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Was Nordkorea wirklich will

Welche Ziele verfolgt Nordkorea? Welche Interessen verfolgen seine Nachbarländer China, Japan und Südkorea? Hat China wirklich einen maßgeblichen Einfluss auf den nordkoreanischen Staat?

© STR/AFP/Getty Images

Wie kann eine tatsächliche Entspannung auf der koreanischen Halbinsel herbeigeführt werden, wenn angenommen werden kann, dass die Partei der Arbeit Koreas (PdAK) mit der Familiendynastie Kim an deren Spitze in absehbarer Zeit weiterhin ihr Machtmonopol über Nordkorea behält?

Dies sind Fragen, die heute die ganze Weltöffentlichkeit bewegt. Auch in Deutschland gehört die Krise auf der koreanischen Halbinsel seit Wochen zu den Top-Themen in der deutschen Außenpolitik und in der Medienberichterstattung.

Der Grundtenor der medialen Öffentlichkeit und der Politik in Deutschland lautet dabei wie folgt:

  1. Die US-Regierung unter der Führung von Donald J. Trump und Nordkorea agieren unberechenbar und treiben die nordkoreanische Halbinsel an den Rand eines großen Krieges, wobei Trump insbesondere in Deutschland diesbezüglich im Fokus des medialen Dauerbeschusses steht.
  2. China habe aufgrund der hochgradigen wirtschaftlichen Abhängigkeit Nordkoreas von China sowie des traditionellen Bündnisverhältnisses einen entscheidenden Einfluss auf die nordkoreanische Partei- und Staatsführung. Der Schlüssel zur Lösung der Krise liege deshalb in China.

Doch stimmen diese Aussagen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen näheren Blick auf die Geschichte der koreanisch-chinesischen Beziehung zu werfen.

Der ewige Streit um den Ursprung des koreanischen Volkes

Der Legende des koreanischen Volkes nach wurde bereits im Jahre 2333 v. Chr. ein koreanisches Königreich durch den Halbgott Dangun gegründet. Die Existenz dieses uralten koreanischen Königreiches „Dangun Joseon“ (Dangun-Korea) kann aber bis heute nicht nachgewiesen werden.

Realhistorisch gesehen dürfte das Reich des Dungun-Koreas genauso in die Welt der Mythen und Legenden gehören wie die später überlieferten chinesischen Reiche zwischen „dem Erschaffer der chinesischen Zivilisation“ (der Gelbe Kaiser Huangdi 2698–2598 v. Chr.) und der sogenannten Xia-Dynastie (2200 v. Chr. bis ca. 1800 v. Chr).

Übrigens genauso wenig nachgewiesen ist ein anderes koreanisches Königreich „Gija Joseon“, welches nach der chinesischen Überlieferung von Gija (chinesisch: Jizi), einem Onkel des letzten Königs der chinesischen Shang-Dynastie, im Norden Koreas erschaffen wurde. Die Legende dieses Königreiches könnte durchaus von chinesischen Nationalisten als ein Argument genutzt werden, um darzulegen, dass das koreanische Volk aus China hervorgegangen sei und dass Korea daher ein Teil der chinesischen Welt darstelle.

Während viele chinesische Historiker die Existenz des „chinesischen“ Königreiches „Gija Joseon“ auf Korea für wahr und im Gegenzug den ur-koreanischen Staat „Dungun-Korea“ für eine Erfindung des koreanischen Nationalismus halten, kommt der heftigste Gegenwind ausgerechnet aus der heutigen „Demokratischen Volksrepublik Korea“.

Kim Il-sung, Gründer des kommunistischen nordkoreanischen Staates, etwa hält das Reich „Gija Joseon“ für eine Fabrikation der Chinesen zur Zeit der Han-Dynastie, um die Invasion Nordkoreas durch das chinesische Reich zu legitimieren. Nach Kims Ansicht sei die These, dass die Koreaner Nachfahren des Chinesen Gija seien, eine Beleidigung des koreanischen Volkes. Auf Kims Befehl hin wurde deshalb die historische Grabstätte des Königs Gija im Jahr 1959 zerstört. Dementsprechend taucht das Reich „Gija Joseon“ in der Geschichtslinie Koreas in offiziellen nordkoreanischen Geschichtsbüchern gar nicht auf.

Wenngleich die Existenz von Gija Joseon auf koreanischem Boden ebenfalls in Südkorea umstritten ist, so gibt es dort durchaus Historiker, die die Theorie einer Co-Existenz von Gija Joseon (an der Westspitze Koreas) mit dem national-koreanischen Staat „Dungun-Joseon“ bejahen.

An diesem einfachen Beispiel sieht man schon den nationalistischen Charakter des nordkoreanischen Staates, der zuweilen noch nationalistischer agiert, als Südkorea ohnehin schon ist.

Doch wie war die Geschichte in Korea wirklich?

Wahrscheinlich siedelten vor tausenden von Jahren Nomadenstämme aus dem sibirisch-nordostasiatischen Raum im Norden der koreanischen Halbinsel und proto-austronesische Völker im Süden des heutigen Koreas, während proto-sinitische Nomadenstämme West- und Zentralchina besiedelten, aus denen jeweils die Vorfahren der heutigen Koreaner und Han-Chinesen hervorgingen.

Unumstritten ist dabei die Tatsache, dass der chinesische Kaiser Wu von Han (posthum genannt „der Kriegerische“), der als einer der größten Kaiser Chinas in die Geschichte eingehen sollte, im Jahr 109 v. Chr. Truppen für einen Eroberungsfeldzug nach Korea aufmarschieren ließ. Drei Jahre später war der Norden Koreas unterworfen und in vier kaiserlich-chinesische Kommandanturen aufgeteilt. Die wichtigste dieser Kommandanturen war die Lelang-Kommandantur, deren Verwaltungssitz im heutigen Pjöngjang lag. Während der Zeit der chinesischen Herrschaft im Norden Koreas siedelten zahlreiche Chinesen in die Kommandanturen, die damals das Zentrum der chinesischen Zivilisation auf der koreanischen Halbinsel bildeten.

Mit dem Niedergang des Chinesischen Kaiserreiches und dem Erstarken des koreanischen Reiches Goguryeo ging schließlich die letzte chinesische Bastion in Korea im Jahre 313 n. Chr in den Besitz von Goguryeo über. Fortan konkurrierten drei koreanische Reiche um die Vorherrschaft auf der koreanischen Halbinsel: Goguryeo im Norden Koreas sowie Baekje und Silla im Süden.

