Tichys Einblick
Die Agora-Affäre 2023

Noch viele Graichen im Keller

Eines der Großereignisse von 2023 war die Agora-Affäre und die Entlassung von Staatssekretär Patrick Graichen. TE hatte an der Berichterstattung und Aufklärungsarbeit großen Anteil.

IMAGO / photothek
Erinnern Sie sich noch an Patrick Graichen? Im Rückblick 2023 womöglich eines der herausragenden Ereignisse des Jahres. Nicht so sehr, weil es um eine einzelne Personalie ging, sondern weil für Sekunden aufflackerte, dass es ein ganzes System zur Selbstbereicherung im Namen des Klimaschutzes gibt. Wenigstens für einige Wochen gab es einen Moment, in dem es sich anfühlte, als sei ein Fenster in einem stickigen Raum geöffnet worden. Plötzlich bekam eine Erzählung Luft, verbreitete sich: nämlich, dass die grünen Weltretter letztendlich nicht besser als die anderen waren und man dies auch offen sagen konnte und für alle Welt sichtbar wurde, ohne sogleich moralische Vorwürfe entgegengeschleudert zu bekommen.

Wie in Corona-Zeiten waren die Verschwörungstheorien von gestern die Fakten von morgen, und auch mehrere Massenmedien begannen, die Strukturen hinter der Causa Graichen zu hinterfragen. Kurzzeitig war Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck so angeschlagen, dass nicht nur TE den Rücktritt des Mannes forderte, der Graichen zu seiner rechten Hand berufen hatte. Das Heizungsgesetz stand als Graichengesetz in der Kritik der Öffentlichkeit, und stellte die gesamte Ampel vor eine Belastungsprobe.

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Der Autor dieses Artikels ist über die mannigfaltigen Verbindungen des Agora- und DHU-Netzes seit dem Frühling 2018 informiert, inklusive der darin agierenden Personalien wie Jochen Flasbarth, Axel Friedrich, Rainer Baake und eben auch Graichen. Der Hinweis an eine große Tageszeitung in dem damaligen Jahr blieb bis heute unbeantwortet. Als der Bundestagsabgeordnete Mario Mieruch in dieser Zeit vor dem Netzwerk und seinen Verstrickungen warnte, blieb dies unbeachtet. Kaum war Graichen als Staatssekretär im Amt, publizierte TE deswegen einen großen Übersichtsartikel. Während andere Graichen noch als Energie- und Klimaexperten lobten, stellte TE bereits damals das Netzwerk heraus.

Kontinuierlich fütterte TE seine Leser über anderthalb Jahre immer wieder mit Stoff aus dem Agora-Netzwerk. Dass dabei nicht nur das NGO-Netzwerk, sondern auch allzu persönliche Kontakte eine Rolle spielten, bildeten wir schon zur Jahreswende 2021/2022 ab. Doch es gibt Gründe, warum wir danach den Schwerpunkt immer wieder auf die NGOs, die Stiftungen, die einflussreichen Personalien legten: Allzu deutlicher Nepotismus kann auch eine Ablenkung dafür sein, was wirklich vor sich geht.

Den Historiker interessiert nicht nur das, was war, sondern auch das Bild davon, was war. Es spielt demnach keine Rolle, welchen „Wahrheitsgehalt“ Wikipedia hat. Fakt ist: Unzählige Menschen nutzen jeden Tag Wikipedia, um sich zu informieren. Was in Wikipedia steht, wird Fakt, wird Realität, wird Überzeugung. Es ist deshalb bezeichnend, wie Wikipedia den Fall Graichen „erzählt“, heißt, welches Narrativ der Graichen-Geschichte innewohnt. Es ist die Geschichte einer Schadensbegrenzung, die Geschichte einer Geschichte – die es nicht gibt.

Folgt man der Darstellung von Wikipedia, dann war die „Trauzeugenaffäre“ der Auslöser für die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Diese Trauzeugenaffäre habe ein Spiegel-Bericht ins Rollen gebracht. Das ist schon deswegen eine interessante Erzählung, weil im Wikipedia-Artikel selbst steht, dass am Ende Graichen nicht wegen der Affäre um den von ihm mitbestimmten Dena-Chef und Trauzeugen Michael Schäfer seines Amtes entbunden wurde. Graichen musste weichen, weil er Gelder für den BUND mitbewilligte, in dem seine Schwester Verena Graichen stellvertretende Vorsitzende ist.

Und das ist der eigentliche Knackpunkt. Er wird immer wieder umschifft und mit dem Wort der „Trauzeugenaffäre“ verklärt. Es geht nicht um den Einzelfall Schäfer, nicht einmal den Einzelfall Verena Graichen. Es geht darum, dass sich prinzipiell grüne Interessengruppen Posten und Gelder untereinander zuschachern. Das ist die Öko-Lobby, das ist das „Agora-Netzwerk“: Dass seit Jahren Abermillionen-Euro von Leuten im Ministerium an NGOs vergeben werden, die sich nicht nur untereinander kennen oder gar verwandt sind, sondern als ideologische Kampfgefährten durch die Institutionen durchmarschieren und sich an Steuergeldern sattfressen. Das alles mit dem Anspruch, das Klima, ja, die ganze Welt zu retten.

Zur Tiefenbetrachtung reichte es nur in den wenigen Wochen zwischen der Aufdeckung des dena-Geschachers und Graichens Abschied. In diesen Tagen bekamen auch die großen Medienhäuser spitz, dass unter dem Lack grüner Weltrettung sehr egoistische Motive schlummerten. Plötzlich entdeckte man, dass der Umwelt- und Wirtschaftsstaatssekretär Rainer Baake seinen Agora-Nachfolger Graichen schon als persönlichen Referenten ins Umweltministerium geholt hatte, dass er und Flasbarth sich kannten; dass Flasbarth, Baake und Graichen nicht nur die Agora entscheidend führten und gründeten, sondern auch massiven Einfluss auf die jeweilige Bundesregierung ausübten.

Zaghaft kratzte man weiter und bemerkte, dass die Agora genau aus den Ministerien, in denen Staatssekretäre mit Agora-Ratsmitgliedschaft saßen, auch zugleich reiche Förderungen flossen – oder eben auch an die Deutsche Umwelthilfe (DUH), deren langjähriger Co-Geschäftsführer zufälligerweise Baake war. Und dass dessen langjähriger Mitstreiter, der Autohasserverein Verkehrsclub Deutschland (VCD), von Flasbarth mitbegründet und von Graichens Vater Rainer Graichen als Präsident angeführt wurde.

Eigentlich – eigentlich! – wären solche dynastischen Verstrickungen inklusive jahrzehntelange Kaperung der Behörden durch NGOs und ihre Strippenzieher der Moment gewesen, um Graichen nur als Chiffre für einen Apparat zu sehen, der jene Transformation, die heute offiziell im Koalitionsvertrag steht, in den letzten 30 Jahren vorbereitet hat. Und dieser Kreis erweitert sich, schaut man auf die internationalen Finanziers. Denn es geht um ein globales, grünes Klima-Geschäft, bei dem deutsche, europäische und amerikanische Dependancen eine Rolle spielen. Es ist ein Spiel der Milliardäre, um Anteile, um Investitionen, um Firmenübernahmen, um Börseneinfluss. Das Beispiel Hohn spricht Bände.

Wer Graichen sagt, der muss eigentlich sagen: Jürgen Trittin, Rainer Baake, Jochen Flasbarth, Axel Friedrich; muss sagen: Agora Energiewende, Agora Verkehrswende, Agora Industrie, Agora Agrar, Agora Digital, Clean Energy Wire, Klimafakten; muss sagen: Deutsche Umwelthilfe, Verkehrsclub Deutschland, Stiftung Klimaneutralität, BUND, Öko Institut, Wuppertal Institut für Umwelt, Klima, Energie; muss sagen: Umweltministerium, Wirtschaftsministerium, Entwicklungsministerium, Verkehrsministerium, Umweltbundesamt; muss sagen: Mercator Stiftung, European Climate Foundation, ClimateWorks Foundation, Oak Foundation, Aspen Global Change Institute, Hewlett Foundation, Packard Foundation, Climate Imperative Foundation, Energy Foundation, Ford Foundation, Children’s Investment Fund Foundation; muss sagen: Hal Harvey und Christopher Hohn.

Und ja, das ist eine gekürzte Fassung.

Dennoch: Die offizielle Geschichte der Bundesrepublik wird derzeit so gehandhabt, dass es sich lediglich um eine vom Spiegel ins Rollen gebrachte „Trauzeugenaffäre“ handelt, die sich einzig um Graichen gedreht hat. Nicht um ein internationales Milliardengeschäft mit einer Clique von Profiteuren, die Deutschland als Experimentierfeld aufziehen und an deren Ende dann eben energieintensive Unternehmen „aufhören zu produzieren“ oder abwandern, sollte das Experiment schiefgehen. Man sollte sich dabei davor hüten, dahinter ein reines US-Komplott zu sehen, denn Deutschland ist nicht zufällig das Experimentierfeld. Dass auch Oppositionspolitiker wie Friedrich Merz engen Kontakt zu Christopher Hohn hatten und auch eine ganze Reihe von CDU- und FDP-Politikern an der Energiewende aus persönlichen Motiven Interesse hatte, zeigt, dass es sich auch um keine rein ideologisch-grüne, sondern politisch-grüne Angelegenheit handelt. Jochen Flasbarth, die eigentliche Schlüsselfigur zwischen NGOs und Ministerien, hat ein SPD-Parteibuch.

Man mag ein halbes Jahr später resümieren, dass hier eine Chance verpasst wurde. Und man mag resignieren, dass der „Agora-Komplex“ bestehen bleibt, und eben nur ein Hydra-Kopf abgeschlagen wurde. Doch das täuscht. Eine persönliche Note: Als ich im Jahr 2018 begann, das Ausmaß dieser Vernetzungen zu begreifen, und mit Mieruch versuchte, die Sache publik zu machen, war es aussichtslos, überhaupt etwas in Gang zu setzen. Medien und Politik waren komplett desinteressiert. Selbst bei den Vertretern der Automobilindustrie oder Autoverbänden gab es größtenteils Achselzucken, obwohl inmitten der damaligen DUH-Krise gerade deren Interessen für alle offensichtlich auf dem Spiel standen. Was seitdem passiert ist, war dazumal noch unvorstellbar. Und dass die grüne Lobby mittlerweile so verbreitet ist, dass auch sie die Kontrolle verlieren kann, ist ein Zeichen, dass nach der Graichen-Affäre noch andere kommen könnten.

Wie es auch immer ausgeht: Wir sind dabei. Es liegen noch viele Graichen im Keller. Und TE-Leser wissen es – wie immer – früher.

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