Tichys Einblick
Solidarität ist halt nur ein Wort

Deutschlands Ukraine-Politik – keine Linie, keine Orientierung, kein Ziel

Russlands gegenwärtige Macht ist des Westens Ohnmacht. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass Putins Imperialismus gegenwärtig die Regierungen des Westens vorübergehend zusammengeschweißt hat. Reden wir nicht drum herum: Die Ukraine ist verloren und Putin wird die Sanktionen überleben.

Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin, besucht die sogenannte Kontaktlinie in dem Ort Schyrokyne in der Ost-Ukraine, 08.02.2022.

IMAGO / photothek

Rund zwei Milliarden Euro habe die Bundesrepublik Deutschland bislang in die zivile Entwicklung der Ukraine gesteckt, verkündet voller Stolz Christine Lambrecht, Minister für Verteidigung, am Vorabend des erwarteten Überfalls der Putinschen Konföderation auf das mittelosteuropäische Land. Bundeskanzler Olaf Scholz unterstreicht: „Wir sind der größte Geldgeber seit 2014 für bilaterale und wirtschaftliche Hilfe!“ Das solle auch künftig so bleiben.

Die Bundesrepublik pumpt also Unsummen von Geld in dieses Land zwischen Schwarzem Meer und Bug. In ein Land, das seit seiner Unabhängigkeit von Russland ständig auf einem brüchigen Pfad zwischen Demokratie und Oligarchie, zwischen West und Ost, zwischen Marktwirtschaft und Korruption wankt. Und das nun, wenn nicht alle Signale missgedeutet werden, kurz davor steht, in einer blutigen Schlacht erneut zur Kolonie der Moskowiter Zaren zu werden.

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Reden wir nicht drum herum. Die Ukraine ist auch ohne Putins Bedrohung weit entfernt davon, mit westeuropäischen Maßstäben gemessen werden zu können. Der innerukrainische Konflikt zwischen russisch-affinen Bevölkerungsteilen und jenen patriotischen, nach Westen orientierten Ukrainern, die ihren östlichen Nachbarn weder Holodomor noch Krim-Annexion verzeihen können, ist ungelöst. Die osteuropäische Pest der staatlich zumindest geduldeten Korruption hat ihre Tentakel nach wie vor tief auch in die ukrainische Wirtschaft gewoben. Und doch: Die Bürgerproteste nicht nur in Kiew, die zweimal dazu geführt hatten, eine mafiöse, moskau-orientierte Clique von der Macht zu verdrängen, spricht eine klare Sprache. Die Mehrheit des ukrainischen Volkes will weg vom Hegemon an der Moskwa, hin zum trotz aller autokratischen Bestrebungen in Brüssel immer noch als halbwegs freiheitlich zu verstehenden Konsens der Staaten Westeuropas.
Erneuter Verrat an der Ukraine

In einer solchen Situation schien der bundesdeutsche Geldeinsatz segens- und hilfreich. Und doch kaschiert er nur einen erneuten Verrat an den Ukrainern, der gegenwärtig im NATO-Schulterschluss seinen Niederschlag findet. Den ersten Verrat – manch einem Zeitgenossen mag dieser Hinweis aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gefallen – begingen die Deutschen, als ihre Wehrmacht 1941 Stalins Sowjetimperium überfiel und dabei die Ukraine besetzten. Anfänglich von den durch Stalins Terror desillusionierten Ukrainern als Befreier empfangen, sollte sich die Freude darüber, der russischen Knechtschaft entronnen zu sein, schnell in das Leid unter einer entmenschten, tribalistischen Herrschaft germanischer Herrenmenschen verkehren. Genau das, diese deutsche Unfähigkeit, die eine westeuropäische ist, die Ukraine zu verstehen, setzt sich aktuell fort.

Die Europäer westlich der Weichsel – und da gehören die Nachkommen der europäischen Nordamerikamigranten dazu – haben bis heute ein gänzlich ungeklärtes Verhältnis zu jenen Menschen, die an der russischen Westperipherie leben, ein Idiom der russischen Sprachfamilie sprechen und religiös eher bei der Orthodoxie als beim Katholizismus zu verorten sind.

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Für die Schergen Adolf Hitlers waren die Ukrainer Sowjetmenschen. Nicht-arische Slawen, die gleich den Russen bestenfalls als ewig Unterworfene den germanischen Herrenmenschen zu Diensten hätten sein dürfen. So schafften es Wehrmacht und SS im Eiltempo, aus potentiellen Verbündeten gegen die Rote Armee des Schlächters Stalin erbitterte Feinde zu machen. Und lieferten gleichzeitig den besten Beweis dafür, dass Kriege, die aus ideologischen statt aus pragmatischen Gründen geführt werden, jedweder rationalen Basis entbehren und sich so unweigerlich irgendwann gegen die eigenen Interessen kehren.