Eines der mächtigsten Imperien Chinas zerbrach an Korea

Das koreanische Reich Goguryeo kontrollierte jedoch nicht nur einen Großteil der koreanischen Halbinsel, sondern erlangte auf dem Höhepunkt seiner Macht auch die Herrschaft über die Liaodong-Halbinsel in der chinesischen Mandschurei.

In Nordchina selbst ergriff das han-chinesische Adelshaus Yang nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft durch die proto-mongolischen Nomadenclans die kaiserliche Macht. Yang Jian, Kaiser Wen (posthum genannt: „der Gelehrsame“), schuf das mächtigste han-chinesische Kaiserreich seit dem Zerfall des Ersten Imperium Sinica anno 316 (die mit der Qin-Dynastie begann und mit dem Ende der westlichen-Jin-Dynastie endete): das Reich Sui.

Kurz nach der Thronbesteigung und Ausrufung der Sui-Dynastie entsandte Kaiser Wen im Jahre 583 eine Streitmacht in den Norden, welche dem (Gök-)Türkischen Großreich eine schwere Niederlage zufügte. Als eine Konsequenz der Niederlage löste sich das Großtürkische Reich in zwei Teile auf: Das Westliche Türkische Reich sowie das Östliche Türkische Reich.

China und Rom
Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen
Umkreist vom Westtürkischen Reich und vom Chinesischen Reich, unterwarf sich Khan Ishbara des Osttürkischen Reiches im Frühling 584 dem chinesischen Kaiser und wurde dessen Vasall. Das offizielle Schreiben des Osttürkischen Khans an den chinesischen Kaiserhof lautete: „ Der Himmel kennt keine zwei Sonnen. Die Erde hat keine zwei Könige. Der Kaiser der Großen Sui ist der wahre Kaiser! Wie sollte ich es je wagen, mit Truppen und schwer einnehmbaren Festungen nach diesem Titel zu schielen! Heute empfinde ich Ehrfurcht und Dankbarkeit. Mein Herz gehört jenen, die den rechten Weg kennen. Ich knie nieder und senke mein Haupt. Für immer werde ich euer Vasall sein!“ (Rolle 176, Zizhi Tongjian) .

Nach dem Sieg über die Türken setzte das Kaiserreich Sui im Jahr 588 mehr als eine halbe Million Mann in Bewegung, um das chinesische Südreich zu erobern, das bis dahin das fruchtbare Land vom Jangtse bis Nordvietnam kontrolliert und sich als den wahren Erben des Ersten Imperiums Sinica und dessen Zivilisation betrachtet hatte. In nur vier Monaten nahm die Sui-Armee die Hauptstadt Jiankang (heute: Nanking/Nanjing) des Südreiches ein. Der Kaiser des Südreiches indes wurde lebend gefangen genommen. Die Große Vereinigung der chinesischen Welt (Dayitong) war somit vollzogen. Nichts und niemand schien den ungebremsten Aufstieg des Sui-Imperiums aufhalten zu können.

Doch im Jahre 598 fasste Kaiser Wen einen fatalen Entschluss. Er entsandte 300.000 Mann auf einen Feldzug zu Land und zu See gegen das Koreanische Reich Goguryeo. Doch von Seuchen und Sturm dezimiert, erlitten die chinesischen Truppen eine verheerende Niederlage gegen die Koreaner. Weniger als 10 Prozent der chinesischen Truppen konnten nach China zurückkehren.

Vierzehn Jahre später entfachte der zweite Kaiser der Sui-Dynastie, Yang Guang (posthum auch bekannt als Kaiser Yang), einen noch größeren Krieg gegen Goguryeo. Insgesamt mobilisierte der chinesische Kaiser 1,13 Millionen Soldaten (Rolle 181, Zizhi Tongjian) und setzte somit die größte Armee in Bewegung, die die Welt bis dahin je gesehen hatte. Das Ergebnis der Schlacht war eine vernichtende Niederlage der chinesischen Armee: Von den 305.000 chinesischen Soldaten, die den Fluss Liao überquert hatten, kehrten nur 2.700 Überlebende nach China zurück (Rolle 181, Zizhi Tongjian).

Kaiser Yang sollte noch zwei weitere Feldzüge gegen Goguryeo führen. Doch die vorherigen schweren Niederlagen der Sui untergruben die kaiserliche Autorität, da sie als Schwäche der Kaiserdynastie von unzufriedenen Bauern und intriganten Adeligen ausgelegt wurden, die ihre Chance gekommen sahen, um Aufstände anzuzetteln. Die inneren Aufstände und Rebellionen im Kaiserreich führten dazu, dass auch die letzten Feldzüge der Sui erfolglos blieben. Der vierte und letzte Feldzug der Sui gegen Goguryeo wurde durch eine symbolische Kapitulation der Koreaner und die Auslieferung eines nach Korea geflüchteten Rebellen jäh beendet. Vier Jahre später wurde Kaiser Yang ermordert. Anno 619 ging die Dynastie Sui endgültig im Chaos und Krieg unter.

Die katastrophalen Folgen der Goguryeo-Feldzüge für das Chinesische Reich: Zwischen 611 und 628 n. Chr. (Reichseinigung unter der Tang-Dynastie) ereigneten sich insgesamt 136 Militärputsche, Aufstände aus dem Volk und Staatsstreiche am Kaiserhofe. Über 50 Personen krönten sich in China zum Kaiser oder König. Zwischen 606 und 639 war ein Bevölkerungsrückgang in China infolge der Kriege, Hunger und Seuchen um 73 Prozent zu verzeichnen: von 46 Millionen Einwohnern im Jahre 606 auf 12 Millionen im Jahre 639.

Von der Einigung Koreas bis zum treuen Chinesischen Vasallenstaat

Wenngleich das koreanische Reich Goguryeo in den Kriegen gegen die chinesische Sui-Dynastie den faktischen Sieg davon trug, so war das Königreich im Norden Koreas durch die Kriege mit China ebenfalls materiell wie personell ausgezerrt. Die darauf folgende chinesische Tang-Dynastie, die das Chinesische Reich um das Jahr 628 wieder vereinen konnte, verbündete sich mit dem koreanischen Köngreich Silla im Süden der koreanischen Halbinsel in ihrem gemeinsamen Kampf gegen Goguryeo. Das Reich Goguryeo, welches nun in einen Zweifrontenkrieg geraten war, konnte nach drei harten Kriegen mit dem Tang-Silla-Militärbündnis endgültig besiegt und annektiert werden.

Schließlich gelang es dem Köngreich Silla, die koreanische Halbinsel weitgehend zu einigen. Aus dem Reich Silla ging später das koreanische Einheitsreich Goryeo (nicht zu verwechseln mit Goguryeo) hervor, von dem übrigens die europäische Bezeichnung „Korea“ abgeleitet wurde.

Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurde das koreanische Königreich Goryeo, wie auch das chinesische Reich der Song-Dynastie, von den Heeren des Mongolischen Großkhans überrannt. Im Gegensatz zum unterworfenen Chinesischen Reich (Song) behielt Korea seine weitgehende Eigenständigkeit unter der mongolischen Oberherrschaft.

Globale Konturen in Asien
China und seine Welt
In der zweiten Häflte des 14. Jahrhunderts bahnte sich erneut ein Machtwechsel in China an. 1368 krönte sich der Han-Chinese Zhu Yuanzhang zum Kaiser Chinas und schuf das letzte han-chinesische Kaiserreich „Da Ming“ (Große Helligkeit). Nach der Lehre des Rotationsprinzips der antiken Schule Yin-Yang wurde so der „Goldene Drache“ der Mongolen vom „feuerroten Drachen“ des Kaiserhauses Zhu ersetzt. Noch im gleichen Jahr fiel die Hauptstadt des „Großmongolischen Reiches der Groß-Yuan“ Cambalu (Chinesisch: Dadu, im Westen bekannt als Peking) an die Truppen der Ming-Dynastie. Das mongolische Kaiserhaus musste zurück in die Steppe flüchten. Die Herrschaft der Mongolen in China fand somit ihr Ende.

In Korea ergriff ein General namens Yi Seong-gye die Macht und krönte sich im Jahr 1392 zum König von Korea. Sodann bat die neue koreanische Herrscherdynastie den Chinesischen Kaiser um eine Namensgebung für ihr Reich und um einen Vasallen-Status. Der chinesische Kaiser Zhu Yuanzhang gab daraufhin Korea den Namen „Joseon“ (Chinesische Umschrift: Chaoxian) und ernannte Yi Seong-gye zum König von Joseon.

Kaiser Zhu Yuanzhang erhob dann den Herrscher Koreas in einen Königsstand seines Imperiums. In der Ming-Dynastie erhielt der koreanische König daher formal den gleichen Rang,Titel und Drachenroben wie Könige der chinesischen Kaiserfamilie (allerdings rote Drachenroben für die Könige Chinas und Koreas, im Gegensatz zu dem gelben Drachenroben des Kaisers). Hier ist anzumerken, dass chinesische Könige der Kaiserfamilie Zhu seit dem dritten Ming-Kaiser Yongle im Gegensatz zum König von Korea über keinerlei politische Regierungsbefugnisse verfügten.

Weiterhin wurde Korea von Kaiser Zhu Yuanzhang in einer Reihe von Ländern gelistet, die das Kaiserreich Ming niemals angreifen werde. Diese Liste wurde in die sogenannten „Anweisungen der Vorfahren der Kaiserlichen Ming“ (Huang-Ming Zuxun) aufgenommen, deren Einhaltung für die späteren Kaiser der Ming obligatorisch waren.

Während der Goryeo-Dynastie unter der Schirmherrschaft der Ming-Kaiser erreichte die koreanisch-chinesische Beziehung also einen Höhepunkt. Nicht nur verhielt sich das Köngreich Joseon politisch loyal gegenüber dem großen Bruder China, sondern adaptierte im großen Stil das Staatssystem, die Kultur, die Gewänder und Staatsphilosophie (den Konfuzianismus) des Kaiserreiches. Man kann davon ausgehen, dass Korea zur Zeit der Ming-Dynastie das Chinesische Kaiserreich nicht nur fürchtete, sondern in jeder Hinsicht – geistig wie kulturell – bewunderte.

So kam es vor, dass Korea zu manchen Anlässen ihr Land offiziell „Staat Korea der Ming“ oder „Staat Korea der Kaiserlichen Ming“ bezeichnete. Obgleich Korea auch während der späteren Qing-Dynastie ein Vasallen-Staat des Kaiserreiches von China war, so bezeichnete sich Korea nie als „Korea der Qing“.

Diese besondere Verbundenheit des Joseon-Staates zum Kaiserreich Ming wurde durch die Invasion Japans in Korea im späten 16. Jahrhundert (Imjin-Krieg) verstärkt. Das Chinesische Kaiserreich der Ming-Dynastie eilte Korea zu Hilfe und konnte mit den koreanischen Verbündeten zusammen die Truppen des japanischen Reichseinigers Toyotomi Hideyoshi unter enormem Blutzoll aus Korea vertreiben.

Durch den Imjin-Krieg in Korea, der sieben Jahre dauerte und mehr als Hälfte der chinesischen Garnisonen in der Mandschurei aufrieb, wurde China an den Rand des finanziellen Kollapses gedrängt. Dies legte den Grundstein für den späteren Aufstieg der Mandschu und somit den Untergang des letzten Kaiserreiches der Han-Chinesen.

Jahrhunderte lange schaute Korea kulturell auf das entfremdete China herab

Im frühen 17. Jahrhundert rebellierten die Mandschu gegen die chinesische Ming-Dynastie und gründeten das Khanat „Spätere Jin“ (angelehnt an den Staat Jin der mandschurischen Jurchen  im 12. Jahrhundert, welcher den Norden Chinas besetzte). Das Chinesische Kaiserreich, das im chinesischen Inland von Hungersnöten und Aufständen heimgesucht wurde, erlitt durch die Mandschu mehrere verheerende militärische Niederlagen, sodass die Mandschu schon wenige Jahre nach der Rebellion einen Großteil der chinesischen Provinzen in der Mandschurei besetzen konnten.

1616 krönte sich der mandschurische Großkhan Abahai (im Chinesischen vor allem bekannt als Huang Taiji) zum Kaiser und rief das Kaiserreich „Da Qing“ (Groß Qing) aus. Damit erhob der Großkhan der Mandschu Anspruch auf den chinesischen Kaiserthron. Das Wort „Qing“ symbolisiert nach der Lehre der Fünf Elemente das „Wasser“, welches das „Feuer“ der Ming löschen soll.

Um den Rücken im Falle eines Eroberungsfeldzugs gegen China freizuhalten, überrannten die Mandschu im Jahr 1636 in nur zwölf Tage Chinas Verbündeten und Vasallen Korea. Monate lang in der Festung Namhansanseong eingekesselt, kapitulierte der koreanische König schließlich im Frühjahr 1637. Die Prozeduren und Bedingungen der Kapitulation vor den Mandschu stellten auch Jahrhunderte danach bis zum heutigen Tage eine nationale Schande für die Koreaner dar.

