Tichys Einblick
TE macht Märchen wahr

Beharrlicher, ehrlicher Journalismus führte zur Wiederholung der Berlin-Wahl

Manchmal wirkt Journalismus eben doch: Die Berlin-Wahl muss wiederholt werden, weil das Versagen öffentlich gemacht wurde. Wir haben dazu maßgeblich beigetragen. Es ist ein guter Tag – für TE und den Journalismus, für Berlin und die Demokratie in Deutschland.

Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bausenator Andreas Geisel - trotz fehlerhafter Wahl immer noch im Amt.

IMAGO / Christian Spicker
Es ist ein kleines Märchen, das alle Facetten beinhaltet, die man von den archetypischen Erzählungen des Abendlandes kennt. Ein Unrecht geschieht, doch niemand will davon wissen; jemand benennt das Unrecht, stößt aber auf taube Ohren. Hindernisse, Mühen und Leid folgen, bis es zur Erlösung kommt: Die Lüge bleibt Lüge, die Wahrheit bleibt Wahrheit. Eine manipulierte Wahl ist eine manipulierte Wahl und wird nicht über Nacht richtiger, nur, weil niemand ein Interesse an der Wiederholung hat – ob aus persönlichen oder politischen Gründen.

Berliner Verfassungsgerichtshof entscheidet
Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus muss komplett wiederholt werden
Man sollte eines nicht vergessen: Zu Beginn der „causa Berlin“ stand die Ignoranz. Medien schreiben von Klimaleugnern und von Coronaleugnern, seit neuestem auch von „Wahlleugnern“ in den USA, die das Ergebnis der dortigen Wahlen infrage stellen. In der Geschichte, um die es jetzt geht, waren zahlreiche Medienvertreter und Regierungspolitiker die Leugner: Sie bestritten die Fehler bei der Wahl, die unterschlagenen Wahlbescheinigungen, die Hindernisse und Störungen in den Lokalen, die Schludrigkeiten, Pannen und Manipulationen. All diese nun durch einen Gerichtsbeschluss bestätigten horrenden Umstände der Berlin-Wahl 2021 haben eine ganze Reihe prominenter Stimmen auf regionaler wie nationaler Ebene geleugnet.

Wäre es nach den herrschenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kräften des Landes gegangen, dann hätte es überhaupt keiner Aufklärung bedurft – weil es nichts aufzuklären gab. Weder der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch der Spiegel, den sein Gründer einst „Sturmgeschütz der Demokratie“ nannte, halfen bei einer kritischen Aufarbeitung eines sichtbaren Missstandes im Kern der Demokratie. Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte: nämlich dass in der Hauptstadt der deutschen Vorzeigedemokratie eine Wahl abgehalten worden war, die keiner Demokratie würdig war. Das passte schlichtweg nicht in die Vorstellungen jener, die mit Vorliebe Polen oder Ungarn wegen angeblicher Demokratiemängel ermahnen.

Dass es zugleich nicht in einer konservativen Hochburg, sondern im linksradikalen Berlin passierte, machte den Fall unappetitlich. Hätte man bei Unstimmigkeiten in einer CSU-Stadt vielleicht genauer hingesehen? Wir werden es nie erfahren. Festzuhalten bleibt, dass ein ganzes Netz aus ideologischen, pragmatischen und persönlichen Interessen versuchte, den Eindruck zu verhindern, dass am Tag der Wahl in Berlin Zustände wie in einer Bananenrepublik herrschten und Teile des Abgeordnetenhauses wie des Bundestages unrechtmäßig zustande gekommen waren. In Abwandlung eines britischen Mottos lautete die Losung: Ruhe bewahren und den Schlendrian fortsetzen.

Ganz konkret: Das Team junger Autoren, das die Protokolle aufdeckte, berichtet vom unfreundlichen Umgang, den es bei seiner Recherche erfuhr; Medien wie die Zeit zogen Verfassungsrechtler heran, die aufzeigten, dass eine Neuwahl nicht nötig sei; Politiker wie der Innensenator Andreas Geisel – der Hauptverantwortliche für das Debakel –, der sogar noch Wochen nach der Wahl die Chuzpe hatte zu behaupten: „Nach jetzigem Stand gehe ich nicht davon aus, dass die Wahl in Berlin großflächig wiederholt werden müsste.“ Geisel ist heute Bausenator in Berlin und hat immer noch keine Konsequenzen aus der Berliner Wahl gezogen.

Der ehemalige Berliner Abgeordnete Marcel Luthe, der maßgeblich mit TE zusammenarbeitete, um das ganze Ausmaß des Wahldebakels aufzudecken, betonte gegenüber TE, dass die Entscheidung der Lohn für 14 Monate „intensiver Arbeit“ des gesamten Teams sei. Allein aus den unvollständigen, falschen, teils gar manipulierten Niederschriften der Wahllokale ergebe sich die Ungültigkeit der Wahlen. Das Gericht betonte dabei, dass in diese Niederschriften nur einer reingesehen habe, nämlich Luthe selbst.