Dieses unreflektierte, tribalistische Denken prägt auch heute noch den Umgang mit der Ukraine. Für viele, die aus dem Westen des eurasiatischen Wurmfortsatzes nach Osten blicken, sind Ukrainer nichts anderes als fehlgeleitete Russen. Wer so denkt, verneint eine eigene ukrainische Identität und rechtfertigt den Moskauer Imperialismus. Gleichzeitig unterstreicht er sein eigenes, völkerverachtendes Denken, indem er den Ukrainern ihr Recht auf Selbstbestimmung abspricht.

Nicht viel besser aber auch die andere Sicht, aus der sich westeuropäisches Handeln gegenüber der Ukraine speist. Auch dieses Denken, welches sich perfekt in den Aussagen der deutschen Politiker wiederfindet, basiert immer noch auf jenen tribalistischen Wurzeln des nationalen Sozialismus. Auch dieses Denken sieht in den Ukrainern eigentlich immer noch Russen – nur eben solche, welche es zu unterstützen gilt, solange sie ohne eigenes Risiko als Gegenpol zur Moskowiter Mafia als Machtmittel gegen Wladimir Putin instrumentalisiert werden können.

Zwei Milliarden Ablasszahlungen

Um die gefühlte Demokratisierung gegen Putin zu unterstützen, pumpt die Bundesrepublik ihre bislang zwei Milliarden (das ist eine 2 mit neun Nullen und entspricht zwei Fünfteln des Jahreshaushalts des Bundeslands Saarland) in ein Fass ohne Boden. Es sind Ablasszahlungen, gespeist aus dem ständig schlechten Gewissen, die weder etwas mit Demokratisierung noch mit humanitärer Hilfe zu tun haben. Denn sie erfolgen ohne Strategie, ohne ein dadurch zu erreichendes Ziel. Und sie sind genau deshalb doch so absolut symptomatisch für die bundesdeutsche Außenpolitik, die nicht weniger ziellos in Afghanistan und Mali agierte und deren gesamte, sogenannte Entwicklungspolitik lediglich dadurch geprägt ist, Ablass für den gefühlten Wohlstandsfortschritt und angebliche, koloniale Gräueltaten zu erbetteln.

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Überrollt Putin die Ukraine, sind die bereits ausgeschütteten zwei Steuermilliarden für die Katz. Man hätte sie auch in der Nordsee versenken oder auf dem Brocken verbrennen können.

Was jedoch noch schändlicher ist: Wie gegenüber den weißrussischen Oppositionellen, denen vollmundig westeuropäische Solidarität bekundet wurde, obgleich jedem klar war, dass kein einziger westeuropäischer Politiker auch nur den kleinen Finger rühren würde, sollte der Langzeitdiktator nicht von allein ins Stolpern geraten, sind auch die Solidaritätsschwüre Richtung Kiew nichts anderes als wohlfeile Lügen. Schlimmer noch: Sie haben den Ukrainern eine Unterstützung vorgegaukelt, an die niemals ernsthaft zu denken war, weil dem Westen, weil der NATO jede Fähigkeit zur Konsequenz verloren gegangen ist.

Die NATO-Osterweiterung ohne strategisches Ziel

Als dem westlichen Verteidigungsbündnis die Staaten der westrussischen Peripherie nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums gleich reifen Trauben in den Schoß fielen, hat man sie gern genommen – und manch ein NATO-Offizier mag sich längst schon fragen, ob das Baltikum, ob Rumänien und Bulgarien überhaupt den Einsatz einer gegen Russland gerichteten Kriegsmaschinerie wert sind. Der NATO-Osterweiterung fehlte zu jedem Zeitpunkt ein klar definiertes, strategisches Ziel. Wirtschaftlich ist vor allem das Baltikum gänzlich unbedeutend – auch wenn es zur Europäischen Union gehören darf und mit dem Euro bezahlt. Militärstrategisch ist seine Bedeutung lediglich insofern interessant, als dadurch tatsächlich die NATO-Präsenz ein paar Kilometer weiter Richtung Moskau verschoben wurde. Weshalb auch Putin zumindest in dem Fall Recht hat mit seiner russischen Paranoia, wenn er in den westlichen Demokratien keine Partner, sondern Feinde sieht. Was sie für ihn, wenn auch nicht für Russland oder das russische Volk wiederum insofern auch sind, als jene nach Demokratisierung strebenden Volksbewegungen, wie sie in der Ukraine den Putin-Vasallen Janukovic weggefegt haben und wie sie den anderen Putin-Vasallen in Minsk hinweggefegt hätten, hätte Moskau nicht rechtzeitig den Deckel drauf gemacht, die eigentliche und tatsächliche Gefahr für die Herrschaft der Korruptokratie des KGB-Offiziers darstellen.