König Injo machte vor dem Qing-Kaiser Abahai den rituellen Kotau und unterwarf sich dem Mandschu als ein Vasall. Sechshunderttausend Koreaner wurden daraufhin als Sklaven in die Mandschurei gebracht und dort auf dem Markt wie Vieh verkauft. Auf den Befehl des Qing Kaisers Abahai hin errichteten die Koreaner am Ort der Kapitulation ein Denkmal, welches „Stele für die Errungenschaften und Tugenden des Kaisers der Groß-Qing“ genannt wurde.

Immerhin gewährten die Qing den Koreanern – ähnlich schon zur Zeit der Mongolenherrschaft – eine weitgehende Autonomie unter der Oberherrschaft der Mandschu. In diesem Zusammenhang tolerierten die Qing die Pflege und Beibehaltung der althergebrachten Bräuche, Traditionen und Gewänder der Koreaner.

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Im Gegensatz dazu erließ der Qing-Regent Dorgon unmittelbar nach der Eroberung des chinesischen Kaiserreiches Ming unter Androhung der Todesstrafe einen Erlass, wonach alle Chinesen die Zopf-Tracht (wobei ein Großteil des Kopfs kahl rasiert werden musste) und Kleidungen der Mandschu zu tragen hatten. Die bis dato seit mehr als zweitausend Jahren von Han-Chinesen und anderen sinisierten Völkern getragenen traditionelle Gewänder und Kleidungen stellten aber eine der zentralen Elemente der han-chinesischen Zivilisation und Identität dar. Zudem symbolisierte die „Unversehrtheit der Kopfhaare und des Körpers“  laut konfuzianischer Tradition die Kindliche Pietät, weshalb Haarescheren und Tätowierungen zu den Tabus der Han-Chinesen  gehörten. Dementsprechend wurde das Erlass der Mandschu zur Übernahme mandschurischer Kleidungen und Zopftracht mit erbitterter Widerstände seitens der han-chinesischen Bevölkerung begegnet, die nur mit äußerster Brutalität niedergeschlagen werden konnten. Dem Prinzip des Erlasses „Behaltet den Kopf, so müsst ihr Kopfhaare verlieren. Behaltet ihr aber die Kopfhaare,  so verliert den Kopf“ entsprechend, patrollierten vielerorts Friseure auf Befehl von Mandschu-Generälen durch die Straßen und schlugen denjenigen Passanten den Kopf ab, die die alte Kopftracht trugen und beim sofortigen Haarschneiden Widerstand leisteten (Man Qing Bai Shi, 1914).

Die Koreaner behielten jedoch weiterhin die Haartracht und Kleidungen nach han-chinesischer Tradition. Zeitgenossen der frühen Qing-Zeit berichteten von han-chinesischen Besuchern in Korea und Japan, dass sie beim Einblick der dortigen Menschen und deren Bekleidungen in tiefe Scham versanken, da die Koraner und Japaner offensichtlich von ihrem Äußeren „chinesischer“ aussahen als die Qing-Chinesen selbst: Allein von ihren Kostümen und Haartracht her sahen die Chinesen nun eher wie die nomadischen Mandschu oder Mongolen aus.

Die konfuzianischen Eliten Koreas, die Korea schon während der Ming-Dynastie oftmals „Klein-China“ genannt haben, sahen die chinesische Zivilisation im Reich der Mitte nach der Unterwerfung Chinas durch die Mandschu und die damit einhergehende „Tatarisierung“ der chinesischen Gebräuche nun endgültig erloschen. Fortan sahen sie Korea als „den wahren Erben der chinesischen Zivilisation“, wie übrigens zur gleichen Zeit auch Gelehrte der konfuzianisch geprägten japanischen Mito-Schule das Land der aufgehenden Sonne nach dem Untergang der letzten han-chinesischen Dynastie als den einzigen wahren Erben der Zivilisation des Reichs der Mitte betrachteten.

Obgleich das Königreich Joseon auch während der Qing-Dynastie unter der Oberherrschaft des Kaiserreiches China stand, dessen Kaiser nun mehr der mandschurische Clan Aisin Gioro stellte, so schauten die meisten konfuzianischen Gelehrte Koreas kulturell auf das Kaiserreich China herab. So nannten sie den mandschurischen Kaiser Chinas inoffiziell oft als den „Barbarenkönig“ und verwendeten bis ins 19. Jahrhundert hinein insgeheim die Jahresdevise des letzten chinesischen Ming-Kaisers Chongzhen (Zhu Youjian), wie hier eine mit der Jahresdevise Chongzhen versehenen Stele aus dem Jahr 1766 eindrucksvoll dokumentierte, obgleich der han-chinesische Kaiser Chongzhen bereits seit 122 Jahren tot war.

Mit der zunehmenden Verfestigung der Mandschu-Herrschaft in China, wodurch auch die Han-Chinesen nun mehr das Tragen von mandschurisch geprägten Zopf-Tracht und Kleidungen als eine Selbstverständlichkeit betrachteten, wuchs die kulturelle Entfremdung zwischen Korea und China. Schließlich unterschieden die Koreaner kaum noch zwischen Mandschu und Han und übertrugen auch ihre Feindseligkeit gegenüber den Mandschu auf China.

Nach der Niederlage der Qing im Japanisch-Qing-Krieg 1894-1895 (in Europa auch bekannt als der „Erste Japanisch-Chinesische Krieg“) auf der koreanischen Halbinsel, löste sich Korea von der Oberherrschaft der Qing und erklärte im Jahr 1897 die Unabhängigkeit. Aus dem Königreich Joseon wurde das „ Großkoreanische Kaiserreich“. Als eine der ersten Maßnahmen zur Beseitigung ausländischer Einflüsse rissen die koreanischen Nationalisten die „Stele für die Errungenschaften und Tugenden des Kaisers der Groß-Qing“ nieder und vergruben, bis sie eines Tages von der südkoreanischen Republik als historisches Relikt ausgegraben wurde, um der nationalen Schande Koreas ein Denkmal zu setzen.

Japanische Kolonialherrschaft und die Entstehung des völkischen Nationalismus

Das Koreanische Kaiserreich leitete nun eine Reihe von Maßnahmen ein, um das Land zu modernisieren und zu industrialisieren (auch bekannt als Gwangmu Reform). Seine Unabhängigkeit im Zangengriff der Großmächte versuchte das Reich dadurch zu erhalten, indem es Japan und Russland gegeneinander ausspielte, die nach einer Eingliederung Koreas in ihren Einflussbereich trachteten. Das Kaiserreich Korea hatte jedoch nur einen kurzen Bestand. Mit dem Sieg Japans im Russisch-Japanischen Krieg musste Russland 1905 seinen Einfluss auf Korea aufgeben. Korea wurde japanisches Protektorat und 1910 endgültig vom Großjapanischen Kaiserreich annektiert.

