Auch der konservative Vizekommissionschef Margaritis Schinas hat sich lobend über Katar geäußert. Die Arbeitnehmerrechte seien gestärkt worden, was ja so sein mag – im Vergleich zu vorher, als Gastarbeiter bei der Einreise ihren Pass abgeben mussten, also eine Art von Leibeigenschaft erduldeten. Schinas stellte fest, dass alles, was er von den Kataris erhalten habe ein Fußball und ein paar Pralinen gewesen seien, die er sogleich seinem Fahrer weiter verschenkt haben will. Das wären Petitessen im Vergleich mit den S&D-Freunden um Panzeri und den dort gefundenen Geldbeträgen.
Aber auch Schinas war eingehend mit den Visa-Erleichterungen für Katar und andere Staaten befasst und zeichnet als verantwortlicher Kommissar für die Migrationsabkommen mit anderen Weltregionen, etwa dem Maghreb, verantwortlich. Er hat auf Gutwetterpolitik gesetzt, wo Kritik – auch an mehr Toren für Immigration aus Maghreb und Nahost – angebracht gewesen wäre. Der Maghreb-Staat Marokko, der von einem jüngst aufgelegten EU-Anwerbeprogramm für Arbeitskräfte profitieren könnte, gilt inzwischen laut Ermittlungsakten als zweiter mutmaßlicher Einflussnehmer neben Katar, wie Politico und der Spiegel übereinstimmend berichten. Schinas sagte nun, dass alle seine öffentlichen Äußerungen zu Katar „zu 100 Prozent kompatibel mit der Position der Kommission“ gewesen seien.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen war nicht bereit, Fragen zur Rolle der Kommission und ihres Vize-Präsidenten Schinas zu beantworten. Die Zusammenarbeit mit Katar auf dem Energiesektor soll laut von der Leyen fortgesetzt werden. Demgegenüber sagte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola vor dem Parlament: „Wir werden lieber frieren, als uns kaufen zu lassen.“ Der Widerspruch fiel sogar der New York Times auf.
Ein „Gigant“, der Luxusreisen finanziert
Nun heißt es, das viele Geld – von dem Eva Kaili inzwischen behauptet, es habe gar nicht ihr gehört, während Lebensgefährte Giorgi zugegeben hat, in Machenschaften um Katar und Marokko verwickelt zu sein – sei von einem „Giganten“ gekommen, wie aus einem Auslieferungsersuchen der belgischen Staatsanwaltschaft hervorgehen soll. Dieser „Gigant“ oder einer seiner Mittelsmänner sei der marokkanische Botschafter in Polen, Abderrahim Atmoun. Derweil drohen auch der Frau und Tochter Panzeris hohe Haftstrafen, weil sie sich aktiv an Panzeris „Tricksereien“ („combines“, so dessen Gattin Maria Dolores Colleoni) bereicherten. Mutter und Tochter hätten Geschenke „transportiert“ und Luxusreisen angenommen. Vermutlich wird aber auch das Königreich Marokko, oder wer immer hinter diesem „Giganten“ steckt, sein Geld nicht ohne Sinn und Zweck ausgeben. Dagegen sagte Giorgi dem belgischen Staatsanwalt angeblich: „Ich tat es für Geld, das ich gar nicht brauchte.“ Laut einem der Rechtsanwälte Kailis gründete das Paar erst vor einem Monat eine Real-Estate-Firma, noch ohne Portfolio, mit einem Grundkapital von 1000 Euro.
Jedenfalls hat sich auch die Brüsseler NGO „Fight Impunity“ des italienischen Ex-EU-Abgeordneten Panzeri neben Katar besonders für Marokko interessiert, das eine Verbesserung seiner EU-Beziehungen stets gut gebrauchen kann. Das Land hat etwa auch mit illegalen Migrantenströmen versucht, Eindruck auf Spanien und andere EU-Länder zu hinterlassen, und Erfolg dabei gehabt.
Im ehrenamtlichen Vorstand der NGO saßen Größen wie der ehemalige französische Premierminister Bernard Cazeneuve (PS), die Senatorin und Ex-EU-Kommissarin Emma Bonino oder die Ex-Kommissare Dimitris Avramopoulos und Federica Mogherini. Laut Avramopoulos hatte der Ehrenvorstand nie eine praktische Funktion. Am vergangenen Freitag sei man kollektiv zurückgetreten.
Grüner veröffentlicht „nach dem Skandal“ weitere Treffen mit Katar-Vertretern
Doch auch die europäischen Grünen, die nun fast am lautesten empört aufschrien, sind stärker in den Skandal verstrickt, als ihnen lieb sein dürfte. Zunächst gehörten auch sie zu den Befürwortern einer Visa-Erleichterung für die drei Golfstaaten Kuweit, Katar und Oman. Der verantwortliche Berichterstatter im LIBE-Ausschuss (bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) war der Grüne Erik Marquardt, den man sonst eher aus Migrationsdebatten kennt und der dem Umfeld der Pro-Migrations-NGOs zuzurechnen ist.
Niemand wurde stutzig, als sich auch Marquardt, der sozusagen unter den breiten Flügeln von EU-Kommissarin Ylva Johansson segelt (wenn auch ohne eigenes NGO-Schiff), für erleichterte Einreisen aus einer ganzen Handvoll Drittstaaten einsetzte, darunter auch das weit entfernte Ecuador. Warum auch, entspricht doch diese Haltung einem Mainstream in der EU-Politik, der legale Einwanderung an die Stelle illegaler Zuwanderung setzen will.
