Tichys Einblick
Inklusionsquote

Die Bertelsmänner machen mal wieder auf Alarmismus

Warnung an die Bundesländer: Wer Bertelsmann folgt, setzt viele Millionen in den Sand.

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Alle Jahre wieder? Im Falle der „Studien“ der Bertelsmann Stiftung kann man das nicht sagen. Denn diese „Stiftung“, die bei gleichzeitiger Gemeinnützigkeit seit 1993 rund 77 Prozent der Aktien der milliardenschweren Bertelsmann SE & Co. KGaA hält, wartet nicht alle Jahre, sondern alle vier Wochen mit einer ach so wichtigen „Untersuchung“ auf. Kritische Leute nennen diese Stiftung deshalb auch längst Deutschlands oberste Statistikgouvernante.

Nun haben die Bertelsmänner wieder mal in Sachen Bildung zugeschlagen, aber die Realitäten erneut um Lichtjahre verfehlt. Es geht um die „Studie“ mit dem Titel „Unterwegs zur inklusiven Schule – Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive“. Aufgewärmt, aber medial leider breitgetreten, wird damit die Vorgänger-„Studie“ des Jahres 2017, über die TE berichtet hatte. Verfasser ist wie fast bei jeder „Bildungsstudie“ Klaus Klemm (76), vormals Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung der Universität Duisburg-Essen.

In der aktuellen „Studie“ tut man in Gütersloh erneut so, als verstoße Deutschland gegen die UN-Konvention. Zum Beispiel schreiben die Bertelsmänner im Vorwort: „Im Blick auf die öffentlichen Kontroversen um das gemeinsame Lernen von Inklusion in der jüngsten Zeit kann sich der Eindruck aufdrängen, dass Deutschland sich schwer tut mit der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems.“ Dementsprechend wird die Inklusions- bzw. Exklusionsquote zum Bertelsmannschen Fetisch. Alarmismus ist angesagt: Die Inklusionsquote, also der Anteil aller Kinder, die noch an Förderschulen lernen, habe von 4,9 Prozent im Jahr 2008 nur auf 4,3 Prozent 2017 abgenommen. Diese Quote wird dann zum „Maßstab“, um gute und böse Länder zu unterscheiden. So würden Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wieder eine höhere Exklusionsquote haben, die Länder Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen aber werden wegen ihrer geringeren Exklusionsquoten gelobt. Bremen wieder mal ein Leuchtturm? Man fasst es nicht. Was man in Gütersloh freilich verschweigt: In diesen vier Ländern wurden – häufig gegen den Willen betroffener Eltern – Förderschulen und Förderzentren zwangsweise geschlossen und damit die Kinder an Regelschulen umgeleitet. Mit solchen Tricks, die allerdings reine Sparmaßnahmen sind, holt man sich dann der Bertelsmänner Lob.

Einmal mehr geht Bertelsmann von völlig falschen Voraussetzungen aus, nämlich von der Annahme, eine UN-Konvention des Jahres 2006 mit dem Titel „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ schreibe die totale Inklusion Behinderter ins Regelschulsystem vor. Das stimmt allerdings nicht.

Im Gegenteil: Artikel 5 (4) der UN-Konvention spricht davon, dass „besondere Maßnahmen … zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen“ nicht als Diskriminierung gelten. In Artikel 7 (2) heißt es: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Trotzdem tun nach wie vor viele, darunter die Bertelsmänner, so, als wäre die Existenz deutscher Förderschulen ein Verstoß gegen die UN-Konvention. Die UN-Konvention verlangt aber keineswegs die Schließung von Förderschulen. Gottlob, denn das deutsche Förderschulwesen ist einmalig im positiven Sinn. Deutschland hat im allgemeinbildenden und im beruflichen Sektor weltweit eines der funktionsfähigsten Systeme der Sonder- und Förderpädagogik. In Deutschland ist dies – anders als in anderen Ländern – selbstverständlicher Bestandteil des Rechts- und Sozialstaates.

Was sagt die Politik über den Wert dieser „Studie“? Wenigstens geht diese Studie der Stuttgarter Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) gegen den Strich. Ihr Haus verwahrt sich dagegen, die „Exklusionsquote“ zum „entscheidenden Indikator für den Erfolg der Inklusion“ zu machen und Bremen mit seinem notorisch schlechten Abschneiden bei Bildungsstudien zu einem „Leuchtturm“ zu erklären. Entscheidend sei nicht die Erfüllung von Quoten, sondern vielmehr, „die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche des Kindes und seiner Eltern mit den Angeboten und Möglichkeiten des Schulsystems in Einklang zu bringen,“ sagt Eisenmann.

Was aber ist die Folge, wenn deutsche Länder den oft genug verquasten bildungspolitischen Zielen der Bertelsmann Stiftung folgen? Niedersachsen kann dafür als drastisches Beispiel stehen. Dort hat man ab 2003 das in Gütersloh ausgeheckte Programm „Eigenverantwortliche Schule“ in die Realität umgesetzt. Und was schreibt der Landesrechnungshof dazu in seinem Bericht des Jahres 2016: „Seit nunmehr zehn Jahren sind die negativen Folgen der Eigenverantwortlichen Schule offenkundig. Entgegen der ursprünglichen Intention der Landesregierung verursachte dieser Paradigmenwechsel bis heute Kosten von 421 Mio. €. Zur Verdeutlichung: Hierfür könnten 5.200 Lehrkräfte ein Jahr lang „vor der Klasse“ stehen.