Während der japanischen Kolonialherrschaft propagierte die japanische Kolonialregierung in Korea eine gemeinsame Abstammungslinie und eine angebliche „Blutreinheit“ der Japaner und Koreaner, wobei die Koreaner dem Volk Yamato (Japaner) in der Hierarchie des Kaiserreiches Japan untergeordnet waren. Gleichzeitig forcierte die japanische Kolonialregierung in Korea eine Assimilierungspolitik, bei der unter anderem koreanische Namen in japanische Namen umgeändert wurden. Parallel zu der japanischen Assimilierungspolitik wurde ein völkisch geprägter koreanischer Nationalismus entfacht. Einer der Vordenker des koreanischen Nationalismus war Shin Chae-ho, der heute sowohl in Nord- als auch in Südkorea verehrt wird.

Das einflussreichste Werk von Shin Chae-ho war „die antike Geschichte von Korea“ (Joseon Sanggosa). In diesem Buch schrieb Shin die Geschichte Koreas von den Anfängen bis zum Untergang des mit Goguryeo verbündeten südkoreanischen Königreiches Baekje neu. In seiner Geschichtsschreibung, in deren Zentrum nunmehr das koreanische Volk stand, hob Shin die legendäre Geschichte des koreanischen Stammesvaters Dangun hevor. In dem mystischen Königreich „Dangun Joseon“, welches von dem Halbgott Dangun erschaffen worden sei, sah Shin den Ursprung der koreanischen Nation. Somit stand seine Korea-zentrierte Geschichtsschreibung im scharfen Kontrast zu der traditionellen Vorstellung der konfuzianischen Historiker Koreas, bei der China im Zentrum der Welt stand und das vom Chinesen Gija gegründeten Königreich „Gija Joseon“ die erste Dynastie auf koreanischem Boden darstellte.

Gleichzeitig lokalisierte Shin die kriegerischen Wurzeln des koreanischen Volkes in dem koreanischen Großreich Goguryeo, das Anfang des 7. Jh. die chinesische Invasion der Sui-Dynastie erfolgreich abwehrte und von Shih als den gemeinsamen Stolz des koreanischen Volkes angesehen wurde. Für Shin stand die koreanische Geschichte daher für einen stetigen Kampf gegen ausländische Invasoren, an dessen Anfang das Reich Goguryeo angesehen wurde. Das nationalistische Geschichtsverständnis des Shin Chae-ho hat einen weitrechenden Einfluss auf das historische Selbstverständnis und die nationale Identität der Süd- wie Nordkoreaner. Beide Staaten übernahmen weitgehend seine Geschichtsschreibung und machten das legendäre Reich „Dangun Joseon“ zum Startpunkt der offiziellen nationalen Geschichte Koreas.

Nationalismus im Süden und Kimilsungismus im Norden 

Nach der bedingungslosen Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg wurde im Norden unter der Aufsicht der Sowjets ein kommunistischer Staat errichtet und im Süden ein von den USA unterstützter kapitalistischer Staat. Nach dem Koreakrieg 1950-1953, wodurch die Teilung der Halbinsel zementiert wurde, erlebte der Nationalismus ein erneutes Aufblühen in den beiden koreanischen Staaten.

Die Theorie der „Blutreinheit“ der Koreaner, die ehemals von der japanischen Kolonialregierung im Zusammenhang mit der gemeinsamen Abstammungslinie der Japaner und Koreaner propagiert worden war, wurde dem Korea-Experten und Direktor der Abteilung für Internationale Studien der Dongseo University, Brian Myers, zufolge nach Ende des Zweiten Weltkriegs von koreanischen Nationalisten „koreanisiert“, um „Stolz in einem moralisch überlegenen koreanischen Volk zu fördern“.

Laut Kim Sok-soo, Professor an der Kyungpook National University in Südkorea,  diente der Nationalismus bezüglich der sogenannten „Blutreinheit“ als ein mächtiges Werkzeug der südkoreanischen Regierung in Zeiten der ideologischen Wirren nach dem Koreakrieg. Dieser Nationalismus führte in der südkoreanischen Bevölkerung auch zum Sympathisieren mit den Nordkoreanern und aufgrund der Stationierung US-Truppen in Südkorea zu einem ausgeprägten Anti-Amerikanismus.

So bemerkte Brian Myers nach der Versenkung der südkoreanischen Korvette Cheonan durch ein nordkoreanisches Torpedo im Jahr 2010, bei der 46 südkoreanische Marine-Soldaten ums Leben kamen, eine fehlende breite öffentliche Entrüstung in der südkoreanischen Gesellschaft. Myers führte die Ursache des fehlenden öffentlichen Aufschreis darauf zurück, dass die Identitifkation der Südkoreaner mit dem koreanischen Volk viel stärker ausgeprägter sei als deren Identitifkation mit der Republik Korea (Südkorea). Dies sei der Grund dafür, warum sich so wenige Südkoreaner von diesem Torpedo-Angriff durch die Nordkoreaner persönlich betroffen fühlen. Im Gegensatz dazu würden aber die Nordkoreaner viel stärker ihren Staat mit dem koreanischen Volk allgemein gleichsetzen.

Eine Untersuchung bei den Erstsemestern der südkoreanischen Kadetten an der Korea Military Academy (KMA) im Jahr 2004 ergab, dass 34 Prozent der erfragten Kadetten ausgerechnet die USA als den größten Feind ansahen – also noch vor Nordkorea, das „nur“ von 33 Prozent der frischen Kadetten als Hauptfeind betrachtet wurde.

Nördlich des 38. Breitengrades der koreanischen Halbinsel wurde der Nationalismus mit der Betonung eines angeblich reinblutigen koreanischen Volkes auch hochgehalten.

So vertrat Brian Myers die Ansicht, dass der nordkoreanische Staat nicht die letzte Bastion des marxistischen Leninismus oder des Konfuzianismus sei. Vielmehr werde Nordkorea von einem Nationalismus geleitet, welcher besagt, dass Koreaner „reiner als alle anderen“ seien. Der damalige Oberste Parteiführer Nordkoreas, Kim Jong-il, soll gesagt haben, dass Koreaner ein homogenes Volk seien und daher mit brüderlicher Liebe gefüllt seien.

