Tichys Einblick
Nach dem Taurus-Leck

Britischer Ex-Minister sieht Deutschland von russischen Geheimdiensten durchdrungen

Das Taurus-Leck passt wie die Faust aufs Auge. Gerade erst hatte Scholz sich endgültig aus der Affäre ziehen wollen, da bestätigt das Leck seine Argumente. Doch in Paris und London gibt es Ärger über den doppelten Geheimnisverrat. Die Nato schweigt. Moskau droht mit Konsequenzen, sollte Scholz sich umentscheiden.

IMAGO / ZUMA Wire
Deutsche Luftwaffenoffiziere haben in einem ziemlich schlecht geschützten WebEx-Call militärische Geheimnisse im Dutzend ausgeplaudert. Diese Nachricht ist nun schon ein paar Tage alt, aber hat ihr volles internationales Echo wohl noch nicht gefunden. Den Generälen ging es um die Fragen: Wie kann man deutsche Taurus-Systeme in der Ukraine einsetzen? Ist es machbar, die Krim-Brücke oder russische Munitionsdepots zu sprengen? Außerdem wurde festgestellt, dass britische und französische, natürlich auch US-amerikanische Kräfte (die angeblich „in Zivilklamotten“) längst in der Ukraine tätig sind, während deutsche Soldaten das laut Aussage des Bundeskanzlers nicht dürfen oder sollen. Für einige Zeit geht es darum, wie man ein vielleicht mögliches Vorgehen dem Ministerium erklärt und schmackhaft machen kann.

Verteidigungsminister Pistorius fielen zu dem Geheimnisverrat nur die abgehackten Worte „Informationskrieg“, hybrider Angriff, Desinformation und ja, auch „Spaltung“ ein. Und tatsächlich ist Russland die Spaltung der westeuropäischen Nato-Kreise schon fast gelungen. London und Paris sind hinter vorgehaltener Hand entgeistert über die Arglosigkeit ihrer deutschen Verbündeten, die sich eben mal bei einem Plauderstündchen über Gott und die Welt abhören lassen. Die Sache soll laut Pistorius ein reiner „Zufallstreffer“ sein und auf individuellem Versagen beruhen. Ein Teilnehmer hatte sich in Singapur mit einem unsicheren Verfahren eingewählt. Es war der Brigadegeneral Frank Gräfe, der dort an der Singapore Air Show teilgenommen hatte.

Aber wie es auch immer zu dem Missgeschick kam, die Taurus-Leaks sorgen für erhebliche Unruhe bei den Partnern im Westen. Können sie Deutschland nach dem Geschehenen noch ernst nehmen? Sehr genau dürfte man allerdings fortan die Löcher in der deutschen Sicherheitsarchitektur beschauen. Auch Ex-BND-Chef August Hanning glaubt nicht an einen Einzelfall. Der aktuelle Fall sei vielleicht nur die Spitze eines Eisbergs sein, so Hanning gegenüber Bild.

Daneben hat Moskau das Datenleck gekonnt eingesetzt, um den Spaltpilz zwischen den westlichen Verbündeten zu legen. Erst letzte Woche hatte sich Olaf Scholz auf militärisch-diplomatisches Glatteis begeben, als er versuchte, die Taurus-Begehrlichkeiten der Ukraine quasi endgültig zu blockieren – mit einer wilden Formulierung, die inzwischen genauso heftig kritisiert wird wie das Luftwaffen-Leck.

Ex-Heereschef: Schwerer Tadel an deutsche Offiziere – und an Scholz

Vor allem aus London kommen beißend scharfe Kommentare zu den Deutschen und ihrer sicherheitspolitischen Verlässlichkeit. So sieht Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace, dass „Deutschland stark von russischen Geheimdiensten durchdrungen“, und das zeige, „dass es weder sicher noch zuverlässig ist“. Wallace kann offenbar etwas freier sprechen als seine Kollegen im Amt. Trotz dieser Zweifel aus London bestand Pistorius am Dienstag darauf: Das Kommunikationssystem der Bundeswehr sei vertrauenswürdig und das Vertrauen der Verbündeten in Deutschland intakt – in Berlin trübt anscheinend kein Wölkchen den Nato-Himmel.

Aber der Ärger sitzt offenbar tief in der britischen Sicherheitsgemeinschaft, wie auch der ehemalige Heereschef Richard Dannatt im Times Radio bestätigte. Die beteiligten Luftwaffenoffiziere, die angedeutet hätten, dass „es Briten in der Ukraine gibt“, müssten schwer getadelt werden. Dannatt möchte es nicht zulassen, dass irgendjemand über die Anwesenheit von britischen Soldaten in der Ukraine spricht, das sei niemandes Angelegenheit. Premier Sunak hatte die Stationierung britischer Soldaten umgehend dementiert. Insofern wirkt es paradox, wenn der Telegraph schreibt, das Taurus-Leck gefährde britische Truppen.

