Tichys Einblick
Es wird weiter protestiert

Gelbwesten, Akt 24: Keine Gnade für Macrons Reformpläne

Keine Gnade finden Macrons "große Debatte" und seine geplanten Steuersenkungen: die Proteste verstummen nicht, die Polizei wird durch eine Selbstmordwelle erschüttert.

© Kai Horstmeier
Lyon, Samstag 27. April, es ist kurz nach 14 Uhr und regnet in Strömen. Dennoch haben gut 500 Gelbwesten den Platz Charles-Hernu in Villeurbanne etwas abseits des Stadtzentrums gefunden. Sie demonstrieren hier zum ersten Mal, denn die Präfektur hat nun schon zum dritten Mal in Folge jegliche Kundgebung auf der Place Bellecour und den anliegenden Geschäftsvierteln verboten. Begründung: Seit mehreren Wochen störten die Gelbwesten die öffentliche Ordnung dort und gefährdeten Passanten, Geschäfte und städtische Einrichtungen. Warren Dalle, einer der Organisatoren der Proteste in Lyon, hält das für ungerechtfertigt: „Wir sind nicht in Toulouse oder in Bordeaux“, sagt er, „in Lyon ist es extrem ruhig. Sie wollen damit lediglich die Stimmung anheizen“. Aber die ist entspannt und ruhig auf der Place Charles-Hernu. Bestimmendes Thema bei den Gesprächen ist – selbstverständlich – die Pressekonferenz von Emmanuel Macron vom vergangenen Donnerstag. Der Präsident hatte in etwas mehr als zwei Stunden den Franzosen seine Schlussfolgerungen aus der sogenannten „Grand Débat“, einer Art landesweitem Bürgerdialog, vermitteln wollen.

Große Debatte ohne Ergebnis

Gut drei Monate lang waren er und mehrere Minister durch Frankreich gezogen und hatten in erster Linie mit ausgewähltem Publikum die Lage im Land diskutiert. Ziel war es auch, eine Lösung für die Gelbwesten-Krise zu finden. Das ist Macron nicht gelungen. Umfragen zufolge fanden ihn 65 Prozent der Franzosen nicht überzeugend, für 78 Prozent stellen seine Vorschläge keinen Ausweg aus der Krise dar und 77 Prozent meinen, er habe noch nicht einmal auf die Erwartungen der Gelbwesten geantwortet. „Macron wollte uns mit seiner großen Debatte einnebeln, aber er hat uns nur noch stärker motiviert“, sagt Josette. Die 66-jährige Rentnerin ist zusammen mit ihrem Mann eigens aus der Drôme angereist, um in Lyon zu demonstrieren. „Wir haben das mit Freunden diskutiert, die politisch ganz und gar nicht unserer Meinung sind“, gibt sie zu bedenken, „aber er hat niemanden überzeugt. Eine mehrmonatige große Debatte, um das zu erreichen? Es gibt keinerlei starke und überzeugende Vorschläge. Wir sind sehr enttäuscht. Obwohl, enttäuscht, das ist wohl zu viel gesagt, wir haben ja sowieso nichts erwartet“. Jordan, 27, meint, man könne jetzt nicht nachgeben: „Wir haben nichts von dem erreicht, was wir seit dem 17. November anstreben. Er heuchelt uns vor, dass er dem Volk zuhört, aber in Wirklichkeit hört er überhaupt nicht zu. Ich habe das Gefühl, dass wir wieder am Anfang angekommen sind.“ Das Innenministerium zählte beim 24. Akt der Proteste 23.600 Demonstrierende, die Gelbwesten 60.700.

Steuersenkungen und weitere Versprechen

Dabei hat Macron es gut gemeint. Bei seiner mit Spannung erwarteten Pressekonferenz, die erste für Macron seit Beginn seiner Amtszeit, legte er grob fest, wie er sich seine zukünftige Politik vorstellt. Steuersenkungen in Höhe von fünf Milliarden Euro für die Mittelschicht stellte er in Aussicht, die Anpassung von Renten unter 2.000 Euro an die Inflationsrate, eine Mindestrente von 1.000 Euro für diejenigen, die zwar in die Rentenkasse eingezahlt haben, die aber nur auf eine kleine Rente kommen. Aber auch: eine längere Lebensarbeitszeit. Nicht durch ein höheres Rentenalter als die derzeitigen 62 Jahre, sondern durch finanzielle Anreize. Die Abschaffung der Vermögenssteuer, die „Impôt de Solidarité sur la Fortune“, will er im nächsten Jahr auf ihre Effizienz hin überprüfen lassen. Macron wollte damit die Investitionsbereitschaft wohlhabender Industrieller in Frankreich motivieren. Einer weiteren zentralen Forderung der Gelbwesten erteilte er eine Absage: Das sogenannte „Référendum d’Initiative Citoyen (RIC)“, eine Art auf Bürgerbegehren basierendes Referendum, lehnt er ab, das stelle die repräsentative Demokratie in Frage. Dafür will er die Zahl der notwendigen Unterschriften für Bürgerbegehren, die ins Parlament eingebracht werden, das sogenannte „Référendum d’Initiative Partagée (RIP)“, von derzeit 4,5 Millionen auf eine Million senken. Die Zahl der Sitze in der Nationalversammlung will er um 25 bis 30 Prozent senken. Macron will auch die Eliteschule „ENA“ abschaffen und durch andere Institutionen ersetzen. Viele Franzosen halten die „École Nationale d’Administration“, aus der sich ein großer Teil der französischen Beamtenelite rekrutiert, für eine Schule für Kinder reicher Eltern. Macron hatte sie einst selbst absolviert. Schulen sollen bis 2022, dem Ende seiner Amtszeit, nicht mehr ohne die Zustimmung der Bürgermeister geschlossen werden dürfen, Grundschulkassen nicht mehr als 24 Schüler umfassen. Kritiker werfen Macron schon seit Wochen vor, er habe die „Grand Débat“ für seine eigenen Zwecke missbraucht, er habe damit Wahlkampf für die Wahl zum Europaparlament im Mai betrieben. Insgesamt zwölf Millionen Euro hat sie den französischen Steuerzahler gekostet.

