Tichys Einblick
Diplomatie versus Haltungssucht

Deutschland und Frankreich diplomatisch auf dem Tiefpunkt

Die pflichtschuldig wahrgenommenen Pro-Forma-Konsultationen und gegenseitigen Besuche zwischen Frankreich und Deutschland sind nicht mehr in der Lage, die voneinander abweichenden Positionen und Perspektiven zu übertünchen. Längst herrscht zwischen Paris und Berlin eine Art Eiszeit.

Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz während einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt in Berlin am 9. Mai 2022

IMAGO / NurPhoto

Fast vier Jahre ist es her, als ich hier bei TE über den Deutsch-Französischen Vertrag von Aachen schrieb: „Der Deutsch-Französische Nationalstaat tritt an die Stelle der EU: Schaut man sich die Gesamtheit all dessen an, was Deutschland und Frankreich in Aachen vereinbart haben, so führt, auch wenn dieses nirgends explizit so steht, an der Feststellung kein Weg vorbei: Am Ende kann nur ein Ergebnis stehen, das als deutsch-französische Föderation zweier Nationen in einem gemeinsamen Staat an die Stelle der Europäischen Union tritt. Diese Föderation soll jene Attraktivität entwickeln, die die Europäische Union verloren hat.“

Die verflossene Euphorie von Aachen

Damals, am 22. Januar 2019, wollten Emmanuel Macron und Angela Merkel den Grundstein zu einer Zusammenarbeit legen, an deren Ende Napoleons Vorstellungen eines französischen Groß-Europas stehen sollte. Füllten die Verantwortlichen den Vertrag in Geiste desselben aus, hätten wir längst eine Art Föderationsregierung haben müssen, in der Franzosen und Deutsche an einem gemeinsamen Strick ziehen und am Ende der Franzose sagt, wo es hingehen soll.

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Statt aber zumindest den Geist der Kooperation zu pflegen, scheint das gewollte Zusammenrücken beider Länder auseinander statt zueinander zu bringen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die vereinbarten Pro-Forma-Konsultationen pflichtschuldig wahrgenommen werden. Doch selbst die gegenseitigen Besuche sind nicht mehr in der Lage, die voneinander abweichenden Positionen und Perspektiven zu übertünchen. Längst herrscht zwischen Paris und Berlin eine Art Eiszeit, die zudem den immer tiefer werdenden Grabenbruch zwischen Nord- und Südeuropäern kaum noch zu kitten in der Lage ist und die durch die bürgerlich-konservative Regierung in Rom nun zudem noch einen Faktor erhalten hat, der seine unmittelbare Wirkung vor allem auf jene beiden Platzhirsche entfaltet, die sich eigentlich zusammentun wollten, um Europa nach ihrem Gusto zu gestalten. Dabei befindet sich gegenwärtig vor allem Macron in einer misslichen Lage.

Auch wenn der Franzose sich erst in fünf Jahren wieder dem Votum seiner Bürger stellen muss, so sitzt ihm doch angesichts der ungelösten innenpolitischen Probleme in der Nationalversammlung eine Oppositionsmehrheit im Nacken, die nur deshalb mit ihren 327 zu 250 Stimmen keinen bestimmenden Druck erzeugt, weil sie in zwei unversöhnliche Lager des rechten und des linken Flügels geteilt ist.

Macron ist zu nationaler Politik verdammt

Im Gegensatz zur deutschen Politik hat Macron nicht zuletzt aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament längst begriffen, dass er für seine Wähler eine nationale Politik liefern muss. Der alte Traum von der Grande Nation lebt im gefühlten Kriegssieger von 1945 fort und bestimmt bis heute die Rolle Frankreichs in der Europäischen Union. Die ist als Ergebnis der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zudem das Werkzeug der beiden alten Männer de Gaulle und Adenauer gewesen, die traditionsreiche deutsch-französische „Erbfeindschaft“ zu überwinden und damit nicht nur Frankreichs Westgrenze zu sichern, sondern im Verbund mit den romanischen Südeuropäern die EU-Dominanz Frankreichs festzuschreiben.