Dennoch: Dannatts Rüge an die Offiziere wendet sich auch gegen Scholz. Der Kanzler hatte erst letzte Woche ganz unverblümt verkündet, dass Briten und Franzosen die Ukrainer bei der Bedienung von Waffensystemen im Land unterstützen. Dasselbe könne Deutschland nicht tun, so Scholz, weil es sonst in den Krieg hineingezogen würde. Schon diese Bemerkungen von letzter Woche werden im Telegraph als „Verrat an einem Nato-Verbündeten“ gewertet. Scholz legte offenbar militärische Geheimnisse offen, um seinen eigenen Kopf aus der Taurus-Schlinge zu ziehen. Briten und Franzosen erklärte er in diesem Zuge implizit zu Kriegsteilnehmern, was Deutschland nicht werden dürfe.

Deutschland als schwächstes Glied in der Nato-Kette

Daneben wird kritisiert, dass die Taurus-Systeme laut dem russischen Mitschnitt, wenn überhaupt, nur in kleineren Lieferungen an die Ukraine gehen sollten: Zweimal 50 Marschflugkörper seien möglich, dann sei aber sicher Schluss. Generalleutnant Ingo Gerhartz, der höchste General der Luftwaffe, erklärt in dem Mitschnitt: „Es muss uns klar sein: Das wird nicht den Krieg ändern. […] wir wollen ja auch nicht alle abgeben.“ Die Briten schließen daraus, dass Deutschland den Kriegsverlauf nicht wirklich beeinflussen wolle.

In Londoner Diplomatenkreisen spricht man davon, dass Russland die Bundesregierung als „schwächstes Glied“ in der Nato-Kette ausgemacht habe und Scholz darüber hinaus als „nützlichen Idioten“ zur Erreichung der eigenen politischen Ziele nutze. So soll Deutschland angeblich aus dem Spiel genommen werden. Weiter sagt die Londoner Quelle: „Und sie [die Russen] könnten Recht haben, wenn man die Art bedenkt, wie er [Scholz] Deutschland und seine Partei in dieser Frage positioniert hat.“

Diese Statements stehen in scharfem Kontrast zu der äußerlich gewahrten Contenance des Premiers. Der ließ erklären, dass die deutsche Abhöraffäre eine „sehr ernste Angelegenheit“ sei, die aber nicht die britische Unterstützung oder die Zusammenarbeit mit Deutschland gefährde. Das möge den Vorfall untersuchen. Eine sehr diplomatische Note, die wie abgesprochen mit Scholz klingt. Sunak beharrt aber auch auf der „notwendigen Hilfe“ an die Ukraine, „einschließlich tödlicher Unterstützung, um sich zu verteidigen und ihr souveränes Territorium zurückzuerobern“. Also doch rhetorisch-praktische Aufgabenteilung zwischen London und Berlin statt Konflikt? Scholz darf den Kontakt zu Putin erhalten, während Briten und Franzosen die Arbeit tun?

In London sieht man im Ukraine-Krieg viel eher die Selbstverteidigung Westeuropas gegen Putins Russland, während es in Berlin oft so erscheine, als sei das nur ein Krieg in einem fernen Land. Auch ein direkter Krieg mit Russland wird weiterhin ernsthaft diskutiert, etwa auch was das Gesundheitssystem NHS und seine Belastbarkeit in diesem Fall anbetrifft. Am Donnerstag reist Außenminister Cameron nach Berlin und will mit seiner Amtskollegin Baerbock angeblich sowohl über die Ukraine wie über Israel, die beiden wichtigsten Themen derzeit, sprechen. Das könnte dann doch halbwegs spannend werden.

Auch in Paris leise Indignation – doch Macrons Hals dreht sich weiter

In Pariser Zeitungen ist man eigentlich noch mit Schadensminimierung nach der Krise um die Aussagen Emmanuel Macrons zu französischen Truppen in der Ukraine befasst. Aber nun streut Berlin fast noch mehr Sand ins deutsch-französische Getriebe. Das mittig-rechte Wochenmagazin Express zitiert die deutsche Bild mit jener „gefährlichen Eiszeit“, die zwischen Scholz und Macron ausgebrochen sei.

Im Lichte der Taurus-Leaks nimmt auch Macrons Vorstoß eine andere Bedeutung an. Während Berlin sagte, dass es nicht dasselbe tun könne, was London und Paris bislang in der Ukraine tun, ging Macron in die Offensive und versuchte vielleicht auch so, Berlin zur Taurus-Lieferung zu treiben, obwohl Macron doch zu Beginn des Konflikts eher auf einen raschen Ausgleich mit Moskau setzte. Aber das ist nun macronistischer Schnee von gestern. Ist das Luftwaffen-Leck also die definitive Retourkutsche für Macrons Vorwitzigkeit? Und wer hat sie eigentlich losgeschickt, Moskau oder – was man ja kaum zu denken wagt – doch Berlin selbst?

Im Parisien bemerkt man vor allem die Indiskretionen über die Marschflugkörper des Typs Scalp (so der französische Name des Storm-Shadow-Systems) und die britisch-französische Assistenz, die zu seiner Benutzung nötig ist: „Dieser Teil der Abhörung ist für Berlin einer der unangenehmsten, da er Geheimnisse verbündeter Länder enthüllt.“ Aber auch hier bemerkt man, dass Olaf Scholz die Sache im Kern ja schon ausgeplaudert hatte.