Doch die Arbeit ist damit nicht zu Ende. „Nun wird zu klären sein, ob eine nicht aus Wahlen hervorgegangene Versammlung ein Parlament sein kann. Dazu liegt dem Gerichtshof und dem 18. und 19. Abgeordnetenhaus mein Eilantrag vor“, sagt Luthe. „Wer nicht gewählt ist, ist kein Abgeordneter – und die Entscheidung des Gerichts gilt ab sofort.“ Dass das Gericht sich dabei selbst herausnimmt, die Abgeordneten trotz der ungültigen Wahl dennoch in ihren Posten zu belassen, bewertet Luthe als Anmaßung.

Nicht in seiner historischen Bedeutung, sehr wohl aber in seiner prinzipiellen Strahlkraft hat TE damit einen „Bedingt abwehrbereit“-Moment geschaffen. Es ist keine Regierung gestürzt worden, die Eliten sitzen weiterhin dort, wo sie vorher saßen. Der RBB wird angesichts seiner Hausskandale weiterhin um sich selbst kreisen, statt seiner Arbeit nachzugehen. Was also hat sich geändert? Es hat sich gezeigt, dass ein junges Medium, das mit einer deutlich kleineren Mannschaft ausgestattet ist als so mancher millionenfinanzierte Presse-Platzhirsch, mit trockenem journalistischem Handwerk – Quellensuche, Quellenprüfung, Quellenaufarbeitung – nicht nur etwas leisten, sondern sogar etwas bewegen kann. Nach sechs Jahren TE hat dieses Magazin nichts weniger als den größten Wahlskandal der Nachkriegszeit aufgeklärt – und die notwendigen Mechaniken in Bewegung gesetzt, die im stotternden Motor der Bundesrepublik niemals von selbst angelaufen wären.

Ohne Tichys Einblick, die jungen Autoren von Apollo News und Marcel Luthe hätten einige mächtige Personen in den letzten Wochen und Monaten ruhiger schlafen können. Das ist aber nicht alles. Anders als die meisten Medienvertreter sind wir unserer Pflicht als Vierte Gewalt nachgekommen. Eine Presse ohne Staats- und Regierungskritik ist wertlos, weil die Demokratie kein Selbstläufer ist. Das haben die Ereignisse der Berlin-Wahl deutlich vor Augen geführt: Denn ohne die Aufarbeitung der Protokolle hätte das Gericht nicht von allein eine Wiederholung angestrebt.

Freilich: Man sollte sich keine Illusion über die Ergebnisse bei einer Wahlwiederholung machen. Aber TE ist nicht dazu angetreten, eine bestimmte Partei vom Thron zu stoßen oder eine andere dort zu installieren. Es ging von Anfang an darum, ein Unrecht als das zu benennen, was es ist, und Konsequenzen zu fordern. Das ist uns gemeinsam gelungen. Konservative machen keine Revolution, sondern schichten kleine Steine zu einem Turm auf. Die Berlin-Wahl ist nur ein kleiner Stein. Aber er verdeutlicht, dass sich in diesem Land immer noch etwas bewegen lässt – und nichts so in Stein gemeißelt ist, wie viele uns glauben machen wollen.

Erfolge muss man benennen. Man sollte sich von ihnen aber nicht täuschen lassen. Es gibt nämlich noch einen Stein, einen, der ins Rollen kommen muss. Die Entscheidung kommt nur eine Woche nach dem Beschluss des Wahlprüfungsausschusses des Bundestags. Dieser will sich immer noch nicht der Ansicht beugen, dass eine nur teilweise wiederholte Bundestagswahl bedeutet, dass man den Wähler verhöhnt. Bei den Wahlen auf Landesebene hat man in Berlin verstanden, dass es mittlerweile um etwas deutlich Wichtigeres geht als um Momentaufnahmen an Wahlurnen: nämlich die Legitimation des politischen Systems in Deutschland.

Legitimation und Herrschaft hat schon im Mittelalter nicht nur in eine Richtung funktioniert. Ein König brauchte das Vertrauen seiner Untertanen. Ähnlich braucht eine gewählte Regierung das Vertrauen der Bürger. Eine Ampel-Koalition, die Jagd auf Delegitimierer-Phantome macht, glaubt sich offenbar unangreifbar. Dabei tun die Ampel-Parteien mit ihrem Beharren das Möglichste, um Misstrauen und Zorn auf sich zu laden: Sie delegitimieren sich damit selbst. Der Fingerzeig des Verfassungsgerichtshofes sollte daher mehr als nur eine Warnung sein.


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