Tichys Einblick
Wahlen zum EU-Parlament

EU-Wahl: Umbruch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Auf den ersten Blick verweisen die Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament auf nationale Unterschiede und Besonderheiten. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch in allen Ländern zunehmend die Konturen eines politischen Umbruchs mit neuen Lagerbildungen.

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Betrachtet man die teils sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament in den verschiedenen Mitgliedsländern, gewinnt man den Eindruck, dass sich, abgesehen von einer stärkeren Wahlbeteiligung, kein allgemeiner EU-weiter Trend im Wählerverhalten erkennen lässt. So lautete unter anderem das Fazit des Chef-Demoskopen der ARD, Jörg Schönenborn, am späten Wahlabend. Und in der Tat: die höchst verschiedenen Wahlergebnisse in den einzelnen Ländern erscheinen als Spiegelbild der jeweiligen nationalen parteipolitischen Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnisse, was sie zweifellos auch sind. Deswegen können sich in manchen Ländern Parteien aus einzelnen Parteifamilien als Sieger feiern, die in anderen zu den Verlierern zählen, während diese Verlierer an anderer Stelle wieder zu den Gewinnern zählen.

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Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt sich jenseits aller Unterschiede in der deutlichen Herausbildung eines sich verschärfenden Konflikts zwischen zwei gegensätzlichen politischen Strömungen, die sich sowohl in den einzelnen Ländern wie auch im EU-Parlament formieren. Auf der einen Seite wollen die „Transnationalisten“ unter den EU-Parteien die Entwicklung hin zu einer EU als Bundestaat forcieren, indem nicht nur die Finanz- und Sozialpolitik, sondern verstärkt auch die Migrations- und Umweltpolitik vereinheitlicht und zentralisiert wird. So sollen die Ziele einer verstärkten gegenseitigen finanziellen Haftung für Schulden und soziale Risiken, eines verstärkten Zustroms von Migranten aus Drittstaaten und eines Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen EU-weit realisiert werden.

Ihnen gegenüber stehen die „Nationalisten“ unter den europäischen Parteien. Sie lehnen einen finanz- und sozialpolitischen Souveränitätsverlust ihrer Mitgliedsstaaten ebenso ab wie den Souveränitätsverlust in Fragen der Migration und der Umwelt- und Energiepolitik. Sie wollen verhindern, dass ihnen und ihren Ländern über den Umweg der EU politische Ziele verordnet werden, die sie selbst gar nicht verfolgen, teils sogar entschieden ablehnen. Die EU betrachten sie im Kern als eine Wirtschaftsgemeinschaft und nicht als eine politische Union mit zentralistischem Vereinheitlichungs- und Führungsanspruch, gegen den sie sich ausdrücklich verwahren.

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Die Kräfteverhältnisse zwischen diesen beiden Strömungen, innerhalb derer es wiederum mehrere, teils gegensätzliche Unterströmungen gibt, entwickeln sich in den einzelnen EU-Mitgliedsländern, wie die Wahlen zum EU-Parlament zeigen, höchst unterschiedlich. Einem guten bis sehr guten Abschneiden nationaler Kräfte etwa in Italien, Frankreich, Ungarn und Polen steht ein gutes bis sehr gutes Abschneiden transnationaler Kräfte etwa in den Niederlanden, Spanien und Deutschland gegenüber. Das wirkt sich nicht nur auf die in Gang gekommene weitere Formierung der beiden politischen Strömungen in den jeweiligen Ländern, sondern auch im EU-Parlament aus. Dort haben die Parteien der christdemokratischen EVP-Fraktion und der sozialdemokratischen S&D-Fraktion ihre bisherige gemeinsame Vorherrschaft verloren. Sie sind nun bei der Verteilung von EU-Führungspositionen und Verabschiedung von EU-Gesetzen erstmals auf weitere Bündnispartner aus anderen Fraktionen angewiesen.