Eine der zentralen Ideologien der PdAK und des nordkoreanischen Staates, welche vom Staatsgründer Kim Il-sung entworfen wurde, wird als „Juche-Ideologie“  bezeichnet (im Westen auch bekannt als Kimilsungismus). Seit 2009 ist die sogenannte Sŏn’gun-Politik („Militär zuerst!“) zusätzlich zur Juche-Ideologie Leitlinie der nordkoreanischen Politik, wonach den nordkoreanischen Militärs der absolute Vorrang zugestanden wird.

Im Gegensatz zum klassischen Marxismus-Leninismus stellt der nordkoreanische  Kimilsungismus die Interessen der eigenen Nation über denen der internationalen kommunistischen Bewegung. Die drei Prinzipien des Kimilsungismus sind die politische Souveränität, wirtschaftliche Selbstversorgung und militärische Eigenständigkeit. Demnach hat der Staat die Aufgabe, politische, wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit zu gewährleisten.

Überdies wird eine besondere Rolle Koreas angenommen, welches im Mittelpunkt der Welt stehe. 1986 initialisierte Nordkorea den Leitgedanken „koreanisches Volk zuerst“. Nach der Wende im kommunistischen Ost-Block 1989 betonte Nordkorea umso mehr die Notwendigkeit zur Förderung des Geistes „koreanisches Volk zuerst“.

Im Rahmen der kimilsungsischen Juche-Ideologie entstand in Nordkorea auch die sogenannte Juche-Geschichtswissenschaft. Zu den zentralen Bestandteilen der  Juche-Geschichtswissenschaft gehört die Festlegung des ehemals mystischen Reiches „Dangun Joseon“ als der Anfang der koreanischen Nation, während die Bedeutung des vom Chinesen Gija gegründeten „Gija Joseon“ zunächst heruntergespielt, deren Existenz dann seit 1993 komplett geleugnet wird.

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Gleichzeitig wird in der neuen Geschichtsschreibung seit 1993 das Königreich Goguryeo in der Zeit der Teilung der koreanischen Halbinsel, welches die chinesische Invasion der Sui-Dynastie erfolgreich abwehren konnte, als den einzigen repräsentativen Staat für Gesamt-Korea dieser Epoche hervorgehoben. Die Bedeutung des Königreiches Silla hingegen, welches mit der Unterstützung der chinesischen Truppen der Tang-Dynastie schließlich als Sieger hervorging und Korea weitgehend einigen konnte, wurde aufgrund seiner Unterwürfigkeit gegenüber Tang-China heruntergespielt.

Somit steht das nordkoreanische Geschichtsverständnis und seine Sicht auf China im starken Kontrast zu dem traditionellen Weltbild Sadaejuui der Koreaner zur Zeit der Silla- Goryeo- und Joseon-Dynastien. „Sadae“ bedeutet wörtlich: „Dem Großen dienen“. „Sadaejuui“  bezeichnet eine traditionelle realpolitische Außenpolitik Koreas, bei der das koreanische Königreich die Überlegenheit einer Großmacht anerkennt und ihr als Vasall andient. Sadaejuui wird daher inbesondere mit der absoluten Ergebenheit gegenüber China (oder denjenigen Dynastien, die China beherrscht haben) seit der Silla-Dynastie assoziiert, bei der Korea seine Rolle als Vasall-Staat im sino-zentrischen Weltbild der Konfuzianer akzeptierte. Das Prinzip des Sadaejuui wird heute von der Leitideologie in Nordkorea verworfen.

Was Nordkorea tatsächlich antreibt

Die gesamte westliche Welt rätselt über die andauernden Provokationen seitens der nordkoreanischen Führung und die fehlende Durchsetzungsfähigkeit Chinas, Nordkorea zur Räson zu bringen.

Dabei handelt Nordkorea nichts anderes als nach seinen offiziellen Ideologien, um einerseits mit nationalistisch-martistischen Tönen in Richtung USA und Japan der nationalistisch gesinnten Bevökerung nationale Selbstständigkeit und Kühnheit zu demonstrieren (Juche) und von inneren wirtschaftlichen Problemen abzulenken, und andererseits die Militärs bei Laune zu halten (Sŏn’gun).

Echte Taten hinter all den Kriegsdrohungen der nordkoreanischen Führung werden freilich nicht kommen. Auch die nordkoreanische Führung dürfte darüber bestens im Bilde sein, dass die um Jahrzehnte im technischen Rückstand befindenden nordkoreanischen Streitkräfte gegen die vereinte Macht Südkoreas, Japans, der USA und weiterer US-Verbündete wie Australien nicht gewinnen können.

Offiziell ist China gemäß Artikel 2 des chinesisch-nordkoreanischen Freundschaftsvertrags, der noch mindestens bis 2021 läuft, dazu verpflichtet, Nordkorea im Falle eines Angriffs durch Dritte unverzügerlich militärische und andere Hilfen zu leisten. Doch ist es Auslegungssache, was unter „militärischen Hilfsleitungen“ zu verstehen ist. Eine automatische Pflicht Chinas zum Eintritt in den Krieg auf der Seite Nordkoreas, falls Nordkorea vom Dritten angegriffen wird, besteht indes nicht. Darüber hinaus sind die chinesischen Unterstützungen für Nordkorea mit der Voraussetzung  verbunden, dass sich Nordkorea erstens um eine friedliche Lösung bemüht hat und zweitens Nordkorea den Krieg nicht selbst losgetreten hat. Ohnehin haben aber die zwischenstaatlichen Verträge in kommunistisch regierten Ländern nicht die gleiche rechtliche Bindungskraft wie in einem angelsächsischen Rechtsstaat.

Für die chinesische Führung steht die Aufrechterhaltung der inneren Stabilität Chinas und des Machtmopols der KPCh an erster Stelle in ihrer Entscheidungsfindung. In diesem Zusammenhang ist es höchst fraglich, dass die KPCh-Führung ihr eigenes Machtmopol in China für Nordkorea riskieren würde. Von der enormen Bedeutung des Auslandshandels für Chinas wirtschaftliche Stabilität abgesehen, der im Falle eines Kriegs mit den USA in sich zusammenbrechen würde, kann sich niemand in der Pekinger Führung sicher sein, dass China einen erneuten Korea-Krieg gegen die USA militärisch auch gewinnen kann. Eine Kombination von militärischer Niederlage gegen eine Fremdmacht und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Krisen im Inland jedoch, darüber ist der Führung in Peking bewusst, hat früher zahlreiche chinesische Dynastien schon zu Fall gebracht: So zum Beispiel das bereits erwähnte Schicksal der Sui-Dynastie.

China hat also kein Interesse an einem Krieg in Korea. Hat aber China den Einfluss darauf, Nordkorea grundsätzlich von dem Kurs der Nuklearbewaffnung abzuhalten?

