Tichys Einblick
„Pushbacks“ in Nordmazedonien

Straßburger Gerichtsurteil: Zurückweisungen gegen massenhafte illegale Einreisen rechtens

Idomeni und der „Marsch der Hoffnung“, der illegale Migranten nach Nordmazedonien führte, beherrschte einst die Nachrichten. Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war die Zurückweisung der Migranten rechtens. Was bedeutet das Urteil für den europäischen Grenzschutz und „Pushbacks“ in der Ägäis?

IMAGO / ZUMA Wire
Das Thema „Pushbacks“ – besser spricht man vielleicht von Zurückweisungen an der Grenze – bewegt noch immer die europäische Rechtsgemeinde. Ohne Zweifel ist es richtig, diese Fragen von unabhängigen Gerichten klären zu lassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nun ein neues Urteil zu dem Problemkreis gesprochen, in dem er seine ältere Einschätzung zu einem Fall aus den spanischen Exklaven in Nordafrika bestätigt: Die kollektive Zurückweisung ist in beiden Fällen erlaubt, weil die Migranten mit oder ohne Anwendung von Gewalt massenhaft versuchten, illegal ins Land einzureisen, obwohl ihnen andere Wege offenstanden.

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Im neuen Urteil geht es um 1.500 Migranten, die einst – am 14. März 2016 – vom Migrantenlager Idomeni in Griechenland aus über die nordmazedonische Grenze gelaufen waren. Es handelte sich laut Urteilszusammenfassung um Afghanen, Iraker und syrische Staatsbürger, die sich dem sogenannten „Marsch der Hoffnung“ („Walk of Hope“) anschlossen und zunächst den Fluss Suva Reka durchwateten. Dabei war auch ein Migrant in einem Rollstuhl, der von den anderen über felsiges oder allzu feuchtes Gelände getragen wurde.

Ein paar Kilometer hinter der Grenze fingen nordmazedonische Soldaten die Menschen ab und forderten sie angeblich auf, Kameras und Smartphones abzustellen, andernfalls würden diese konfisziert. Danach wurden die Migranten von mitgereisten Journalisten, Aktivisten und Freiwilligen getrennt, welche für sechs Monate des Landes verwiesen wurden. Über das weitere Geschehen kann man nur mutmaßen: Angeblich verluden die Soldaten die Migranten in Lastwagen und brachten sie so zurück an die griechische Grenze. Durch Löcher und Lücken im Grenzzaun kehrten die Migranten nach Griechenland zurück. Laut dem nordmazedonischen Innenministerium konnten in jenen Tagen weitere 600 Migranten bereits an der Grenze abgefangen werden. An diesem Ablauf zeigt sich zunächst erneut, dass kleine Staaten in Osteuropa durchaus in der Lage sind, ihre Grenzen wirksam zu schützen.

Auch Norbert Blüm wurde einst von den Schleppern vereinnahmt

Das Drama an der griechisch-nordmazedonischen Grenze hatte begonnen, als tausende illegale Migranten ihr Lager im griechischen Idomeni aufgeschlagen hatten und sich trotz widriger Umstände weigerten, in reguläre Unterkünfte zu wechseln. Im August 2015 erklärte die nordmazedonische Regierung eine Notlage rund um die Grenzorte Gevgelija und Kumanovo. Die Situation blieb aber noch ein gutes halbes Jahr angespannt. Im März 2016 verbrachte der vormalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm eine Nacht in dem Lager. Später tauchten – von dem CDU-Politiker nicht autorisierte – Flugblätter mit der Aufschrift „Kommando Norbert Blüm“ auf, die die Migranten aufforderten, in dem von unhaltbaren hygienischen Zuständen betroffenen Lager auszuharren.

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Sogar der radikal-linke Regierungschef Alexis Tsipras verurteilte diese Aktion damals. Es folgten Flugblätter in arabischer Sprache, die zu einer Stürmung der Grenze am 10. April 2016 aufriefen. Auch dieser Sturm fand statt, die nordmazedonischen Beamten verteidigten ihre Grenze, während die griechische Polizei stillhielt. Irgendwann begannen die griechische Armee und Luftwaffe damit, Manöver in der Nähe des Lagers durchzuführen. Am Ende musste die Regierung Tsipras das Lager von Idomeni räumen. Dabei tauchten vermutlich viele der Migranten unter.

Ein Gruppe von Migranten von damals klagte vor dem EGMR wegen kollektiver Ausweisung. Unterstützt wurden die illegalen Migranten dabei durch die Organisation Pro Asyl und das European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) unterstützt. Laut den beiden Nichtregierungsorganisationen (NGO) war es monatelang unmöglich, in Nordmazedonien Asyl zu beantragen. Daher sei von einem illegalen Refoulement zu sprechen, das nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu vereinbaren sei. Kollektive Ausweisungen „ohne Bewertung der Umstände jedes Einzelfalls“ seien darin untersagt.

