Tichys Einblick
Adieu Schuldenbremse

Bundeshaushalt 2022: Jetzt wird das Buffet geplündert

Erst Corona und jetzt der Ukraine-Krieg: Die Regierenden machen der Schuldenbremse den Garaus. Angesichts der in Europa realisierten Schuldenunion verlieren nationale Sparanstrengungen ohnehin ihren Sinn.

Bundeskanzler Olaf Scholz in der Generaldebatte des Deutschen Bundestages, 23.03.2022

IMAGO / photothek

Bundeskanzler Olaf Scholz versuchte in der Generaldebatte zum Hauhaltsplan 2022 den Eindruck eigener Festigkeit und Entschlossenheit zu vermitteln. Unfreiwillig komisch wirkte allerdings in einer Debatte, deren Anlass ein Bundeshaushaltsplan mit enormer Neuverschuldung war, sein Satz: „In der Krise wachsen wir über uns selbst hinaus.“ Der frühere Finanzminister Scholz konnte sich als nunmehriger Bundeskanzler in seiner Rede um die eigentlichen haushälterischen Fragen herumdrücken. Diesen Part hatte bereits sein Amtsnachfolger Christian Lindner am Tag zuvor übernommen.

Das Auffallendste an der gestern mit einer Rede des Bundesfinanzministers begonnenen Haushaltsdebatte im Bundestag war das Ausbleiben von Applaus. Üblicherweise klatschen bei Ministerreden die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen nach ein paar Sätzen immer wieder. Doch Christian Lindner erhielt an einigen entscheidenden Stellen nur Applaus von seiner FDP, nicht aber von den Koalitionspartnern SPD und Grüne. 

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Die rotgrüne Klatschverweigerung war etwa bei seiner Behauptung auffällig, mit dem Verzicht auf Steuererhöhungen sei eine „wichtige rote Linie“ markiert worden, und man solle darüber hinaus „alles vermeiden, das Menschen und Betriebe weiter belasten könnte“. Auch für die Erwähnung der Leitzinserhöhung der US-Notenbank und seine Behauptung, auch in Deutschland könne man nicht darauf bauen, „dass Wachstum durch die Notenbank organisiert“ werde, regte sich bei Rot und Grün keine Hand, nur bei der FDP. 

Das Signal war deutlich: Wenn Lindner meint, er könne einen Kurs fahren, der noch irgendwas mit dem zu tun hat, was man einmal als liberale oder bürgerliche Finanz- und Wirtschaftspolitik verstanden hätte, werden ihm Sozialdemokraten und Grüne in die Parade fahren. 

Wobei dieser erste Ampel-Bundeshaushalt nun wahrlich nicht einmal im Ansatz restriktiv ist. 457,6 Milliarden Euro will der Bund 2022 ausgeben. Formal sind das rund 100 Milliarden weniger als im Corona-Jahr 2021. Aber es sind auch ziemlich genau 100 Milliarden mehr als im letzten Vor-Corona-Jahr 2019. Aber vor allem: Dieser offizielle Haushalt wird noch durch zusätzliche Töpfe ergänzt werden – vor allem um das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr und schließlich um einen in seinem Umfang noch völlig unbestimmten, aber schon angekündigten Ergänzungshaushalt für die Folgewirkungen des Ukraine-Krieges. Es geht also de facto nicht nur um rund 100 Milliarden Euro Neuverschuldung, sondern wohl um weit mehr als 200 Milliarden Euro, wie auch immer die neuen Schulden dann konstruiert sein werden. Allein die Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge wird wohl jährlich einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag umfassen. Merz schätzte in seiner Bundestagsrede den Umfang des Nachtragshaushalts auf rund 50 Milliarden Euro. 

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Man muss sich klarmachen: Aus der Sondersituation der Corona-Krise, die die grundgesetzliche Schuldenbremse außer Kraft setzte, geht der deutsche Staat unmittelbar in eine noch teurere Krise über, die erneut einen Anlass bietet, das Überschreiten der Kreditobergrenze im Bundestag absegnen zu lassen. Lindner sagte zwar, die „Rückkehr zur Normalität ist das haushaltspolitische Ziel der Bundesregierung“. Aber dass er dazu viel tun kann oder will, es zu erreichen, sollte man eher bezweifeln. Bundestagsabgeordnete, die nun wiederholt die grundgesetzliche Regelobergrenze aussetzen, werden auch in Zukunft wenig Hemmungen haben, dies zu tun.