Seine sechs Treffen mit Vertretern der Golfstaaten, die Marquardt seit dem 13. Juli absolvierte, trug er nun erst nachträglich in die Liste seiner offiziellen Besprechungen ein – wohl auch, weil seine Fraktionskollegen tags zuvor gefordert hatten, dass künftig alle Besprechungen (auch die mit Drittstaaten) veröffentlichungspflichtig werden sollten. Marquardt entschloss sich daher, diese Forderung „nach dem Skandal freiwillig“ umzusetzen. Das ist schon ein scharfer Ritt auf der Rasierklinge – nach dem Skandal, aber freiwillig. Es klingt doch etwas nach Druck, auch wenn der hier aus Marquardts eigener Fraktion kam. Was der Abgeordnete mit den katarischen, omanischen und kuweitischen Delegationen – darunter der katarische Arbeitsminister, den auch Eva Kaili traf – besprochen hat, bleibt einstweilen sein Geheimnis. Eine diesbezügliche Anfrage von TE ließ er bisher ohne Antwort.
— Qatar Mission to the European Union (@QatarMissionEU) November 9, 2022
Bei Visa-Erleichterungen für die demographisch eher unspektakulären Golfstaaten dürfte es dabei eher um wirtschaftliche Kontakte für die EU gehen. Aber wer weiß, wie schnell auch sie zu Drehscheiben illegaler Migration werden könnten. Das war schon in der Vergangenheit der Fall – etwa als Menschen aus Nahost den Weg über Weißrussland wählten, um in die Schengenzone zu gelangen. Qatar Airways stand bereit – ein Abkommen der EU mit der Fluglinie gerät nun ebenfalls unter Verdacht, wie Politico berichtet.
Roberta Metsola: NGOs benutzt, um der Demokratie zu schaden
Im EU-Parlament versuchte man den Geschehnissen derweil den richtigen Twist zu geben, um möglichst ungeschoren davonzukommen. Die maltesische Parlamentspräsidentin Roberta Metsola vom konservativen Partit Nazzjonalista navigierte zwischen Skylla und Charybdis, als sie in schneidigem Ton sagte: „Es gibt keinen Zweifel: Das Europäische Parlament wird angegriffen. Die europäische Demokratie wird angegriffen. Unsere offenen, freien, demokratischen Gesellschaften werden angegriffen. Die Feinde der Demokratie, für die die Existenz dieses Parlaments selbst eine Bedrohung darstellt, werden vor nichts Halt machen.“
Das war erwartbar genug – natürlich, es sind wieder einmal die bösen Feinde der „europäischen Demokratie“ unterwegs. Das waren bisher Länder wie Russland, Ungarn, Trumps Amerika. Aber wenn die Vermutungen über das Emirat Katar und seine Einflussnahme auf Entscheidungen des EU-Parlaments stimmen, dann waren es diesmal eben nicht Feinde des EU-Parlaments, die sich seiner bedienten, um ihre Interessen voranzutreiben – eher selbstgewählte Verbündete, mit denen auch die EU aus unbekannten Gründen in engere Beziehungen treten wollte. Könnte sich das EU-Parlament so als größter Feind der „europäischen Demokratie“ erweisen?
Aber auch Metsola war noch gar nicht fertig mit ihrer Rede vor dem Straßburger Parlament und hatte noch einiges zu sagen über die Feinde der „offenen Gesellschaft“ EU: „Diese böswilligen Akteure, die mit autoritären Drittländern in Verbindung stehen, haben mutmaßlich Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, einzelne Individuen, Berater und Mitglieder des Europäischen Parlaments und Europaabgeordnete benutzt, um unsere Prozesse zu untergraben.“
Jene sogenannten „Nichtregierungsorganisationen“ oder NGOs, von denen bisher viele mit großzügigen EU-Geldgeschenken unterstützt werden, sollen nun also auch zu den Feinden Europas und seiner offenen Gesellschaften zählen. Die „Feinde der Demokratie“ hätten sich der NGOs zu ihren sinistren Zwecken bedient? Das kann man so ausdrücken, es hinterlässt aber eine Zusatzinformation: NGOs sind nicht immer gut, man müsste sie gelegentlich einmal überprüfen. Aber vielleicht werden sie auch nur dann zu „böswilligen Akteuren“, wenn ihre Tätigkeit zu sehr ins Licht der Öffentlichkeit gelangt.
EU-Organ im Strafmodus: Auch ein Erik Marquardt entdeckt die Strenge für sich
Kurzum: Der EU-Organismus namens „Europäisches Parlament“ ist tief getroffen und reagiert, wie er eben funktioniert: mit der Funktion Strafen. „Sollte sich bewahrheiten, dass Katar politische Entscheidungen durch Korruption beeinflussen wollte, muss das harte Konsequenzen haben. In dieser Situation kann es natürlich keine Visa-Liberalisierung für Katar geben“, schreibt der schon genannte grüne Abgeordnete Erik Marquardt nun auf seiner Seite.
Wo Marquardt noch vor wenigen Tagen froh war, dass es mehr Drittstaatlern möglich sein sollte, ohne Visum in die EU zu kommen, zeigt sich der zuständige Berichterstatter nun von seiner schwierigen Seite. Mehr Skandale im Schoße des EU-Parlaments scheinen die „Liebe“ (vgl. Marquardts Twitter-Symbolbanner) des Grünen zu möglichst ungeregelter Zuwanderung zu vermindern.