Das tatsächliche Problem ist Putin – nicht Russland

Apropos Putin: Einmal mehr stellt die Geschichte aktuell unter Beweis, wie sehr Karl Marx mit seinen untauglichen Versuchen, sogenannte Gesetzmäßigkeiten menschlich-gesellschaftlicher Entwicklungen definieren zu können, falsch lag. Geschichte wird von Menschen gemacht – nicht von Gesetzmäßigkeiten. Mit seinem propagandistisch auf Spur gebrachten Volk der Russen scheint er der Wahnvorstellung zu unterliegen, das zerbrochene russische Imperium gleich einem Zar Peter oder einem Stalin zu neuer, alter Größe und Weltgeltung bringen zu müssen. Doch auch das ist nur Camouflage. Unter der Fassade des neuen Zaren dominiert die Angst, durch des Volkes Zorn von der Herrschaft hinweggefegt zu werden und nicht nur ins Bodenlose zu fallen, sondern für die Korruption seiner Herrschaftsmafia zur Rechenschaft gezogen zu werden.

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Der Tisch im Kreml
Der angebliche, militärische Sicherheitsaspekt, wegen dessen öffentlich behaupteter Unverzichtbarkeit Putin kurz davorsteht, einen als Verteidigungskrieg getarnten Eroberungsfeldzug zu starten, ist in seinem eigentlichen Kern das Verlangen, um sein russisches Herrschaftsreich herum einen Gürtel von totalitär beherrschten Staaten zu legen, damit das Virus der Selbstbestimmung des Volkes sich nicht unmittelbar vor den Toren Moskaus festsetzen und von dort in das Reich des neuen Zaren einschleichen kann.

Putin fürchtet nicht die amerikanischen Raketen – er fürchtet die Ideen der westeuropäischen Aufklärung, die er und seine Vorgänger bislang erfolgreich über Jahrhunderte vom eurasischen Riesenreich haben fernhalten können.

Wie der Westen Putin das GO erteilt

Das nicht zu erkennen, offenbart nun wiederum die Unfähigkeit der Politik von EU und NATO, die glaubten, mit halbherzigen Verhandlungen und der faktischen Preisgabe der Ukraine den Zorn des russischen Bären besänftigen zu können. Putin ist nicht interessiert an Verhandlungen. Sein ausschließliches Interesse ist die Sicherheitsgarantie seiner absoluten Herrschaft. Genau die aber kann ihm der Westen nicht geben, will er nicht auf seinen ständig deklarierten Anspruch auf Menschenrecht und Selbstbestimmung verzichten. Deshalb schafft sich Moskau gegenwärtig in der von russischen Rebellen beherrschten Ostukraine mit dem absurden Vorwurf eines angeblich von der Ukraine geplanten Völkermords seinen eigenen Sender Gleiwitz. Der Westen und die NATO schauen wie gebannt zu und haben für Putin letztlich bereits die Signale auf Grün gestellt. Die angedrohten Sanktionen können den KGB-Mann nicht schrecken. Ganz im Gegenteil: Er wird sie instrumentalisieren, um seine indoktrinierten Russen noch näher an sich zu binden.

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Hätte hingegen der Westen tatsächlich die Unabhängigkeit der Ukraine von russischer Hegemonie sicherstellen wollen, dann hatte er zwei entscheidende Fehler niemals begehen dürfen. Die Verlautbarung, die Ukraine werde „auf absehbare Zeit“ nicht in die NATO aufgenommen werden, gab Putin die Sicherheit, bei nicht-militärischen Attacken gegen Kiew keine westlichen Reaktionen befürchten zu müssen. Die fast schon gebetsmühlenmühlenhafte Wiederholung Joe Bidens und Jens Stoltenbergs, keine US- und NATO-Truppen in der Ukraine zum Einsatz zu bringen, sollte Russland seine Invasion beginnen, gab Putin dann zudem die Sicherheit, die frühere Kolonie ohne überregionalen Krieg wieder unter seine Herrschaft bringen zu können.

Putin müsste ein Idiot sein, diese Freigabe durch den einzigen militärischen Gegner, den er gegenwärtig fürchtet, nicht zu nutzen. Die Sanktionen meint er überstehen zu können – vor allem auch dann, wenn bei den anstehenden Kämpfen „unbeabsichtigt“ die Gaspipeline durch die Ukraine erheblichen Schaden nehmen und die Gasversorgung der EU nur mittels Nordstream 2 gewährleistet werden kann.