Ungekannte Suizidwelle bei den Sicherheitskräften

Für Aufsehen sorgt in Frankreich derzeit eine nie gekannte Selbstmordwelle unter den Sicherheitskräften. 29 Suizide hat das Innenministerium seit Januar unter den Beamten gezählt. Beobachter sehen den steigenden Druck wegen der Gelbwesten-Proteste als eine der Ursachen. Die Mutter von Jean-François B., ein Angehöriger der „Brigade Anti-Criminalité (BAC)“, die normalerweise gegen Kriminalität und Unruhen in den Vororten der großen Städte Frankreichs eingesetzt wird, hat einen Brief an den Präsidenten, Innenminister Christophe Castaner und seinen Staatssekretär Laurent Nuñez geschrieben: „Ich bin Dominique C., mein Sohn hat sich am 4. April im Alter von 38 Jahren umgebracht“, heißt es darin, „wie können wir uns diese Selbstmordwelle erklären? Die Antwort besteht aus zwei Worten: Anerkennung und Respekt. Die französische Polizei erhält keinerlei Respekt mehr, und ihr Auftrag findet keinerlei Anerkennung. Für mich ist der einzig Verantwortliche für diese Vorfälle der Staat!“

Ein Beispiel aus der vergangenen Woche ist symptomatisch für die Malaise: Von den 61 Angehörigen der „Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS)“ in Saran im Département Loiret meldeten sich 48 auf einmal krank. Sie sollten eigentlich den Besuch von Staatssekretär Nuñez im gut 100 Kilometer entfernten Tours sichern. „Wir haben seit dem 22. April innerhalb von vier Tagen 90 Stunden Arbeit angesammelt“, erklärt Christophe Granget von der Polizeigewerkschaft UNSA. „Dann sind wir in Nantes im Einsatz gewesen, anschließend sollten wir am Freitag von sieben Uhr morgens an den Besuch des Staatssekretärs sichern. Die Kollegen sind müde, sie fühlen sich nicht mehr in der Lage, unter optimalen Bedingungen vor Ort eingesetzt zu werden.“ Die Kompanie sei ebenso wie die anderen 60 im Land völlig erschöpft: „Wir sind keine Übermenschen!“ Die CRS hatten schon mehrere Male an höherer Stelle Beschwerde gegen ihre Arbeitsbedingungen eingelegt, aber „die scheinen da taub zu sein“, sagt Granget. Für Entrüstung sorgte schließlich ein ganz anderer Vorfall. Bei den Protesten in Paris am 20. April hatte eine Gruppe von Gelbwesten „Bringt euch um!“ gegenüber den Sicherheitskräften skandiert. Das rief das gesamte politische Establishment auf den Plan: Innenminister Castaner twitterte umgehend, es sei eine „Schande für diejenigen, die sich eine solche Bloßstellung“ erlaubten – „totale Unterstützung für unsere Sicherheitskräfte und ihre Familien. Die Franzosen wissen, was sie ihnen schulden.“ Nathalie Loiseau, ehemalige Ministerin und Listenerste bei der Wahl zum Europaparlament von der Regierungspartei „La République en Marche (LREM)“ fragte, wie man solche Äußerungen ertragen könne, wenn sich die meisten Franzosen doch in Würde und Hommage an die Republik versammelten: „Diese Meute ist nicht das Volk.“ Ungesagt blieb freilich, dass bis auf diese vereinzelten Beleidigungen die große Mehrheit der vom Innenministerium landesweit gezählten 27.900 Gelbwesten beim 23. Akt der Proteste den Sicherheitskräften gegenüber skandierte: „Bringt euch nicht um – schließt euch uns an!“ Auch in Lyon.


Lesen Sie auch: