Tichys Einblick
Interview

Psychologe Heiner Rindermann: Intelligentere Gesellschaften sind reichere Gesellschaften

Nicht nur wirtschaftlicher Erfolg, sondern auch die gesellschaftliche und kulturelle Moderne sind ohne hohe Intelligenz unmöglich. Dabei spielen aber auch die Gene eine mitentscheidende Rolle, sagt der Chemnitzer Psychologie-Professor Heiner Rindermann.

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Tichys Einblick: Herr Professor Rindermann, wie kommt es dazu, dass Sie als Psychologe sich mit klassisch wirtschaftswissenschaftlichen Themen beschäftigen, mit Kapitalismus und dem Wohlstand der Nationen?

Heiner Rindermann: Ja, auf den ersten Blick erstaunlich, verbindet man doch mit „Kapitalismus“ den Philosophen Karl Marx und mit dem „Wohlstand der Nationen“ den Ökonomen Adam Smith. Allerdings zeigt die Forschung, dass das psychische Merkmal Intelligenz sehr eng mit dem Wohlstand zusammenhängt, das heißt, intelligentere Gesellschaften sind auch reicher.

Darf ich hier gleich einhaken: Hängt auf internationaler Ebene nicht alles mit allem zusammen? Etwa Intelligenz mit Körpergröße und Breitengrad? Was sagt ein Zusammenhang schon aus?

Ein wichtiger Einwand. Wir brauchen eine Theorie, die Zusammenhänge erklären kann. Und wir brauchen Studien, die Auswirkungen von anderen Faktoren kontrollieren, etwa von Kultur. Schließlich sind Studien notwendig, die Wechselwirkungseffekte trennen können, etwa von Intelligenz auf Wohlstand und von Wohlstand auf Intelligenz.

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Zunächst zur Theorie: Intelligenz und Wissen, beides unter dem Begriff kognitive Fähigkeit zusammengefasst, tragen dazu bei, dass Menschen fehlerärmer arbeiten, anspruchsvollere Aufgaben im Beruf und Alltag bewältigen und neue, technisch und wissenschaftlich an der Spitze der Entwicklung stehende Produkte entwickeln können. Gerade mit diesen lässt sich viel Geld verdienen, weil andere diese Produkte haben möchten, etwa gute Autos und Smartphones oder wirksame medizinische Behandlung. Die Bedeutung kognitiver Faktoren ist aber noch breiter: Intelligenz und Wissen fördern das Funktionieren von Organisationen, von Justiz und Politik, und sie begünstigen Menschenrechte und die wirtschaftliche und politische Freiheit. Die technische, gesellschaftliche und kulturelle Moderne ist ohne hohe Intelligenz und hohes Wissen in der Bevölkerung und in den kognitiven Eliten wie Ingenieuren und Wissenschaftlern nicht denkbar. Je moderner eine Gesellschaft, desto höher sind die Anforderungen an das Denken. Das ist das, was ich unter dem Begriff „kognitiver Kapitalismus“ zu fassen versucht habe.

Den Einfluß anderer Kausalfaktoren, beispielsweise von Kultur, etwa Max Webers Protestantismus, oder von Politik, etwa von Demokratie, kann man in statistischen Analysen kontrollieren, indem man sie als zusätzliche Variablen aufnimmt. Noch besser ist aber, wenn man sie in einem Modell zusammenfügt, so dass man auch Wirkungen von einem Merkmal über andere erkennen kann. Hier zeigt es sich, dass kognitive Fähigkeiten von Bildung gefördert werden, aber auch von bestimmten Formen von Kultur, wie dem Bildung und Leistung betonenden klassischen Protestantismus und dem Konfuzianismus, und von evolutionär- genetischen Faktoren. Kultur wirkt durch Bildung auf Denken und Wissen und Persönlichkeit diese zusammen wiederum auf Wohlstand. Ausführlich habe ich dies in einem Buch mit dem Philosophen Christoph Hubig, „Bildung und Kompetenz“, erörtert. Je technischer und ökonomischer ein Merkmal, etwa Innovation und Bruttoinlandsprodukt, desto wichtiger sind kognitive Fähigkeiten, je politisch-moderner ein Merkmal, wie Menschen- und Frauenrechte, desto wichtiger ist Kultur.

In historischen Analysen konnte ich zusammen mit dem Politologen David Becker auch zeigen, dass Intelligenzanstiegen einige Jahre später Zuwächse in Produktivität und Einkommen folgen. Allerdings ist Wohlstand, die Qualität der Lebensbedingungen, zum Beispiel in Ernährung, medizinischer Versorgung und Anregungen durch die Moderne, für ärmere Bevölkerungen besonders wichtig: Je ärmer ein Land, desto wichtiger für die Förderung kognitiver Fähigkeiten sind Wohlstandszuwächse. Aber je reicher ein Land, desto wichtiger sind, um diesen Wohlstand zu halten und auszubauen, Intelligenz und Wissen.

Warum sprechen Sie in ihrem Buch vom Wohlergehen und nicht vom Wohlstand?

Aus zwei Gründen spreche ich vom Wohlergehen: Zunächst, weil nicht nur ökonomischer Wohlstand, wenn auch wichtig, bedeutsam für das Leben der Menschen ist, sondern auch Freiheit und Frieden, Gesundheit und Sicherheit, zwischenmenschliches Vertrauen und Freiheit, Partizipation und Rechtsstaatlichkeit. Der andere Grund ist, daß die Faktoren, die ökonomischen Wohlstand fördern, auch für die gesundheitlichen, psychischen, soziologischen und politischen Aspekte des Wohlergehens bedeutsam sind.

Es gibt aber viele kluge Leute, die gar nicht reich sind. Und andere, die haben Geld, scheinen aber nicht übermäßig mit Intelligenz gesegnet zu sein, etwa Dieter Bohlen und Donald Trump.

Ja, sicherlich. Zwar sollte man bei Ferndiagnosen immer Vorsicht walten lassen, aber ich denke, man tritt weder Dieter Bohlen noch Donald Trump zu nahe, wenn man in ihnen keine hommes de lettres sieht. Aber beide sind sicherlich nicht dumm. Dieter Bohlen hat Abitur und ein BWL-Studium abgeschlossen. Auch Trump hat Abitur beziehungsweise das amerikanische Pendant dazu und BWL-Ähnliches bis zu einem Abschluss studiert. Aufgrund dessen ist aus der Ferne ein IQ von mindestens 115 anzunehmen. Zudem sind beide als Unternehmer erfolgreich. Das besondere an ihnen ist aber nicht ihre Intelligenz, sondern ihre Persönlichkeit.

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Auch wenn Intelligenz nicht alles ist, so trägt sie, und das zeigen viele Studien und Überblicksarbeiten, zu Lebenserfolg und persönlichem Wohlstand bei. Intelligentere Aktienhändler kaufen zu einem günstigeren Zeitpunkt, intelligentere Personen durchschauen besser Kreditkartenkosten und intelligentere Geschwister werden als Erwachsene reicher als die weniger intelligenten. Dies ist nicht bei jedem so, als Schriftsteller wie etwa Franz Kafka wird man fast nie reich. Zum Millionär werden gehört auch ein Markt, der eine bestimmte Leistung honoriert. Zufälle spielen ebenso eine Rolle. Ähnlich wird auch nicht jeder guter Sportler Olympiasieger.

Sie erwähnten neben Bildung und Kultur auch evolutionär-genetische Faktoren. Was ist konkret darunter zu verstehen?

Zunächst wissen wir aus einer Vielzahl von Untersuchungen auf individueller Ebene, dass Unterschiede zwischen Menschen zu einem Großteil auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. Dies trifft nicht nur auf Intelligenz, sondern auch auf Schulleistungen und etwas geringer auf Persönlichkeit zu. Das, was an uns besonders und über viele Jahre stabil ist, geht vor allem auf unsere Gene zurück. Ein Journalist der Zeit, Dieter E. Zimmer, hat sich vor Jahren in seinem Buch „Ist Intelligenz erblich?“ intensiv damit beschäftigt, jüngst hat der international bekannte Zwillingsforscher Robert Plomin mit „Blueprint“ ein Standardwerk dazu vorgelegt. Auch das, was wir als Umwelt wahrnehmen, etwa elterlicher Wohlstand und Bildung oder Unterricht in der Schule, ist großenteils ein genetischer Effekt, weil Gene erst diese Umwelt hervorrufen oder auswählen und je nach Veranlagung die gleiche Umwelt verschieden wirkt.

Das betrifft aber nur individuelle Unterschiede, nicht internationale.

Ja richtig. Zudem haben wir das Problem, dass die Zwillings- und Adoptionsstudien nur abstrakte Varianzaufklärungen leisten, also wie viel Prozent an den Unterschieden zwischen Menschen auf Gene, familiäre Umwelt oder andere Umwelt zurückführbar sind. Was an Genen oder Umwelt wie auf das Verhalten wirkt, wird so nicht verstanden. Das muss aber letzten Endes das Ziel der Forschung sein: Wie wirkt eine Genvariante auf Aminosäuren, diese auf neurologische Strukturen und Prozesse und diese auf das beobachtbare Verhalten. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Die Erblichkeitsschätzungen lassen sich auch nicht zwingend auf Unterschiede zwischen Ländern und Völkern übertragen – die 80 Prozent Gene für Intelligenz (und Wissen) bei Erwachsenen müssen nicht für die PISA-Ergebnisunterschiede zwischen Finnland und Griechenland oder Japan und Mexiko gelten. Dass genetische Faktoren hier auch eine Rolle spielen, ist basierend auf den Zwillingsstudien nur plausibel.

Viele andere Arbeiten deuten aber auf einen Einfluß genetischer Faktoren: Genetische Marker, die für eine unterschiedliche evolutionäre Abstammung stehen, können unter Kontrolle von Wohlstand, Bildung und Gesundheit kognitive Unterschiede zwischen Völkern statistisch erklären. Genetisch einander ähnlichere Völker sind sich auch in kognitiven Fähigkeiten ähnlicher, dies bei Berücksichtigung von Längen- und Breitengrad und allgemeinen Lebensbedingungen. Dies lässt sich auch gut an den ähnlichen Schul- und Testleistungen von Großbritannien, Neuseeland, Australien und Kanada oder von Chinesen in China, Taiwan, Hongkong, Macau, Singapur, Malaysia, Indonesien, Kanada und den USA erkennen. Diese Stabilität betrifft nicht nur Kognitives, sondern auch wirtschaftlichen Erfolg. Genomweite Assoziationsstudien können 10 Prozent individueller Differenzen auf genetische Marker zurückführen und 20 Prozent der Intelligenzunterschiede zwischen unterschiedlichen evolutionären Gruppen aufklären. Völker mit im Schnitt größeren Gehirnen zeigen bessere Resultate in Schulleistungs- und Intelligenzteststudien, auch wenn man Bildungs- oder Einkommensunterschiede herausrechnet. Auch bei Vögeln, in der Evolution des Menschen und auf individueller Ebene beim Menschen geht ein größeres Gehirn mit mehr Intelligenz einher.

Schließlich zeigen auch die Wirtschaftswissenschaften in den „Genoeconomics“, in denen genetische Marker berücksichtigt werden, und in historischen Langzeitstudien einen Zusammenhang zwischen Herkunft von Populationen und wirtschaftlichem Erfolg.

Ist so etwas nicht hoch umstritten? Für solche Aussagen sind Sie bereits in die Schusslinie gekommen.

Ja, fürwahr. 2007 war es das erste Mal im Anschluss an ein Deutschlandradio-Interview zum Thema internationale Unterschiede in Intelligenz und Wissen zwischen Bevölkerungen, und dann 2015, als ich im Focus versucht habe, die Folgen der Migrationspolitik aufzuzeigen.

Haben Sie da etwas falsch gemacht?

Faktisch falsche Aussagen konnte bisher niemand belegen. Allerdings habe ich im Focus-Artikel das Intelligenzniveau von studierten Asylbewerbern mit „vergleichbar zu einheimischen Realschülern“ zu günstig bewertet. Realschüler in Deutschland liegen ungefähr bei einem IQ von 100. Studierte Asylbewerber unserer Stichprobe mit einem IQ von 93 liegen eher bei einheimischen Hauptschülern und ihrem IQ von 87. Die Chemnitzer Stichprobe war zudem sehr klein. Andere Wissenschaftler mit deutlich größeren Stichproben einschließlich nicht studierter Asylbewerber kommen zu einem IQ im Schnitt von um die 80 bis 90 Punkte.

Wie erklären Sie sich dann die Angriffe?

Die Inhalte des Berichteten verstoßen gegen eine an Universitäten, in Medien und auch Wikipedia dominante Weltsicht des empirischen Universalismus, das heißt, alle Menschen und Menschengruppen seien in ihren wesentlichen Merkmalen gleich. Dies entspringt einer vulgärlinken Weltsicht – vulgärlinks, weil bedeutende linke Denker wie Karl Marx oder James Flynn andere Positionen vertreten, etwa was vorbürgerliche und islamische Gesellschaften oder den Unterschied zwischen Weiß und Schwarz betrifft. Auch die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns, die ein kognitives Fundament in der Piagetschen Theorie des Denkens und der Moral hat, wäre nicht widerspruchsfrei ohne die Annahme historischer Unterschiede in Denkfähigkeiten formulierbar.

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In den USA sind um die 90 Prozent aller Sozialwissenschaftler dem linken Spektrum zuzuordnen, in Deutschland dürften es ähnlich viele sein. Hinzu kommt, dass die Wissenschaft unter einer Deintellektualisierung leidet. Wissenschaftler lesen kaum mehr Bücher, machen stattdessen in Projekte und Geldeinwerbung, in Kommunikation, Emails und WhatsApp-Nachrichten. Der geistige Horizont wird eng und enger, Informationen außerhalb des eigenen fachlichen und politischen Spektrums werden nicht wahrgenommen. Ich kann mich erinnern, als damals in der Professorenschaft mein Focus-Artikel diskutiert wurde, dass die Vergewaltigungsserien durch pakistanische Einwanderer in Rotherham und ähnliche Fälle in Oxford, Newcastle, Telford und Huddersfield und in Skandinavien oder die bürgerkriegsähnlichen migrantischen Unruhen in Frankreich nicht bekannt waren. Jetzt liegen in Deutschland die Toten auf den Straßen, Weihnachtsmärkten, Gleisen, Dachböden und in Flüssen, in Chemnitz nur 600 Meter vom Universitätshauptgebäude entfernt. Auch ein Kollege ist schon ermordet worden, der Psychologe, Flüchtlingshelfer und Schauspieler Musaab Al-Tuwaijari (1987- 2017). Das Ganze wird aber ausschließlich als ein Problem von Neonazis wahrgenommen. Ein Gedenken an die Toten findet nicht statt. Empathie für die Opfer wurde nicht gezeigt.

Es handelt sich aber keinesfalls nur um eine politisch bedingte Verzerrung. Wir haben ein kognitives Elitenproblem in der Wissenschaft. Die meisten verstehen gar nicht die Grundlagen der eigenen Arbeit. Ein Beispiel: Die Mehrheit der Sozialwissenschaftler, um die 90 Prozent, versteht nicht Signifikanztests, obwohl sie diese ständig durchführen. Das ermöglicht dann auch die Erfindung wahnhafter Anschuldigungen, etwa wie von der Afrikanistin Carola Lentz, die die Intelligenzforschung mit Josef Mengele und Konzentrationslagern in Verbindung brachte. Ein politisch ins extrem Linke tendierendes Denken, Unwissenheit, fehlende Fähigkeit zur Selbstreflexion – was weiß ich und was weiß ich nicht – und fehlende Redlichkeit gehen hier eine unheilvolle Allianz ein. Das Phänomen betrifft auch Medien und Politik. Aufschlussreich ist das Interview von Prof. Dr. Armin Nassehi, das er am 31.01.2017 dem Deutschlandfunk gegeben hatte. Abgesehen davon, dass er nach dem 11. September, dem Boston-Marathon, Orlando und so weiter nicht verstehen kann, dass die Amerikaner Mißtrauen gegenüber der muslimischen Welt empfinden, behauptet er, Francis Fukuyama habe die These aufgestellt, dass es geostrategische Räume gebe, die gegeneinander in einem Kulturkampf stünden. Das hat aber nicht Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“), sondern Samuel Huntington („Kampf der Kulturen“) gesagt.

Armin Nassehi gehört zur führenden geistigen Elite Deutschlands, er ist Lehrstuhlinhaber an der erfolgreichsten deutschen Universität, an der auch Max Weber gelehrt hatte, er hat eine Vielzahl von Ehrungen erfahren und sitzt in wichtigen Gremien wie Stiftungsräten. Man stelle sich vor, ein Bäcker verwechsle Weizen- mit Roggenmehl oder ein Ingenieur eine Schraube mit einem Nagel oder ein Physiker die Relativitäts- mit der Quantentheorie. Und der DLF-Journalist Tobias Armbrüster erkennt nicht den Fehler und seit Jahren steht das so im Netz. Niemand erkennt den Unsinn und die betreffenden Personen werden auch noch gefördert und landen in den höchsten geistig-kulturellen Institutionen des Landes wie Carola Lentz als Präsidentin des Goethe-Instituts. Eine Person, die öffentlich ihre Unbildung und Unverständnis dokumentiert hat und die für Hass und Hetze gegen wissenschaftliches Denken steht, wird zur Führung des Goethe-Instituts berufen!

Die Beispiele sind endlos, zwei weitere: Dr. Kai Gniffke (SPD) sagte als Chefredakteur von Tagesschau und Tagesthemen, dass es keine Belege dafür gebe, dass Asylbewerber überproportional an Tötungsdelikten beteiligt seien: „Das ist, soweit wir es recherchieren können, nicht der Fall.“ Wenige Minuten der Recherche oder ein Blick in BKA-Berichte hätten ihn und seinen Stab eines anderen belehren müssen und trotz dieses eklatanten Recherchefehlers, der Hauptaufgabe eines Nachrichtenredakteurs, wurde er zum Intendanten des Südwestrundfunks gewählt.

Schließlich betrifft die Entwicklung zur Deintellektualisierung auch die politische Elite. Bundeskanzlerin Angela Merkel weigert sich, relevante Literatur und Informationen zur Kenntnis zu nehmen, wie der späte Frank Schirrmacher fassungslos zur Kenntnis nehmen musste, schaltet in Deutschland wegen eines Tsunamis in Japan vernunfts- und rechtswidrig Kernkraftwerke ab und hält in Harvard eine Rede mit dem Inhalt: „Es gibt keinen Anfang ohne ein Ende, keinen Tag ohne die Nacht, kein Leben ohne den Tod.“ Wir haben eine Entwicklung in eine Richtung wie in dem dystopischen Film Idiocracy beschrieben.

Am Ende Ihres Buches über den Kognitiven Kapitalismus stellen Sie ein Modell für die Fähigkeits- und Wohlstandsentwicklung im 21. Jahrhundert bis zum Jahr 2100 auf. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Im Jahre 1930 stellte der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946) die mutige These auf, dass in 100 Jahren, also um 2030, der Lebensstandard in den fortschrittlichen Ländern vier- bis achtmal höher als zu seiner Zeit sein werde. Schaut man sich die heutigen Daten an, hat knapp die Hälfte aller Länder seine Vorhersage erfüllt, insbesondere Länder in Ostasien, Südeuropa, Skandinavien und die Türkei. Für eine etwas kürzere Prognose bis 2100 habe ich ein zweifaches, modellgestütztes Verfahren gewählt:

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Zunächst ging ich davon aus, dass kognitives Humankapital entscheidend für die Wohlstandsentwicklung in einer immer mehr auf Innovation und Komplexitätsbeherrschung basierenden Moderne ist. Für die Entwicklung dieses kognitiven Humankapitals als relevante Faktoren berücksichtigte ich: die Annahme weiterer umweltlicher Verbesserungen, asymmetrische Kinderzahlen (gebildete und intelligente Erwachsene haben weniger Kinder) und Migration. Für die Entwicklung des Wohlstands (BIP) wurden herangezogen: vergangenes Wirtschaftswachstum, das sich entwickelnde kognitive Humankapital, demographischer Wandel (Alterung), Vorteile von Rückständigkeit (weniger entwickelte Länder können relativ einfach Innovationen anderer übernehmen), Erschwernisse durch zunehmende Komplexität (je höher das Niveau, desto schwieriger wird Fortschritt), politische Risiken und regionale Umfeldeffekte (positiv etwa für Nordkorea).

Was kognitive Fähigkeiten, also Humankapital, betrifft, holen Entwicklungsländer auf, für Subsahara-Afrika resultiert bis zum Jahr 2100 ein Plus von 12 IQ, er liegt dann bei knapp 75 Punkten. Hohe Zuwächse sind auch für Zentralasien, etwa Indien, für Lateinamerika und den arabisch-muslimischen Raum zu erwarten, Rückgänge aber vor allem für Mitteleuropa, hier auf IQ 92, ein Minus von 7 Punkten. Für den gesamten Westen ist ein Verlust um ca. −3.33 IQ-Punkte bis zum Jahr 2100 zu erwarten.

Wohlstand selbst wird im Schnitt für alle Regionen ansteigen, in Subsaharaafrika wird er sich verdreifachen, die höchsten Zuwächse – basierend auf dem Modell und Daten vergangener Entwicklung – sind für Ostasien erwartbar, eine Versechszehnfachung!

Das hört sich aber sehr gewagt an.

Ja, es ist nur eine Prognose aufgrund der getroffenen und, so hoffe ich, wohlbegründeten Annahmen des Modells und der für die Vergangenheit vorliegenden Daten. Und selbstverständlich muss man sich immer der damit verbundenen Unsicherheit bewusst sein. Wenn man aber einfach nur die vergangene Entwicklung fortschreiben würde, käme man zu noch höheren Zahlen, etwa für China im Jahr 2100 ein BIP pro Kopf von 11 Millionen Dollar pro Jahr, eine Vertausendfünfhundertfachung! Exponentielle Wachstumskurven sind ähnlich wie Zinseszinseffekte für uns kaum fassbar. Auf jeden Fall führen aber selbst kleinste Unterschiede im Wirtschaftswachstum langfristig zu großen Reichtumsunterschieden.

Die skizzierten erreichten BIPs als Absolutwerte sind sicherlich mit hoher Unsicherheit behaftet. Zuverlässiger sind Aussagen im Vergleich. Ostasien wird ungefähr im Jahr 2040 den Westen überholen und am Ende um den Faktor 2 reicher als der Westen sein. Osteuropa dürfte auch den Westen überholen, in etwa um das Jahr 2060 und ist 2100 um ein Drittel reicher. Subsaharaafrika nimmt auch an der Wohlstandsentwicklung teil, bleibt aber relativ am ärmsten. Die Ukraine wird stark aufholen, auch Vietnam und Nordkorea. Hier spielt auch die gegenwärtige Zurückgebliebenheit eine Rolle. Nordkorea hat das gleiche Potential wie Südkorea und China. Die vergleichsweise geringsten Zuwächse sind für die Golfländer und Südafrika erwartbar – Länder, die gegenwärtig relativ zu den als relevant erachteten Kausalbedingungen und Risiken sehr reich sind.

Während es für die meisten anderen Ergebnisse auch ähnliche und bestätigende Resultate anderer Wissenschaftler gibt, oft auch aus anderen Disziplinen, mit anderen Daten und Methoden, fehlen diese hier – einfach deshalb, weil mit Ausnahme allgemein gehaltener Vorstellungen sonst niemand sich mit solch langfristigen Prognosen beschäftigt. Ein Vergleich mit alternativen Modellen wäre aber sehr aufschlussreich.

Zum Schluss, verraten Sie uns, woran Sie zur Zeit arbeiten?

Ich arbeite an einem Buch zur Analyse der innerdeutschen Unterschiede in Bildung und kognitiven Fähigkeiten – warum schneiden etwa bayrische Schüler besser in Schulleistungsstudien ab als Schüler in Nordrhein-Westfalen. Und welche langfristigen Konsequenzen für die Entwicklung der deutschen Bundesländer lassen sich daraus ableiten.

Herr Rindermann, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Lukas Mihr.

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