Putin hatte der NATO gezeigt, wie sie vorgehen muss

Dabei hat Putin selbst vorgemacht, wie in solchen Situationen vorzugehen ist. Als er seine militärischen Ziele in Syrien gefährdet sah, ließ er sich vom wankenden Assad zu militärischer Hilfe rufen. USA und NATO ließen es geschehen, weil sie den großen Krieg nicht riskieren wollten.

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In der von Russland bedrohten Ukraine hätte ein umgekehrtes Szenario ebenso gewirkt. Ein Hilferuf der legitimen Regierung in Kiew an USA und NATO zu Beginn der russischen Truppenkonzentration an den Grenzen hätte zwar einen diplomatischen Aufschrei Moskaus zur Folge gehabt – aber einen Krieg verhindert. Denn Putin hätte es niemals gewagt, NATO und USA direkt anzugreifen. Die Appeasement-Politik aber, die von der üblichen Fehleinschätzung ausgeht, dass das Gegenüber ebenso denkt wie man selbst, war die förmliche Einladung an den Autokraten, nach Belarus nun auch die Ukraine heim in die russische Welt zu führen.

Insofern gilt die Feststellung: Die USA und mit ihr die NATO haben die Ukraine aufgegeben. Selenskyjs Auftritt vor dem Münchner Sicherheitsforum war nichts anderes als ein Placebo – und seine Vorhaltungen gegenüber dem Westen mehr als berechtigt und zudem diplomatisch zurückhaltend.

Wie die NATO ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt hat

Keine Linie, keine Orientierung, kein Ziel – die NATO nebst der militärisch bedeutungslosen EU haben einmal mehr ihren gegenwärtigen Zustand der Unfähigkeit unter Beweis gestellt. Wobei es deutlich mehr ist als nur die eigene Unfähigkeit, weil das westliche Bündnis falsche Hoffnungen schürte und damit potentielle Partner in die Irre und die Selbstvernichtung geführt hat.

Man kann trefflich darüber streiten, ob Länder wie die Ukraine und Weißrussland tatsächlich zum Konzert westlicher Werterepubliken gehören sollen. Man mag sogar darüber streiten, ob die Völker dieser Länder entgegen den allgegenwärtigen Sonntagsreden das Recht haben, selbst und unabhängig darüber zu bestimmen, ob und welchem Bündnis und welcher Regierungsform sie angehören wollen. Doch diesen Streit muss man ehrlich führen.

Ein anderer Blick
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Wenn der Westen die Völker von Staaten wie Weißrussland und Ukraine als Teil der eigenen Wertegemeinschaft empfindet und den dortigen Bevölkerungen das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein, dann ist es mit heuchlerischen Solidaritätsbekundungen nicht getan. Dann hätte im Falle Minsk die dortige Opposition mit allen Mitteln unterstützt und der dortige Diktator gestürzt werden müssen. Vor allem aber hätte dann nicht nur Geld ohne konkrete Zweckmittelbindung nach Kiew überwiesen, sondern gezielt mit Fachexpertise und entsprechendem Personal der schnelle und umfassende Umbau von einer korrupten Postsowjetwirtschaft in ein marktwirtschaftliches, demokratisches System betrieben werden müssen. Und es hätte die Einbindung in die militärische Strategie und Struktur der NATO erfolgen müssen.
Die Ukraine ist längst verloren gegeben

Wenn man aber genau dieses nicht tut; wenn man die Ukraine letztlich verloren gibt, weil man an deren demokratische Zukunft offenbar nicht zu glauben bereit ist oder Angst vor dem Konflikt mit Putin hat, dann soll man auch so ehrlich sein, dieses ohne heuchlerische Scheinsolidarität so zu benennen. Und dieses nicht erst in dem Moment, in dem ein souveränes Land von seinem übermächtigen Nachbarn bedroht wird.

Wenn nun Putin tatsächlich die Ukraine mit fadenscheinigen, herbeigelogenen Begründungen überfallen sollte, dann gehen die Opfer, die dieser Krieg fordern wird, auch und unmittelbar zu Lasten jener Politiker des Westens, die der Ukraine falsche Versprechungen gemacht haben, die sie, vielleicht sogar aus guten Gründen, nicht bereit oder in der Lage waren, einzulösen.

