Tichys Einblick
Museumsstück Christdemokraten

Das endgültige Ende der Bonner Republik

Das Narrativ einer grünbewegten Klimajugend, einer Generation „Fridays for Future“, ist nicht die Wahrheit. Bei einem Verhältnis von 45:40 für die Parteien des linken Spektrums erscheinen die jungen Leute verhältnismäßig konservativ. Ein Hinweis, wie Parteien und Medien willentlich oder unwillentlich Projektionen folgen.

IMAGO/Jürgen Ritter

Das Parteiensystem der Bonner Republik verstarb gestern nach langer Krankheit. Deutschland holt in seiner politisch-historischen Entwicklung nach, was in anderen Staaten Westeuropas längst Normalität ist. Während sich hierzulande die Erosion der CDU vollzieht, gilt die Christdemokratie in anderen Ländern längst als Museumsstück. Nachdem die SPD bereits vor Jahren das Exil in den Zwanzig-Prozent-Turm angetreten hatte, folgt ihr die Union nach. Der Wähler hat damit die letzte Volkspartei der Nachkriegszeit zu Grabe getragen. Die Zeit der kleinen Koalitionsboote, die den dominierenden Großparteien als Mehrheitsbeschaffer dienten, ist endgültig vorbei.

Nirgendwo zeigt sich das neue Gesicht der Bundesrepublik klarer als in den Gesprächen über anstehende Koalitionsverhandlungen. Früher suchte sich die „Kanzlerpartei“ in spe ihren Juniorpartner für Sondierungen aus. Diese Souveränität ist passé. Das erste Gespräch – so sickerte es am Wahlabend mehrmals durch – wird zwischen Grünen und FDP stattfinden. Das Schicksal von Armin Laschet und Olaf Scholz hängt nicht von ihnen selbst ab – sondern liegt in den Händen von Annalena Baerbock und Christian Lindner. Ob letztere übereinkommen gibt den Ausschlag – und nicht das Wahlergebnis der verzwergten Riesen.

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Es sind neue Spielregeln, an die sich die arroganten Platzhirsche gewöhnen müssen. Eine „Große Koalition“ ist numerisch möglich – aber heute nicht mehr viel größer als eine klassische schwarz-gelbe oder rot-grüne Koalition der 1990er oder 2000er Jahre. Eine Rückkehr zum alten System bleibt fraglich. Die bereits auf Landesebene praktizierten Dreierkoalitionen sind am Wahlabend bereits als einzige logische Möglichkeit auch auf Bundesebene akzeptiert worden.

Noch vor einem Jahrzehnt galten solche Experimente als problematisch, risikoreich und instabil. Hinter den Kulissen hatten die Abgeordneten aber eine solche Form längst akzeptiert, spätestens seit der letzten Legislaturperiode, in der Grün und Gelb sich immer wieder als Stützen beider Regierungsparteien erwiesen – im Plenum wie auch in den Ausschüssen. Bei wichtigen Abstimmungen taktierten sie im Bundestag, etwa durch Enthaltungen.

Es sind diese subtilen, aber entscheidenden Veränderungen, die am Ende eines Wahltages stehen, den bisher noch niemand so recht zu deuten weiß. Diese Bundestagswahl war in dem Sinne keine Schicksalswahl, weil das eigentliche, dringlichste Thema – nämlich die Corona-Krise samt der Aussetzung von Grundrechten – weder im Wahlkampf noch in der Stimmabgabe eine entscheidende Rolle spielte. Sie war zugleich eine Wahl, die mit Mythen und Narrativen aufräumte. Denn auch der Klimaschutz war nicht das Wahlkampfthema, das den Wählern unter den Nägeln brannte.

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Es ist nur ein Aspekt einer Entzauberung, die besonders den grünen Medienliebling betrifft. Ohne Zweifel hat die Partei einen Wahlsieg angesichts ihrer Stimmengewinne errungen. Doch die gefühlte Stimmung ist eine andere. Sie erinnert frappierend an das Jahr 2005, als die CDU weniger Verluste verbuchte als die SPD und vor ihr lag. Doch in den Medien war die CDU zuvor als klarer Favorit gehandelt worden und Kanzler Gerhard Schröder als „Underdog“. Gefühlt hatte die Union verloren, weil sie mehr hätte erreichen können – nicht zuletzt aufgrund der Darstellung in den Medien. Auf ähnliche Weise wurden die Grünen im Wahlkampf 2021 als „unausweichlich“ dargestellt. Es hat der Partei mehr geschadet als genutzt. Trotz eines Zuwachses von rund sechs Prozentpunkten können sich die Grünen kaum darüber freuen.