Bei einem Trip nach Rom zog sich Scholz auf die Bemerkung zurück, dass es sich um „eine sehr ernste Angelegenheit“ handele, die man „sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig“ aufklären müsse. An alle Adjektive in dieser Aussage dürfen Fragezeichen geknüpft werden. Pistorius hat nun den Militärischen Abschirmdienst mit einer ersten Prüfung beauftragt. Aber diese innere Putzkolonne kommt etwas spät. Derweil erklärte Macron in Prag, die Verbündeten dürften auf keinen Fall eines sein: zu „lasch“. Alles müsse getan werden, damit Russland diesen Krieg nicht gewinne, wobei die Bedingungen eines solchen Nicht-Siegs – wie immer – ungenannt bleiben. Macron will aber auch keinesfalls im Krieg mit dem russischen Volk sein und will angeblich keine Eskalation. Dieser Hals könnte sich schon wieder drehen, und kaum etwas hängt davon ab.

Spott und Drohungen aus Moskau

Für das Weiße Haus blieb Sicherheitssprecher John Kirby bei der Berliner Linie: Das Kommunikationsleck sei ein „Versuch der Russen, Zwietracht zu säen und eine Spaltung herbeizuführen“. Ein Nato-Offizieller sagte: „Wir kommentieren Geheimdienst-Angelegenheiten nicht.“

In Russland forderte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow eine Untersuchung der vermeintlichen deutschen Angriffspläne auf Russland und machte sich lustig über die Differenzen zwischen Bundesregierung und Bundeswehr, die das Leck vielleicht zeige: „Wir müssen noch herausfinden, ob die Bundeswehr dies auf eigene Initiative tut. Wenn ja, stellt sich die Frage, inwieweit die Bundeswehr kontrollierbar ist, inwieweit Herr Scholz das alles kontrolliert und ob es Teil der deutschen Regierungspolitik ist.“ Beide Möglichkeiten seien sehr negativ. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur TASS hat die russische Regierung den deutschen Botschafter einbestellt.

Für die russische Regierung steht fest, dass in der Bundeswehr Militärschläge auf russisches Territorium diskutiert wurden – gemeint ist die Krim-Brücke oder Brücke von Kertsch. Deren „Herausnahme“ wird in der Aufzeichnung als Kriegsziel einer ungenannten Gruppe („sie“, gemeint ist wohl die ukrainische Führung) bezeichnet. Die Brücke sei heute aber eher von symbolischem Wert, da Russland mittlerweile eine Landbrücke zur Krim besitzt. Die wird es offenbar auch laut der Expertise der Militärs behalten.

Kurzfristiger Nutzen gegen bleibenden Ansehensverlust?

Von den Luftwaffenoffizieren wird zudem eingewandt, dass die Ukraine nur noch eine einstellige Zahl an Trägerflugzeugen für einen solchen Angriff mit Taurus-Raketen habe. Außerdem gibt es Zweifel, ob man das Verteidigungsministerium und den Taurus-Hersteller MBDA ins Boot holen könnte. Gewisse Munitionslager seien ohnedies lohnendere Ziele. Diese Details sind die Ansatzpunkte des russischen Spotts.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zacharowa, ging rhetorisch weiter als Peskow und fügte Drohungen gegen Deutschland hinzu: „Sie sind, wie wir jetzt verstehen, nicht vollständig entnazifiziert worden. […] Das Monströseste ist, dass dies – und das ist eine Tatsache, die Sie überprüfen können – vor allem zu schrecklichen Konsequenzen für Deutschland selbst führen wird, wenn nichts getan wird, wenn dieser Prozess nicht vom deutschen Volk selbst gestoppt wird.“ Im Klartext: Berlin hat keine Erlaubnis aus Moskau zum Einsatz der Taurus-Marschflugkörper in der Ukraine. Sollte es an dieser Stelle anders handeln, hat es mit Konsequenzen zu rechnen. Das konnte man sich beinahe denken.

Könnte das Leck der Ampel kurzfristig sogar nützen? Zwei Fliegen krümmen sich gerade von allein vor ihr, ganz ohne Klappe: Vom Ausbleiben der Taurus-Systeme wurde erfolgreich abgelenkt und gleichzeitig hält sie selbst ein weiteres Beispiel für den schlimmen Einfluss Moskaus beim Thema Medien und Desinformation in Händen. Allerdings stimmen die übergebenen Informationen in diesem Fall bis aufs Haar, wie auch Pistorius zugeben musste. So fällt die eigene Rhetorik von Desinformation und Spaltung gerade hammerschwer auf Berlin zurück. Die langfristigen diplomatischen Verstimmungen bleiben vielleicht unter der Decke, aber de facto fällt Deutschland damit in einem weiteren Politikfeld ausdauernd flach. Der Ansehensverlust ist schon jetzt mit Händen zu greifen, und der ereignet sich sowohl im Westen wie in Russland.

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