Rezension
„Occupied“ – eine gar nicht so irreale Fiktion aus norwegischer Produktion
Einem Putin begegnet man entweder mit Härte – oder damit, dass man vor ihm kuscht. Die weichgespülte Politik der verbalen Menschen- und Demokratierechtsverteidiger aber erreicht das genaue Gegenteil: Sie ist die Einladung an Moskau, seine Linie der Härte ohne Rücksicht auf Menschenleben und souveräne Selbstbestimmung fortzusetzen. Fällt nun die Ukraine, wozu der Westen Moskau förmlich eingeladen hat, wird als nächstes Finnland auf der Liste stehen. Dann das Baltikum und die Schwarzmeeranrainer. Putin wird immer einen Anlass finden, aus angeblich humanitären Gründen anzugreifen. Vor allem Estland mit seinem hohen Anteil russischstämmiger Bürger könnte der nächste Kandidat auf der Liste angeblicher Völkermörder sein.

Finnland, dem Stoltenberg bereits auch in Richtung Moskau signalisiert hat, dass es als Nicht-NATO-Mitglied keinen Beistandsanspruch hat, ist mangels militärischer Rückendeckung sogar noch eher als nächster postsowjetischer Kolonialanspruch gefährdet. Wie der zahnlose Tiger EU reagieren wird, wenn im EU- und Euro-Mitgliedsland der Finnen und Samen russische Vasallen in Helsinki die Macht übernehmen, wird bei allem Sarkasmus fast schon unterhaltsam zu betrachten sein und könnte an die norwegische TV-Serie von der russischen Besetzung erinnern.

Nein – dieser Konflikt im Herzen Europas trägt nicht nur Putins Schuld in sich – und die des russischen Volkes nur insoweit, als es der Lügenpropaganda des Kremlherrn mangels anderer Informationsmöglichkeiten willenlos Glauben schenkt. Die eigentliche Schuld aber liegt bei der sozialdemokratisch-internationalistischen Kuschelpädagogik der westeuropäischen Staatenlenker, die der Wahnvorstellung unterliegen, Weltpolitik ließe sich in einem Zustand der egomanischen Autokraten durch einvernehmliches, vernunftgesteuertes Entgegenkommen machen.

Die geplatzte Illusion des globalen Weltfriedens

Die Illusion, nach dem Ende des 75-jährigen Krieges der europäischen Imperien von 1914 bis 1989 würde die Menschheit in einen Zustand kollektiver Glückseligkeit fallen, zerplatzt gegenwärtig wie jene berühmte Seifenblase. Weltpolitik spielt heute wie schon immer auf den Grundlagen von Macht und Machtdurchsetzung – nicht auf femininer Kuschelpädagogik und dem heuchlerischen Entgegenkommen bis hin zur Selbstverleugnung.

René Cuperus
Ein niederländisches Plädoyer „für ein vorsichtiges Europa“
Die Erkenntnis des pragmatischen Seins anstelle des illusionären Scheins hätte bedeutet, dass der Westen sein Interesse oder Desinteresse an Mittelosteuropa von vornherein ehrlich hätte definieren und strategisch wie militärisch manifestieren müssen. Halbherzige Solidaritäten aber führen nur dazu, dass sich ganze Völker in einen unnötigen Opfergang begeben. Hätte der Westen der Ukraine von vornherein deutlich gemacht, dass seine Zukunft ausschließlich unter russischer Hegemonie zu finden sein wird, wäre den Ukrainern der nun voraussichtlich anstehende Opfergang erspart geblieben. Hätte er hingegen die Ukraine als Mitglied der eigenen Wertegemeinschaft verstehen wollen, wäre es weder mit fadenscheinigen Solidaritätsbekundungen und schon gar nicht mit 5.000 Schutzhelmen und Milliardenschecks getan gewesen.

Doch es entspricht der Mentalität der zeitgenössischen Politikergeneration, darauf zu vertrauen, dass einem irgendwelche Trauben ohne eigenes Risiko in den Mund fallen – und ohne zu erkennen, dass der gierige Fuchs bereits im Gebüsch lauert.

Russlands gegenwärtige Macht ist des Westens Ohnmacht. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass Putins Imperialismus gegenwärtig die Regierungen des Westens zusammengeschweißt hat. Wie lange diese Gemeinsamkeit hält, werden wir spätestens dann erfahren, wenn ein Ukrainekrieg tatsächlich die Gasversorgung aus den Quellen Sibiriens zum Erliegen bringen wird. Frieren für Kiew wird vielen Westeuropäern nicht minder unerträglich sein wie die Vorstellung, für die Stadt am Dnepr Soldaten zu opfern. Reden wir nicht drum herum: Die Ukraine ist verloren und Putin wird die Sanktionen überleben.

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