Dagegen argumentiert das Straßburger Gericht, ähnlich wie schon 2020 im Fall der spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, dass die Migranten sich selbst durch die Art ihrer Einreise in eine rechtswidrige Situation gebracht hätten und daher – auch wegen der Überlastung der Grenzkräfte – ein vereinfachtes Prozedere gelten solle. Im Gegensatz zum spanischen Fall erkannte das Gericht hier nicht auf ein gewaltsames Eindringen. Allerdings standen den Migranten offizielle Grenzübergänge offen, wo sie entweder die zur Einreise nötigen Papiere hätten vorlegen können oder aber Asyl beantragen konnten.

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Zwischen Juni und Dezember 2015 waren 640.000 Migranten nach Nordmazedonien gekommen. 388.233 von ihnen hatten einen Asylantrag gestellt. Viele tauchten allerdings nach gestelltem Antrag unter und dürften ihren Weg auf der Balkanroute Richtung Österreich und Deutschland fortgesetzt haben.

Im Jahr 2016 hatte sich dieses Verfahren allerdings schon gewandelt. So erhielten bis zum 14. März rund 90.000 Migranten ein Zertifikat, das ihre Absicht bestätigte, in Nordmazedonien um Asyl zu bitten. Dies taten allerdings am Ende nicht einmal 300. Das Verhalten zeigt einmal mehr, dass es den Migranten nicht um Schutz vor Verfolgung ging, den sie im griechischen Idomeni besaßen (wo sie zudem auf eine ordentliche Unterkunft verzichtet hatten) und den sie in Nordmazedonien hätten beantragen können.

Massenhafte illegale Einreise: Keine individuelle Prüfung möglich

Laut der Legal Tribune Online, die ihrerseits aus dem Gerichtsurteil zitiert, waren die Zurückweisungen von 2016 rechtmäßig, weil die Migranten illegal eingereist waren und keinen Asylantrag stellten. Eine Prüfung ihrer individuellen Situation war den nordmazedonischen Behörden aus diesen beiden Gründen nicht möglich. In der Pressemitteilung des Gerichts heißt es, die Antragsteller selbst hätten sich in eine riskante Lage (jeopardy) gebracht, indem sie illegal auf nordmazedonisches Territorium vordrangen und dabei von der Größe der eigenen Gruppe zu profitieren suchten: „Das Ausbleiben individueller Abschiebungsentscheidungen war eine Folge ihres eigenen Verhaltens.“

Die Migranten von 2016 taten damit im Grunde nichts anderes als die tausenden Nicht-Ukrainer, die seit Beginn des Krieges in ganzen Busladungen nach Deutschland kamen, aber laut Order von Innenministerin Nancy Faeser keinen Asylantrag stellen müssen. Bis einschließlich 8. April 2022 waren es laut Innenministerium 13.625 „Nicht-Ukrainer“, die angeblich aus der Ukraine nach Deutschland kamen. Diese Zahl geht aus der Antwort des Innenministeriums auf eine neue parlamentarische Frage hervor, die TE vorliegt. Vollends unglaubwürdig wurde so eine ältere Behauptung des Innenministeriums, dass Mitte März erst 2.500 Nicht-Ukrainer in Deutschland gewesen seien. Oder meinte man damals nur die illegal Eingereisten und muss diese (zweifellos weiter angewachsene) Zahl noch zu den 13.625 hinzuaddiert werden?

Selbstredend gibt es zwischen Deutschland und Nordmazedonien viele Unterschiede. Die Bundespolizei wäre zu einer Kontrolle der Situation in der Lage, sie darf sie aber nicht vornehmen. Und so nimmt Deutschland heute tausende Nicht-Ukrainer – also meist Araber, Zentralasiaten und Afrikaner – unter dem Schleier der „Flucht aus der Ukraine“ ohne Asylantrag auf.

Dabei haben die Sicherheitsbehörden Zweifel, dass es sich bei dieser Gruppe um frühere Bewohner der Ukraine handelt. Viele von ihnen könnten über die Balkanroute nach Deutschland gekommen sein.

Es bleibt die Frage, wie ein Verfahren der ordentlichen Zurückweisung illegaler Migranten an der nordmazedonischen Grenze rechtens sein kann, während es in der Ägäis von EU-Vertretern wie Ylva Johansson inkriminiert wird. Hält man etwa die griechischen Grenzschützer für weniger überlastet als die nordmazedonischen? Die Türkei ist laut der offiziellen Einschätzung griechischer Behörden ein sicheres Land für die meisten Migranten, zum Beispiel solchen aus Syrien, dem Irak, Somalia oder Afghanistan. In der Tat sind die meisten von ihnen muslimischen Glaubens und dürften insofern in der Türkei sicher und gut aufgehoben sein. Nun bliebe noch zu klären – vielleicht ja auch durch ein EGMR-Urteil –, ob die vollbesetzten Migrantenboote in der Ägäis dem Tatbestand der massenhaften illegalen Einreise nicht doch näherkommen, als bisher allgemein eingesehen wird.

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