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Der Aachener Vertrag erfüllte insofern zwei Aufgaben. Aus deutscher Sicht sollte er angesichts des anstehenden Brexits die befürchtete Übermacht der EU-Südländer einhegen – aus französischer Sicht hingegen das genaue Gegenteil erreichen, indem die Führungsnation der Nordländer an den dominierenden, französischen Einfluss gebunden werden sollte.

Es lag auf der Hand, dass diese Konstruktion so nicht funktionieren würde. Solange Merkel den Daumen auf Deutschlands Politik hatte, konnte der unvermeidliche Riss unter dem Teppich versteckt werden. Doch mit dem Einstieg der Grünen und Gelben in die bundesdeutsche Regierungsverantwortung sollten die Widersprüche offenbar werden. Ob Energie- und Umwelt, Finanzen oder Außenpolitik – der Kitt der Gemeinsamkeit bröselt beim Zusehen.

Kernkraft versus Ökostrom

So ist Frankreichs energisches Festhalten an der Kernenergie, auch dadurch unterstrichen, dass zu den bestehenden 56 KKW weitere in beschleunigter Planung sind, für die grünen Ideologen in Berlin ein absolutes No-Go. Statt sich dem deutschen Sonderweg anzuschließen und die Nutzung fossiler Energien durch einen fragwürdigen Totalumstieg auf Wind und Sonne zu beenden, hält Frankreich an jener Energie fest, die für die Grünen nichts anderes als Teufelswerk ist.

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Die Tatsache, dass die Deutschen unter Robert Habeck nun auch die verbliebenen KKW vom Netz nehmen werden, erzeugt in Paris zusätzliches Unverständnis angesichts der Tatsache, dass die eigenen KKW aus unterschiedlichen Gründen derzeit nur mit halber Kraft laufen. Auch kann den Franzosen niemand erklären, warum Deutschland auf Kernkraft und selbst gefördertes Fracking-Gas verzichtet, wenn es deshalb Strom aus französischen Atomanlagen beziehen muss.

Als zudem noch die vermeintlich reichen Deutschen angesichts der Gasabschaltung aus Russland zu Mondpreisen den internationalen Erdgasmarkt leerkauften, erreichte die Stimmung im Élysée-Palast einen neuen Tiefpunkt. Ein sogenannter Gaspreisdeckel, der die EU-Staaten verpflichten soll, auf dem Weltmarkt einen fest definierten Höchstpreis nicht zu überbieten, weckt beim Kernkraft-affinen Macron die Erwartung, das in Frankreich benötigte Industriegas zu erträglichen Preisen einkaufen zu können.

Deutschland hingegen, das durch eine verfehlte Energiepolitik in die Gasabhängigkeit von Russland manövriert worden war, befürchtet den Zusammenbruch seiner Industrie und den Aufstand seiner frierenden Bürger, sollte es nicht die Handhabe behalten, sich ohne Rücksichtnahme auf Partner mit dem Lebenselixier zu versorgen. Eine substanzielle Einigung in dieser Frage steht insofern nicht zu erwarten – faule Kompromisse hingegen werden die Missstimmung zwischen Paris und Berlin eher befördern.

Wer künftig Frankreichs Schulden bezahlt

Ähnlich die Situation in der Finanzpolitik. Macron, dessen Frankreich traditionell zur südeuropäischen Fraktion der unbegrenzten Schuldenmacher neigt, setzt seit eh und je auf eine Vergesellschaftung der Schulden der EU-Länder. Dabei gilt derzeit noch weitgehend: Über die Höhe der Verschuldung bestimmt das nationale Parlament – die Bezahlung dieser Schulden soll jedoch im EU-Kollektiv geschultert werden. Faktisch bedeutet dieses: Frankreich und die anderen Schuldenmeister halten ihre Staatswesen mit Geldern am Leben, die am Ende von Deutschland gedeckt werden. Dagegen setzen sich die Deutschen scheinbar noch zu Wehr, obgleich sie nicht nur mit dem Target-System längst unrettbar in der Falle sitzen.

