Tichys Einblick
Kein Ende in Sicht

Gelbwesten, Akt 17: Die „Große Debatte“ und UN-Ermahnungen

Nach Angaben des Innenministeriums waren in ganz Frankreich an diesem Samstag 28.600 Demonstranten auf der Straße, die niedrigste Zahl seit Beginn der Proteste am 17. November, als es noch 282.000 waren. Aber das Ende ist es nicht.

@ Kai Horstmeier

Keine zehn Minuten hat es gedauert, bis an diesem Samstag beim siebzehnten Akt der Gelbwesten in Lyon die ersten Tränengasgranaten flogen. Und bei diesem Rhythmus sollte es auch bleiben: Etwa alle zehn bis fünfzehn Minute kam es während der Demonstration zu Auseinandersetzungen zwischen einigen Hitzköpfen und den Ordnungskräften, die sich in ungewöhnlich hoher Zahl präsentierten. Unter ihnen viele Beamte der als äußerst brutal geltenden „Brigade Anti-Criminalité“ (BAC), die sonst eher in den Vororten, den Banlieus, der größeren Städte Frankreichs eingesetzt werden.

Als hätte die Polizei von Anfang an zeigen wollen, wer hier „Herr im Hause“ ist. Fast könnte man glauben, es seien mehr Polizisten im Einsatz, als Demonstranten an Ort und Stelle. Die örtliche Presse spricht von rund 500 Gelbwesten. Nach Angaben des Innenministeriums waren in ganz Frankreich an diesem Samstag 28.600 Demonstranten auf der Straße, die niedrigste Zahl seit Beginn der Proteste am 17. November, als es noch 282.000 waren.

Keine Linie
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Die Demonstration war nicht bei der Präfektur angemeldet, es gab keine festgelegte Route für die Kundgebung. Dementsprechend sperrte die Polizei die meisten Brücken über die Rhône und drängte den Demonstrationszug in die südlichen Stadtteile ab. Dorthin, wo die Gelbwesten weitaus weniger Aufmerksamkeit finden als im Stadtzentrum. Bemerkenswert: Seit einigen Wochen mischen sich immer mehr Halbwüchsige aus den Vorstädten unter die Gelbwesten; 14 bis 17-Jährige, die nichts mit den Forderungen der Gelbwesten zu tun haben, und die vor allem auf Ärger und Provokation aus sind. Sie sind jung, sie sind schnell. Wenn sie zuschlagen, werfen sie Steine auf die Ordnungskräfte und stürmen anschließend wie wild davon. Ausbaden müssen das die Gelbwesten, die dann kalt vom Tränengashagel erwischt werden. Die meisten tragen das gelassen und witzeln, dass man sich ja inzwischen an die Schlagstöcke, die Schockgranaten und das Tränengas gewöhnt habe. Für manche geht das allerdings nicht so glimpflich aus: Erstmals gab es an diesem Samstag in Lyon einen Schwerverletzten. Augenzeugen berichten, er sei von einem Tränengasgeschoss mitten ins Gesicht getroffen worden. Der 23-Jährige wurde umgehend in die Notaufnahme gebracht, möglicherweise hat er ein Auge verloren.

Macron: „Komplizen des Schlimmsten“

„Ich meine, dass sich zu Beginn der Bewegung weitaus mehr Leute aus verschiedenen Kreisen bei den Demonstrationen eingefunden haben, das hat stets gewechselt“, hat Thierry beobachtet, der zwar keine gelbe Weste trägt, der sich aber mit den Zielen der Proteste solidarisiert. Das sei seit ein paar Woche anders geworden, man sehe kaum noch neue Gesichter, sondern eher die altbekannten, den „harten Kern“ sozusagen. Aus der Perspektive von Präsident Emmanuel Macron sieht das so aus: Man müsse nunmehr sagen, dass, wer jetzt noch an den gewalttätigen Protesten teilnehme, sich zum „Komplizen des Schlimmsten“ mache.

