiken, die den politischen Prozess täglich bestimmen«.

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Demokratische Repräsentation setzt voraus, dass die vertretene Menschengruppe genau umrissen ist. Angela Merkel hat vier mal geschworen, sie werde ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden“. Sie und andere Mandatsträger repräsentieren Bürger und sind diesen verantwortlich. Sie sind nicht von irgendwelchen oder allen Menschen gewählt, sondern von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland. Nur dann, wenn sowohl den Repräsentanten als auch den Repräsentierten klar ist, wer sie sind, wer zu ihnen gehört und wer nicht, kann deren gemeinsames Interesse deutlich werden. Anders gesagt: Nur der kann wirklich verantwortlich handeln, der weiß, wem er Antworten schuldig ist – und wem nicht.

Kurz: Keine (begrenzte) Bürgerschaft bedeutet keine (repräsentative) Demokratie. In einem demokratischen Staat gehen nicht Politiker in die Politik, weil sie Gutes für irgendwelche oder alle Menschen tun wollen, sondern Bürger wählen sich Politiker als Repräsentanten, um ihre Interesse und Prinzipien von diesen vertreten zu lassen. 

Offenbar ist diese urdemokratische Idee der Repräsentation gerade in Auflösung begriffen. Und zwar auf beiden Seiten, bei den Repräsentierten (den Bürgern) ebenso wie bei den Repräsentanten (den politischen Mandatsträgern). Malu Dreyer und Angela Merkel scheinen entweder nicht zu wissen, was ihre Aufgabe ist und für wen sie sie zu verrichten haben, oder sie täuschen ihr Publikum bewusst darüber. 

Dass dieses Reden von der Politik für die „Menschen“, offenbar bei einem Teil der wählenden Bürger gut ankommt, zeigt, dass offenbar ein Großteil der  Bürger sich selbst gar nicht mehr darüber klar ist, dass sie nicht nur Menschen sind, sondern Deutsche, also Bürger der Bundesrepublik Deutschland. 

 Möglicherweise ist der fortschreitende Verzicht auf den Begriff des „Deutschen“ in der politischen Kommunikation zu Gunsten von „Menschen“ eine Reaktion auf das unterschwellige Verlangen vieler Deutscher ihrem Deutsch-Sein zu entkommen. „Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen allein“, war schon in den 1990er Jahren ein beliebter Spruch bei Demonstrationen. Die das sagten, wollten offenbar selbst nicht für Deutsche gelten. Die so genannte Willkommenskultur ist vielleicht deswegen so besonders verbreitet hierzulande, weil sie in Aussicht stellt, nur noch ein Mensch zu sein, der schon immer hier am „Standort Deutschland“ lebt und arbeitet, aber kein Deutscher mehr sein muss. Ein nationaler Bürgersinn, geschweige denn Bürgerstolz ist in Deutschland fatal unterentwickelt. 

Beim Weltwirtschaftsforum von Davos im Januar 2018 wurde Merkel vom WEF-Präsidenten Klaus Schwab auf den Populismus angesprochen. Sie sagte nach einem Verweis auf die Probleme der Währungsunion: „Sie müssen jeden Menschen einzeln sehen. Das ist mühselig. Solange Sie die Individualität jeder Person nicht in den Mittelpunkt stellen und schon Ihr Vorurteil haben, wenn jemand vor Ihnen steht, ohne dass Sie noch ein Wort mit ihm gesprochen haben, ist das Einfallstor für den Rechtspopulismus da.“

Eine Regierungschefin, die im Duktus einer Sozialpädagogin doziert, wie man anderen Menschen vorurteilsfrei gegenüber zu treten habe – das ist eigentlich höchst komisch und unpassend. Doch offenbar nimmt es niemand übel, wenn die Kanzlerin die kategorischen Unterschiede zwischen Politik und privater Alltagsmoral einerseits und Politik und Management andererseits entweder absichtsvoll verwischt oder überhaupt nicht kennt.

In einem demokratischen Rechtsstaat hat die Regierenden die Individualität der Bürger aber eigentlich gar nicht zu interessieren. Die Grenze zwischen Politik und Privatem ist nämlich genau das, was die Freiheit einer Gesellschaft von Bürgern und eines demokratischen Staatswesens ausmacht. Das Private zu politisieren, war das Ziel aller totalitären, antifreiheitlichen und antibürgerlichen Politik im 20. Jahrhundert. Im Zeitalter von Angela Merkel zeigt sich das gegenteilige Extrem: eine Politik, die nach den moralischen Maßstäben des Privaten betrieben wird.

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Das Welt- und Menschenbild, das sich in Merkels Davoser Worten ebenso offenbart wie in dem eingangs zitierten Talkshow-Satz von Malu Dreyer, ist nicht nur das Menschenbild der neuen Linken seit 1968, für die das Private politisch war und die Politik das Private verändern sollte. Es ist auch das Menschen- und Weltbild der modernen Wirtschaftswissenschaften, die ihre Theorien völlig kultur- und geschichtssteril verfassen – und darum immer wieder an der Wirklichkeit scheitern. Es ist das Menschenbild derer, die nur noch einzelne Menschen ohne kulturelle Prägungen und traditionelle Bindungen kennen wollen, die sich auf dem Weltmarkt möglichst unmittelbar begegnen. Es ist das Menschenbild, das unter anderem verantwortlich ist für den Jahrhundertfehler der europäischen Währungsunion, weil es nicht wahrhaben will, dass es zwischen Finnland und Portugal Unterschiede der (Wirtschafts-)Kulturen gibt. Unterschiede, die in den mannigfaltigen Nationalgeschichten der europäischen Länder begründet sind – und die deren Reichtum und Reiz ausmachen. Unterschiede, die aber auch in der mehr oder minder stark ausgeprägten Haushaltsdisziplin von nationalen Regierungen immer wieder durchschlagen.

Andererseits tönt in Merkels Insistieren auf einem individuellen Zugang zu „jedem einzelnen“ und Dreyers Behauptung „für die Menschen“ in die Politik gegangen zu sein, ein paternalistisches Politikverständnis durch, das sich generell in der politischen Klasse der westlichen Wohlfahrtsstaaten ausgebreitet hat. Man kümmert sich um eine Masse von als hilfsbedürftig betrachteten Menschen – oder verspricht es zumindest. Der Sozialstaat und seine Regierenden nehmen damit eine Rolle ein, die schon vordemokratische Monarchen mit Vorliebe spielten. Auch sie behaupteten schließlich, für jeden einzelnen Untertanen wie ein fürsorglicher Vater zu sein. 

Und darum ging es ja wohl auch Dreyer in der Sendung von Anne Will: Die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung soll wie ein Gnadenakt von Wohltätern erscheinen, die ihnen dafür gefälligst Untertanentreue beziehungsweise ihre Wahlstimme schulden. 

Bürger aber wollen keine Almosen und keine Gnade – sie haben Rechte und Pflichten. Und sie haben ihren Stolz.