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Der Unmut über Frankreichs fiskalpolitische Vorstellungen kumulierte nun angesichts einer Inflationsrate von an die zehn Prozent, für die in Berlin maßgeblich die Geldpolitik der französischen EZB-Chefin verantwortlich gemacht wird. Die mehr als verdeckte Finanzierung der Südeuropäer durch ungedeckte Euro-Flut hatte längst jede deutsche Sparsamkeit konterkariert. Nachvollziehbar auch deshalb, dass in Paris nun das Haushaltsgebaren des FDP-Finanzministers auf Unverständnis stößt. Der erhält nach außen immer noch die Schimäre der Schuldenbremse aufrecht – hat dabei aber mit sogenannten „Sondervermögen“ und „Doppel-Wummsen“ längst der staatlichen Überschuldung Tür und Tor geöffnet.

Dabei geht es nicht nur um die deutsche Scheinheiligkeit – Macron beginnt auch zu ahnen, dass ein Deutschland, welches in der Finanzpolitik dem südeuropäischen Vorbild folgt, künftig als Geldkuh zunehmend weniger zu gebrauchen sein wird. Da zudem die grüne Regierungspolitik in Berlin die große Transformation vom industriellen Exportweltmeister zum deindustrialisierten Importabhängigen betreibt, sind die in Deutschland erwirtschafteten Überschüsse umso schneller verbraucht, als die ungebremste Neuverschuldung Zins und Tilgung produziert. Wen aber will Macron künftig melken, wenn die Alemannen nicht mehr das Geld einfahren, welches die Partnerschulden decken soll?

Französische Diplomatie versus deutsche Haltungssucht

In der Außenpolitik gehen Franzosen und Deutsche längst und wie so oft gänzlich unterschiedliche Wege. Die sogenannte, wertegebundene Außenpolitik, mit der Annalena Baerbock die Welt beglückt, passt in die diplomatische Tradition der Welschen wie der Senf auf die Macarons. In Paris gilt für das diplomatische Geschehen eine Grundregel: Egal, wie sich das Gegenüber positioniert – solange der Nutzen bei Frankreich liegt, gilt jeder als gern gesehener Partner.

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Nicht zuletzt deshalb hat Frankreich über Jahrzehnte mehr als klammheimlich enge Beziehungen zum Mullah-Regime in Teheran gepflegt, glaubte Macron auch nach Russlands Überfall auf die Ukraine, bei Putin etwas Sinnfälliges bewirken zu können. Gänzlich fremd sind Frankreich internationale Positionierungen, die auf weltanschaulichen Grundüberzeugungen basieren. Von der im Aachener Vertrag beschworenen Gemeinsamkeit auf internationalem Parkett kann längst nicht mehr die Rede sein.

Erschwerend kommt aus deutscher Sicht das Bundeswehr-Engagement in Zentral-Westafrika hinzu. Hier hatte sich die Merkel-Regierung vom französischen Freund verleiten lassen, ein eigenes Bundeswehrkontingent in die malische Wüste zu schicken – vorgeblich, um dortige Islamterroristen einzudämmen und so den Zustrom illegaler Migranten in die EU (sprich: Deutschland) zu verringern. Paris hat sich zwischenzeitlich mit der malischen Putschistenregierung überworfen und seine Truppen abgezogen – die Bundeswehr sitzt immer noch dort, während den Verantwortlichen in Berlin zunehmend bewusst wird, dass der Einsatz zwischen Schlangen und Skorpionen vor allem dazu diente, Frankreichs Uran-Verträge im malischen Nachbarland Niger abzusichern. Die dortigen Schürfrechte sind für die Pariser Energiepolitik unverzichtbar – und dass nun ausgerechnet atomophobe Grüne die KKW-Zukunft im Nachbarland militärisch absichern, muss manchem Wurzelöko mehr als übel aufstoßen.

Wer sich nichts zu sagen hat

All diese Diskrepanzen, von denen hier nur die Offensichtlichsten aufgezeigt wurden, bedürften eigentlich einer grundlegenden Klärung, um das deutsch-französische Verhältnis wieder auf einigermaßen gesunde und zielführende Füße zu stellen. Andererseits sind die jeweiligen politischen Ansprüche und Ziele derart unvereinbar, dass selbst gutwilliges Verhandeln kaum eine für beide Seiten erträgliche Lösung produzieren kann. Wie heftig das gegenseitige Unverständnis ist, dokumentierte Frankreichs Macron, der nach einem offenbar überaus missvergnüglich verlaufenen Abendessen in seinem Amtssitz die sonst übliche, gemeinsame Pressekonferenz mit Olaf Scholz einfach platzen ließ. Wie wenig der Franzose vom deutschen Sozialdemokraten hält, wurde zudem beim Brüsseler Gaspreisgipfel deutlich. Ein kurzer, kühler Handschlag – und das war es.