Niemand in der neuen Bundesregierung hat angesichts dieser Lage auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen, den „neuen Herausforderungen“ etwa zur Versorgung der Ukraine-Flüchtlinge, der Wiederaufrüstung der Bundeswehr und der ökonomischen Einbußen in Folge des Krieges dadurch zu begegnen, dass sich der Bundeshaushalt von „alten“ Herausforderungen verabschiedet. Schon vor dem Krieg haben sich Lindners Ministerkollegen vor allem mit exorbitanten Ausgabenwünschen bei ihm bemerkbar gemacht. CDU-Chef Friedrich Merz hat recht: Wenn es Scholz und Linder ernst wäre mit dem Reden von der „Zeitenwende“, dann müssten weite Teile des Koalitionsvertrages neu verhandelt werden. Aber das geschieht nicht. An den im Koalitionsvertrag festgelegten Wünschen zur „Transformation“ Deutschlands hängen schließlich die Überzeugungen und ungezählte Karrieren der politischen Klasse. Die haben im Parteienstaat höchste Priorität.   

Spätestens mit diesem Haushaltsjahr 2022 ist also klar, dass es für die Expansion der Staatsausgaben und damit auch für die Neuverschuldung in Deutschland keine starken Hindernisse mehr gibt. Lindners Forderung nach einer Rückkehr zur Schuldenbremse 2023 und seine Forderung „zurück zu dem Prinzip, dass der Wohlstand erst erwirtschaftet werden muss, bevor er danach verteilt werden kann“, verhallen im Bundestag. Die Schuldenbremse ist politisch längst ad acta gelegt. Aus einer vermeintlichen Ausnahme ist schon jetzt eine neue Normalität geworden.

Lindner selbst hat schon mit seinem Nachtragshaushalt vom Dezember 2021, durch den er aus nicht mehr benötigten Corona-Schulden einfach Klimaschutz-Schulden machte, bewiesen, wie wenig ernst er fiskalische Prinzipien und FDP-Wahlkampf- oder Verhandlungsparolen („Schulden schaffen keine Zukunft“) im Ernstfall nimmt. 

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Die ungebremste Ausgabensteigerung und Neuverschuldung, die Deutschland nun praktiziert, ist im Übrigen auch nur folgerichtig angesichts der europäischen Entwicklung. Da auf europäischer Ebene mittlerweile der Corona-„Wiederaufbaufonds“ und ein jetzt geplanter „Solidaritätsfonds“ für den Wiederaufbau der Ukraine alle Dämme brechen, die einer Vergemeinschaftung der Staatsschulden der EU-Mitgliedsstaaten im Sinne des Maastricht-Vertrages noch im Wege standen, wird eine nationale Sparpolitik immer vergeblicher.

Die EU-Regierungschefs wollen laut Agenturberichten schon bei ihrem am Donnerstag beginnenden Gipfeltreffen diesen Solidaritätsfonds grundsätzlich absegnen. Das Muster ist übrigens ähnlich wie bei der deutschen Schuldenbremse: Eine erste Krise wird zum Anlass, eine Ausnahme von einer einst ehernen Regel einzuführen, und die nächste Krise wird dann in gleicher Weise genutzt. Zwei Ausnahmen hintereinander bedeuten aber nichts anderes als eine neue Normalität. Vermutlich hatte Bundeskanzler Olaf Scholz auch das im Sinne, als er am Mittwoch in der Generaldebatte davon sprach, man werde „einen weiteren Schritt in Richtung europäischer Souveränität“ gehen.

Da Deutschland seinen Widerstand gegen die Schuldenvergemeinschaftung aufgegeben hat, verliert auch auf nationaler Ebene das Sparen seinen Sinn. Denn wenn Schulden der Staaten ohnehin von allen gemeinsam getragen werden müssen, steht am Ende der sparsamste Staat als dümmster Staat da. Also langt man lieber in die Vollen, solange das Geld überhaupt noch etwas wert ist. Wenn ohnehin alle Zecher gemeinsam das Buffet bezahlen sollen, ist es für jeden von ihnen sinnvoll, sich selbst an dessen Plünderung ausgiebig zu beteiligen, um wenigstens nicht mit leerem Magen bezahlen zu müssen. 

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