Die nordkoreanische Führung sieht im Besitz der Nuklearwaffen aber die existenzielle Sicherung ihrer Herrschaft. Damit ziehen die kommunistischen Machthaber Nordkoreas ihre Lehre aus den Erfolgsgeschichten der ehemals ebenfalls in der internationalen Isolation befindenden Nuklearmächte wie die VR. China sowie aus dem Untergang der nicht nukler bewaffneten Regimes wie das von Saddam Hussein.

Zudem sehen die Machthaber in Nordkorea in der Nuklarerbewaffnung die Erfüllung der Ziele ihrer „Juche-Ideologie“ für eine politische nationale Selbstständigkeit, da sie sich dadurch unangreifbar sehen.

Darüber hinaus wird Chinas Einfluss auf Nordkorea auch von westlichen Politikern und Beobachtern falsch eingeschätzt. Deren Annahme basiert nämlich im Grunde auf zwei Pfeilern: nämlich zum einen, dass China der einzige Verbündete Nordkoreas sei und zum anderen, dass Nordkorea ohne chinesische Wirtschaftshilfen in sich zusammenbrechen würde.

Wie vorhin bereits erwähnt, kann sich Nordkorea im Kriegsfall nicht darauf verlassen, dass China auch tatsächlich auf der Seite Nordkoreas in den Krieg eingreift, weshalb der erste Pfeiler nicht wirklich überzeugend ist.

Im Falle der wirtschaftlichen Abhängigkeit Nordkoreas zu China hat der chinesische Wissenschaftler Song Guoyou aus der Schanghaier Fudan-Universität im Jahr 2007 seine Studie zum wirtschaftlichen Einfluss Chinas auf Nordkorea publiziert (China’s Economic Influence on DPRK, Song Guoyou  Korean Studies, No.16, Dec 2007).

Die Befunde in seiner Studie:

  1. Im Fall der Lebensmittelhilfen für Nordkorea habe Chinas Anteil zwischen 1997 und 2005 24 Prozent betragen. Der größte Liferant von Lebensmittelhilfen für Nordkorea sei hingegen Südkorea gewesen.
  2. Der Einfluss Chinas auf Nordkorea im Bereich Energie bestehe eher in seinem Import von nordkoreanischen Rohstoffen, aber weniger in der Lieferung von Energie. Korea sei zwar knapp an Erdöl-Ressorcen, aber reichlich an Kohlevorkommen und anderen Naturressourcen. China sei aber nicht der einzige Exporteur von Erdöl nach Nordkorea, in zunehmendem Maße spiele auch Russland beim Ölexport nach Nordkorea eine wichtige Rolle und könnte Chinas Rolle als größter Ölexporteur nach Nordkorea ersetzen.
  3. Der größte Investor in Nordkorea sei mit Abstand Südkorea, nicht China.

Das Fazit von Song Guoyou lautete daher, dass China zwar einen relativen, aber keinen absoluten wirtschaftlichen Einfluss auf Nordkorea hätte.

Die Wirtschaftszahlen zwischen Nordkorea und China dürften sich inzwischen zwar viel geändert haben. Die Grundprämissse  jedoch, dass  China nicht der einzige Liferant an kritischen Waren nach Nordkorea ist bzw. nicht die einzige Quelle, bei der Nordkorea an Devisen herankommen kann, dürften gleich geblieben sein. Vom Westen wenig beleuchtet ist etwa die Rolle der Südkoreaner oder die von hunderttausenden koreanischstämmigen Menschen in Japan, die im Fall der Fälle ihren Landsleuten in Nordkorea unter die Arme greifen würden und das trotz der vielen UN-Sanktionen, die inzwischen gegen Nordkorea verhängt worden sind.

China hat auch kein Interesse daran, seinen verbliebenen wirtschaftlichen Einfluss auf Nordkorea auf andere Nationen zu verlieren. Nordkorea indes kann sich finanzielle Unterstützungen durch andere Nationen und Gruppierungen im Notfall gewiss sein. Denn weder Südkorea, noch die USA, noch Russland oder Japan dürften ein ernsthaftes Interesse an dem Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates und auf eine rasche Einheit der koreanischen Halbinsel haben.

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Südkorea hat viel mehr Sorge vor einem plötzlichen Kollaps des nordkoreanischen Staates und den damit einsetzenden unberechnenbaren Folgen als vor den Risiken des Status-Quo, mit denen Südkorea schon seit mehr als 60 Jahre leben musste. Zudem scheut die Republik Korea  trotz des ausgeprägten Nationalismus ihrer Bevölkerung vor den Kosten einer raschen Wiedervereinigung. Die ökonomische und mentale Kluft zwischen den beiden koreanischen Staaten ist nach mehr als 60 Jahren Teilung größer als jene zwischen der DDR und BRD im Jahre 1990. Demgegenüber ist das Größenverhältnis zwischen Nord- und Südkorea hinsichtlich der Bevölkerungszahl und Fläche wesenlich kleiner als es je zwischen den beiden deutschen Staaten der Fall gewesen ist.  Entsprechend groß wäre die Last für die südkoreanischen Staatsfinanzen, den gescheiterten Norden wieder auf die Beine zu bringen.

Die USA dürften derzeit ebenfalls eher dazu tendieren, den Status-Quo beizubehalten, als eine rasche Einheit Koreas in den Weg zu leiten. Mit einer koreanischen Vereinigung könnte die Stimmung in Korea endgültig zuungunsten der USA kippen und die nationalistischen Forderungen nach einer Beendigung der Stationierung der US-Truppen könnten schnell die Oberhand gewinnen. Ein US-koreanisches Militärbündnis würde gar im Zweifelsfalle in Frage gestellt werden. Zudem beziehen die USA in den wichtigsten Fragen bezüglich Nordkorea immer ihre nordostasiatischen Allierten mitein : Südkorea und Japan. Denn das Bündnis USA-Südkorea-Japan ist die wichtigste Grundlage der US-Sicherheitspolitik in Ostasien. Sollten Südkorea und Japan kein Interese an einem Zusammenbruch Nordkoreas haben, so werden die USA auch keinen Alleingang zur Beseitigung des nordkoreanischen Regimes wagen.