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Es ist mehr als unterkühlt in den Beziehungen, die eigentlich auf eine große Föderation hinauslaufen sollten. Dabei sind sich beide Regierungen darin einig, dass angesichts der aggressiven Politik Moskaus die Achse Berlin–Paris umso mehr gefordert wäre – und nach Rom und auch Madrid hätte verlängert werden müssen. Doch auch da steht es gegenwärtig nicht zum Besten.

Als der Spanier Pedro Sánchez und Scholz übereinkamen, künftig Gas aus iberischen Häfen nach Germanien zu lenken, übersahen beide, dass zwischen den neuen Energiepartnern immer noch Frankreich angesiedelt ist. Das wiederum machte angesichts fehlender Pipelines wenig Anstalten, hier den Kollegen hilfreich zur Hand zu gehen.

In Rom hat nun zudem mit Georgia Meloni eine Art lebendiger Gottseibeiuns im Palazzo Chigi Platz genommen. Deren Weigerung, die Migrantenschleuser weiterhin ungehindert in Italiens Häfen ihre menschliche Fracht abladen zu lassen, sorgte in Paris für heftiges Missvergnügen, als nun ein Transport Frankreichs Mittelmeerküste ansteuern musste. Nachvollziehbar, denn bislang berührte die Süditalien-Deutschland-Route das Land der Gallier nicht, die sich weitgehend auf die Missstände am Kanal konzentrieren konnten, wo seit geraumer Zeit die illegale Migranten-Überfahrt von Calais nach Dover für Irritationen mit dem Briten sorgt.

Ein Reparaturbetrieb auf Hochtouren

Alles in Allem also hängt der Segen zwischen Berlin und Paris mehr als schief. Vom hehren Geist des Aachener Vertrags ist nicht viel mehr geblieben als das Papier, auf dem er geschrieben steht. Angesichts der internationalen und europäischen Herausforderungen sind nun beide Seiten bemüht, über die unüberbrückbaren Diskrepanzen etwas Kitt zu schmieren. Gegenwärtig wird heftig konsultiert. Baerbock in Paris bei Macron, Frankreichs Premierminister Élisabeth Borne in Berlin bei Scholz, Christian Lindner wiederum beim Kollegen Bruno Le Maire in Paris – der Reparaturbetrieb läuft auf Hochtouren.

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Bislang allerdings scheinen die Ergebnisse mehr als überschaubar. Die üblichen Willensbekundungen und Absichtserklärungen. An der Grundproblematik allerdings werden sie wenig ändern. Mit Paris und Berlin treffen derzeit zwei Politikkulturen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das irrlichternde Hin und Her vor allem der deutschen Politik lässt das gemeinsame Projekt gegenwärtig zahlreiche unberechenbare, flackernde Schatten werfen.

Wie wenig da gemein geht, lässt sich vielleicht am besten am Umgang mit der „WM der Schande“, wie das Theater in Qatar mittlerweile in bundesdeutschen Medien geframt wird, erkennen. Während die deutsche Haltungsindustrie mit „One-Love-Binde“ und demonstrativem Mund-Zuhalten ihre Energie auf das Setzen von Zeichen konzentriert, ließ Frankreichs Spielführer Hugo Lloris wissen, dass er gelernt habe, die Gepflogenheiten eines Gastgebers zu respektieren, auch wenn diese nicht seine eigenen seien. Im Übrigen konzentriere sich Frankreich jetzt auf den eigentlichen Zweck des Ausflugs in die Wüste. Im Ergebnis stehen die Deutschen mit einem peinlichen 1 zu 2 gegen Japan da, während Frankeich gegen Australien ein 4 zu 1 einfuhr. Manchmal setzt eben auch bloße Symbolkraft Zeichen.

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