Da die Vorsitzenden beider Fraktionen eine Zusammenarbeit mit den gestärkten nationalistischen Parteien von vornherein ausgeschlossen und sich ihren Wählern als deren entschiedene Gegner präsentiert haben, zeichnet sich eine Zusammenarbeit mit den ebenfalls gestärkten Fraktionen der Grünen (Grüne/EFA) und der Liberalen (ALDE&R) ab. Dies wird nun allerdings auf das interne Zusammenspiel, möglicherweise auch die zukünftige Zusammensetzung von EVP-Fraktion und S&D-Fraktion nicht ohne Auswirkung bleiben. In beiden Fraktionen gibt es nämlich auch Parteien, die sich, wie etwa die ungarische Fidesz oder die dänischen Sozialdemokraten, mit einer verstärkten transnationalen Ausrichtung ihrer Fraktion schwertun oder diese auch ablehnen werden. Sie müssten von den Versprechen ihren Wählern gegenüber, zum Beispiel in der Migrationspolitik erhebliche Abstriche machen, um eine politische Agenda zu unterstützen, die diese nicht wollen. Ob und wie sie dies tun wollen, muss man erst noch sehen.

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Der Prozess einer Neuformierung der politischen Lager ist somit nicht nur in den jeweiligen Mitgliedsländern der EU, sondern auch im EU-Parlament in Gang gekommen. Die Konturen des damit einhergehenden politischen Umbruchs sind inzwischen zwar schon mehr als nur schemenhaft erkennbar, aber noch keineswegs fertig ausgebildet. In Deutschland übernehmen die Grünen mit tatkräftiger medialer Unterstützung nicht nur die ideologische, sondern zunehmend auch die numerische Leitfunktion des transnationalen Lagers. Ihnen entgegen stellt sich derzeit allein die AfD, während sich nicht nur die SPD, sondern auch die Union insbesondere in ihrer Migrations-, Energie- und Umweltpolitik an die transnationale Agenda der Grünen weitgehend angepasst haben. Allenfalls in der Union regt sich allmählich Widerstand gegen diesen Opportunismus, für den inzwischen nicht nur die SPD von Wahl zu Wahl einen immer höheren Preis zahlt.

Während sich in Deutschland die Konturen eines neuen transnationalen Lagers inzwischen recht gut abbilden, steht ähnliches auf der nationalen Seite (noch) weitgehend aus. Der bundesweite weitere Aufstieg der AfD ist vorerst zum Stillstand gekommen, eine Zusammenarbeit mit nationalen Kräften aus anderen Parteien auf Bundesebene nicht absehbar. Anders liegen diesbezüglich allerdings schon die Verhältnisse im benachbarten Österreich, ganz zu schweigen von Frankreich, Italien, Ungarn, Polen und Großbritannien. Während in diesen Ländern sich teilweise ebenfalls neue transnationale Lager, allerdings nicht unter grüner Führung, mehr oder weniger klar herausgebildet haben, sind dort gleichzeitig nationale Lager entstanden, die in einzelnen Ländern sogar die ideologische und politische Führung übernommen haben. Der politische Umbruch innerhalb der EU vollzieht sich somit uneinheitlich und in unterschiedlicher Geschwindigkeit.

Das ändert aber nichts daran, dass er sich vollzieht und sich in allen Ländern allmählich zwei neue politische Lager herausbilden, die den Kampf um die zukünftige Ausrichtung ihrer Länder und der EU heute und in Zukunft ausfechten werden. Dieser wird mehr denn je nicht nur vom politischen Geschick und Vermögen der beteiligten Parteien und deren Führungspersonal, sondern auch von äußeren Umständen beeinflusst, die diese selbst nur wenig beeinflussen können. Die Gewinner von heute können daher schnell die Verlierer von morgen sein. Nicht nur an den Aktienmärkten sind die Verhältnisse inzwischen höchst volatil geworden.

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