Weder Russland noch Japan dürfte Freude daran haben, eine koreanische Großmacht direkt an der Haustür entstehen zu lassen. Während Russland inbesondere einen mit den USA verbündeten koreanischen Einheitsstaat fürchtete, sorgt sich Japan um die Streitigkeiten mit einem erstarkten koreanischen Staat, mit dem Japan eine Tradition der Erbfeindschaft hinter sich hat. Noch bis heute sorgen ungeklärte historische Fragen um die Besatzungsverbrechen der Japaner auf Korea sowie Grenzstreitigkeiten etwa um die Inselgruppe Liancourt-Felsen beständig für außenpolitische Spannungen zwischen Japan und Südkorea. Da sowohl Japan als auch Südkorea enge Verbündete der USA sind und insbesondere gegenüber der nordkoreanischen Militärbedrohung elementare gemeinsame Interessen haben, so bleiben die Streitigkeiten zwischen Japan und Südkorea derzeit meist nur Wortgefechte.  Fallen die nordkoreanische Bedrohung und die USA als gemeinsame Schutzmacht jedoch weg, so bleibt es ungewiss, ob die tiefsitzenden Ressentiments zwischen den beiden Völkern nicht wieder zu größeren Konflikten führen könnten.

Und China? China dürfte den Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates mit allen verfügbaren Mitteln verhindern wollen. Eine vereinte koreanische Großmacht könnte auch gegenüber China Grenzansprüche in der Mandschurei erheben, da insbesondere das koreanische Reich Goguryeo zeitweise über einen Großteil der Mandschurei herrschte. Schon heute erheben koreanische Nationalisten Gebietsanspruch auf den Himmelssee an der Grenze Nordkoreas zu China, welcher heute zur Häflte China gehört und laut der Legende der Koreaner die Geburtsstätte des koreanischen Volkes sein soll. Zudem leben in der Volksrepublik China knapp 2,5 Millionen ethnische Koreaner, deren nationale Zugehörigkeit dann genauso Gegenstand von chinesisch-koreanischen Streitigkeiten wären wie die Zugehörigkeit von koreanisch geprägten chinesischen Grenzregionen wie Yanbian oder Changbai.

Ebenso wenig dürfte China die Vorstellung gefallen, den Einflussbereich der USA im Falle einer koreanischen Wiedervereinigung und des Verbleibes des vereinten koreanischen Staates innerhalb des US-koreanischen Bündnisses unmittelbar vor der eigenen Grenze zu haben. Außerdem kann China den gespaltenen Zustand der Halbinsel heute sehr gut nutzen, um Japan und die USA im Zaum zu halten und sich auf internationaler Bühne als Friedensstifter für Korea zu profilieren. Fällt allerdings Nordkorea weg, so könnten Japan und Korea ihre geostrategische Ausrichtung neu bestimmen und ihr Augenmerk verstärkt auf China richten.

Am Ende profitieren alle Großmächte mehr oder weniger von der geteilten koreanischen Halbinsel und tun deshalb alles dafür, um dieses Gleichgewicht der Macht in Korea aufrechtzuerhalten.

China hat aber auch eine andere Sorge: Fühlt sich Nordkorea nämlich zu sehr von China unter Druck gesetzt, so könnte der Fall eintreten, den Chinas Führung insgeheim als die „Vietnamisierung Nordkoreas“ fürchten dürfte .Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn China Nordkorea die Lieferungen vom Erdöl verweigern sollte.

Nordvietnam, welches damals nur mit Hilfe massiver chinesischer personeller wie materieller Unterstützungen den Krieg gegen Frankreich und die USA/Südvietnam gewinnen konnte, schlug sich nach der Eroberung Südvietnams auf die Seite der UdSSR. Schließlich führte dies 1979 zu dem chinesisch-vietnamesischen Krieg, der mit äußerster Härte zwischen den einstigen Waffenbrüdern angefochten wurde. Heute verbündet sich Vietnam inoffiziell mit den USA in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Bestrebungen Chinas im Südchinesischen Meer.

Es gibt viele Gründe für China anzunehmen, dass Nordkorea unter gewissen Umständen erneut die Seite wechseln könnte: entweder auf die Seite der USA oder auf die von Russland, welches sich im Falle einer Beilegung seiner Streitigkeiten mit den USA womöglich erneut als eine ernste Bedrohung für China erweisen könnte.

Die seit Jahrzehnten in Nordkorea indoktrinierte Juche-Ideologie würde sich jedenfalls einem solchen Lagerwechsel nahtlos anpassen. Schließlich dienen nach dieser Ideologie koreanische Reiche den Nordkoreanern als Vorbilder, die hauptsächlich China bekämpft hatten.

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Träte ein solches Szenario ein, so kann sich Nordkorea jedenfalls ziemlich sicher sein, dass es andere Großmächte finden wird, die Nordkorea am Leben erhalten werden. Denn ein echtes Interesse am Zusammenbruch des nordkoreanischen Staates haben die Großmächte im nordostasiatischen Raum nicht. Dies ist auch der Grund, warum China bislang den Lebensader für Nordkorea – also die Eröllieferungen trotz der zahlreichen Sanktionen der UN niemals unterlassen hat und nicht wird. Nordkorea ist in dieser Angelegenheit kein Bittersteller. China hat ein elementares Interesse daran, dass China, nicht andere Länder, der Haupt-Erdölversorger Nordkoreas bleibt.

Dies ist aber auch der Grund dafür, warum sich Nordkorea solche andauernden Provokationen in Richtung USA, Japan und sogar China leisten kann. Das Regime in Nordkorea weiss ganz genau, dass keine Großmacht in dem nordostasiatischen Raum einen  Zusammenbruch Nordkoreas oder einen echten Krieg riskieren würde.

Was aber will Nordkorea mittel- bis  langfristig mit seinen atomaren Bestrebungen erreichen?Vermutlich strebt die nordkoreanischen Führung nach einer Maximierung der Sicherheit für das Regime bei den anschließenden Verhandlungen mit den USA und Südkorea, um auf Augenhöhe den offiziell immer noch andauernden Kriegszustand beenden zu können. Zu diesen Verhandlungen könnten die Fragen aufkommen, wie die nordkoreanische Wirtschaft mit Hilfe Südkoreas und der USA modernisiert werden könnte, während das Machtmonopl der kommunistischen Führung mit der Kim-Dynastie an der Spitze samt ihrer unangefochtenen Autorität aufrecht erhalten werden könnte.

Es liegt dann an der US-Regierung, um der Frage nachzugehen,  inwieweit man die Sicherheit des nordkoreanischen Regimes gewährleisten kann, wenn angenommen werden kann, dass die kommunistische Partei in absehbarer Zukunft weiterhin ihre absolute Kontrolle über Nordkorea aufrechterhält.

Davon wird es im Wesentlichen abhängen, ob eine weitgehende Entspannung auf der koreanischen Halbinsel sowie ein breiterer Austausch zwischen den beiden koreanischen Staaten möglich sein wird.