Tichys Einblick
Ampel-Koalition will Wahlwiederholung

Bundestagswahl in Berlin soll wiederholt werden – aber nur bei der Zweitstimme

Die Ampel-Koalition will sich dafür aussprechen, dass in Berlin die Bundestagswahl wiederholt werden soll. Mit dem Vorbehalt, dass nur die Zweitstimme gelten soll, macht sie klar, dass die Stabilität des derzeitigen Parlaments Vorrang gegenüber dem Wählerwillen hat.

IMAGO / Future Image
Nach Monaten hat man nun also auch auf nationaler Ebene ein Einsehen: Die Bundestagswahl in Berlin muss wiederholt werden. Dazu haben sich die Ampel-Parteien durchgerungen, nachdem klar war, dass man das Desaster der Abgeordnetenhauswahl kaum von der Bundestagswahl unterscheiden kann. Zu oft sind Wahlbenachrichtigungen nicht richtig oder gar nicht verschickt worden, mussten Wähler lange Schlangen in Kauf nehmen, standen vor geschlossenen Wahllokalen oder litten unter der schlechten Vorbereitung des Wahlgangs als solchem.

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Nicht die Ampel-Koalition, sondern der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags entscheidet über die Wahlwiederholung. Da SPD, Grüne und FDP dort die Mehrheit stellen, dürfte die Entscheidung als sicher gelten. In 300 Stimmbezirken soll neu gewählt werden. Nun könnte man der falschen These verfallen, dass die Bundesparteien eingesehen haben, dass das, was für Berlin gilt, auch für den Bund gelten muss. Tun sie jedoch nicht. Denn obwohl der Fingerzeig überdeutlich ist, will man von den Vorgaben abweichen.

Zur Erinnerung: Das Gericht hat klar geäußert, dass das Vertrauen dauerhaft und schwerwiegend beschädigt werden könnte, sollten die Fehler nicht zur Wiederholung führen. Daher wären klare Verhältnisse notwendig. Jeder Zweifel an einer ordnungsgemäßen Wahl muss ausgeräumt werden. Das könnte nur geschehen, wenn man in den umstrittenen Bezirken komplett neu wählen lässt. Die Ampel allerdings folgt dieser Deutung nicht – und will nur die Zweitstimmenwahl wiederholen.

Das jedenfalls sagte der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner. „Das Berliner Verfassungsgericht hat uns darin bestärkt, Neuwahlen dort durchzuführen, wo Wahlfehler geschehen sind“, so Fechner. „Anders als das Berliner Verfassungsgericht sehen wir wie der Bundeswahlleiter die Wahlfehler aber nicht in jedem Wahlkreis.“ Die Erststimmenergebnisse ziehen die Verantwortlichen nicht in Zweifel. Das ist schon abenteuerlich – denn bekanntlich stehen beide Stimmen auf einem Zettel, werden gemeinsam abgegeben.

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Ob nun protokolliert oder nicht, ob an der Stimmabgabe gehindert oder nicht, ob mit oder ohne Unterbrechung des Wahlvorgangs. Auf ganz magische Weise war die linke Seite des Wahlzettels in allen Lokalen richtig, nur die rechte Seite wird in Zweifel gezogen. Fechner hat seinen Vorschlag an den Ausschuss bereits übermittelt. Über ihn wird noch im Oktober abgestimmt.

Damit erweist Fechner den Berlinern und der Glaubwürdigkeit des demokratischen Systems aber einen Bärendienst. Statt die Gelegenheit zu nutzen, um reinen Tisch zu machen, reagiert die Ampel nur mit Einschränkungen. Der Bundesbürger indes argwöhnt zu Recht. In Berlin-Reinickendorf hatte Bundeswahlleiter Georg Thiel das Erststimmenergebnis in Zweifel gezogen.

Sollte der Wahlprüfungsausschuss tatsächlich dem Fechner-Vorschlag zustimmen, dass nur die Zweitstimmen betroffen seien, wird die Berlinwahl 2021 ihren Ruch nicht los. Zu Recht könnten die Wähler diesem Manöver misstrauen – weil man wohl im Bundestag fürchtet, dass man mit einer anderen Zusammensetzung rechnen müsste, als sie bisher herrscht. Die Stabilität des Parlaments hat damit unausgesprochen Vorrang gegenüber dem eigentlichen Wählerwillen. Neuerlich wird klargemacht, wer der eigentliche Souverän der Berliner Republik ist.


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