Zugleich wird die Farce deutlich, die die „Trielle“ darstellten. FDP wie AfD trennen nur wenige Prozentpunkte von den Grünen, erfuhren aber nicht ansatzweise dieselbe Aufmerksamkeit. Zusätzliche Wahlwerbung im Fernsehen für eine selbsternannte Kanzlerkandidatin – die einem Guido Westerwelle nicht zukam, als die Liberalen ihn 2002 zum Kanzlerkandidaten kürten, aber vom TV-Duell ausgeschlossen wurde. Man kann darüber spekulieren, ob der Unterschied zwischen Grünen und FDP nur drei Prozentpunkte betragen würde, hätte Lindner statt Baerbock am Dreikampf teilgenommen.

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Ein weiteres Narrativ an der grün-gelben Schnittstelle knackte der Wahlabend im Bereich der Jugendkultur. Tatsächlich verbuchen die Grünen 22 Prozent der Erstwählerstimmen – allerdings einen Prozentpunkt weniger als die Liberalen. Das Narrativ einer grünen, klimabewegten Klimajugend, einer Generation „Fridays for Future“, entspricht damit nur bedingt der Wahrheit. Bei einem Verhältnis von 45:40 für die Parteien des linken Spektrums erscheinen die jungen Deutschen sogar verhältnismäßig konservativ. Ein Hinweis darauf, dass Parteien wie Medien willentlich oder unwillentlich Projektionen folgen.

In diesem Sinne ist auch der kolportierte „Linksruck“ der Bundesrepublik einzuordnen. Das Lager rechts der Mitte hat insgesamt an Stimmen verloren; jedoch vor allem im Vergleich zur Bundestagswahl von 2017. Im Jahr 2005 – dem Jahr, als Angela Merkel Kanzlerin wurde – zog die PDS mit 8,7 Prozent (wieder) in den Bundestag ein. Eine rot-rot-grüne Koalition war eine Option. Auch im Jahr 2013 gab es eine linke Mehrheit im Bundestag. 2021 dagegen ist eine solche Koalition unmöglich – und die Linke hat nur knapp den Einzug geschafft. Die Radikalisierung in beiden Lagern ist offensichtlich, doch die Mehrheiten liegen rechts der Mitte. Anders als „R2G“ hätte eine Bahamas-Koalition aus CDU, FDP und AfD zumindest eine theoretische Chance.

Die Post-Merkel-Ära startet damit hoffnungsvoller als im ersten Moment angenommen. Sie bietet Chancen. Dazu gehört eine deutlichere Klärung der Lager nach dem Mehltau, der sich acht Jahre lang auf das Land gelegt hat. Eine Rückkehr der CDU in die Opposition würde dazu führen, dass nicht mehr jede Regierungskritik als antidemokratisches Querulantentum abgetan werden könnte, da die Union als Interessenvertreterin breiter Teile der Gesellschaft integer erscheint; vice versa gilt dies für die SPD. Mit einer größeren Oppositionspartei ist das Parlament als Kontrollgremium deutlich weniger paralysiert als eine zersplitterte Opposition, die in wichtigen Fragen nicht einmal einen Untersuchungsausschuss organisieren kann. Das Jahr 2021 prägte die Ungewissheit über die nächste Regierung, weil die Koalitionsoptionen offen waren. Das Jahr 2025 könnte wieder deutliche Präferenzen bieten.

Grundinformationen
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Zugleich droht ein neues Risiko: das der Unregierbarkeit, sollten sich die drei Partner nicht einigen können. Keine der beiden größeren Parteien will der Junior in einer Wiederauflage der Großen Koalition sein. Eine Exit-Strategie wie 2017 fällt damit weg. Zwar haben Laschet wie Scholz eine zügige Regierungsbildung in Aussicht gestellt, möglichst vor Weihnachten. Doch Grüne wie FDP sind in der Zwickmühle. Lindner könnte seiner Wählerschaft kaum erklären, warum er 2017 Jamaika platzen ließ, aber 2021 zur Ampel bereit ist. Auf der anderen Seite dürfte Baerbock wissen, dass ihre Wählerschaft in der Sozialdemokratie einen natürlichen Partner erkennt.

Eine bloße pragmatische Zusammenarbeit wie im Zuge der schwarz-roten Koalition dürfte bei den verschiedenen politischen Ansichten in Dreierbündnissen deutlich schwieriger werden: Ob Jamaika oder Ampel, jede Regierung bräuchte ein gemeinsames Ziel, um die volle Legislatur im Amt zu bleiben. Sollten sich die Verhandlungen hinziehen, bliebe die Kanzlerin geschäftsführend noch etwas länger im Amt, während der Notstand regiert. In Thüringen, wo am 26. September ein neuer Landtag gewählt werden sollte, sitzt Bodo Ramelow immer noch geschäftsführend im Amt. Auch das ist ein Symbol der neuen Bundesrepublik.

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