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Es sei ein Wunder, dass es nach all diesen Samstagen der Gewalt noch keinen Toten bei den Polizeieinsätzen zu beklagen gebe. Für die Gelbwesten ist das eine Provokation. Einmal mehr. In der vergangenen Woche erst forderte die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, die ehemalige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet, Paris zu einer gründlichen Untersuchung der Unfälle bei den Gelbwesten-Demonstrationen auf. Vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf ermutigte sie die französische Regierung, den Dialog fortzusetzen und alle gemeldeten Fälle von übermäßiger Gewaltanwendung „umfassend zu untersuchen“. Außerdem kritisierte Bachelet den „unverhältnismäßigen Einsatz“ sogenannter nicht-tödlicher Waffen bei den Demonstrationen. In Paris zeigte sich Regierungssprecher Benjamin Griveaux erstaunt darüber, dass sich Frankreich nun auf einer Liste zwischen Venezuela und Haiti wiederfinde – dort habe es immerhin Tote gegeben. In Frankreich habe man bereits 162 Untersuchungen in der Frage eingeleitet. Premierminister Edouard Philippe konterte, man habe nicht auf die Vereinten Nationen gewartet, um Licht in die Vorfälle zu bringen. Frankreich sei schließlich ein Rechtsstaat, das müsse man der Hochkommissarin wohl einmal erklären. Und Innenminister Christophe Castaner legte nach, dass Frankreich sich derzeit in der sogenannten nationalen „Großen Debatte“ befinde, und dass die Gewalt bei den Demonstrationen der Gelbwesten darin auch thematisiert werde.
„Staatliche Repression“

Kein Bürgerdialog
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Die landesweite „Große Debatte“ geht indes in die letzte Runde. In der vergangenen Woche hatte eine junge Bio-Landwirtin bei einer Bürgerversammlung in Gréox-les-Bains im Département Alpes-de-Haute-Provence den Umgang der Regierung mit den Gelbwesten – als deren Unterstützerin sie sich zu erkennen gab – kritisiert. Unter dem Beifall vieler im Saal Anwesender sagte sie gegenüber dem Präsidenten, man könne die „staatliche Repression“ nicht ignorieren. Sie beklagte die Tatsache, dass Umweltaktivisten sich in Polizeigewahrsam befänden, weil sie Macrons Porträt zum Symbol dafür gemacht hätten. Er möge den Begriff „Repression“ nicht, das entspreche nicht der Realität, so die Antwort des Präsidenten. Es sei „inakzeptabel“ diesen Begriff zu benutzen. Man solle ihm ein autoritäres Regime nennen, in dem eine „Große Debatte“ wie in Frankreich möglich sei. Seit Wochen hätten Leute die Demonstrationen infiltriert, sie zerstörten, bedrohten und prügelten auf die Ordnungskräfte ein, die doch da seien, um die Menschen zu beschützen. Sie müssten ausreichende Mittel besitzen, um die öffentliche Ordnung wahren zu können.

Am 15. März ist die „Große Debatte“ vorbei, Mitte April sollen die Ergebnisse präsentiert werden. Premierminister Philippe warnte bereits vor zu hohen Erwartungen. Vor Abgeordneten der Regierungspartei „La République En Marche“ (LREM) sagte er, das Risiko Enttäuschungen zu erleben, sei hoch. Man müsse die Bürger darauf vorbereiten, dass es nicht auf alle Fragen Antworten geben werde, die bei der „Großen Debatte“ gestellt worden seien. Die oppositionelle Links-Partei „La France Insoumise“ (LFI) rief gar den „Conseil Supérieur de l’Audiovisuel“ (CSA), die Oberste Regulierungsbehörde für Rundfunk und Fernsehen in Frankreich, an. Der Abgeordnete Eric Coquerel fragte, ob es „normal“ sei, dass in einer modernen Demokratie ein führender Politiker so ausführlich seine Politik auf dem Bildschirm darstellen und rechtfertigen könne. Coquerel sprach von einer „One-Man-Show“ des Präsidenten, es handle sich um eine „Kampagne für die Europawahl“. Selbstverständlich beeinflusse das die öffentliche Meinung.

Umfrage: 61 Prozent nicht zufrieden mit Macron

Macron ratlos
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In einer Umfrage des Instituts „Viavoice“ unter 1.004 Franzosen im Alter von über 18 Jahren meinen 65 Prozent, Macron habe immer noch nichts von der Gelbwesten-Krise verstanden. Eine Mehrheit von 58 Prozent glaubt, die Regierung müsse ihre Wirtschaftspolitik ändern. Mit einem Plus von fünf Punkten beurteilen 28 Prozent der Franzosen den Präsidenten als „positiv“, 61 Prozent sind unzufrieden mit Macron. Immerhin 63 Prozent der Befragten fordern ein Ende der samstäglichen Gelbwesten-Proteste.

Die sind jedoch weit davon entfernt. Für den kommenden Samstag haben sie zu einer Großdemonstration in Paris aufgerufen. Dort wollen sie zeigen, dass die Bewegung trotz sinkender Teilnehmerzahlen längst noch nicht am Ende ist. “On n’est pas fatigués“, „wir sind nicht müde“, skandieren sie auch in Lyon. Hier geht die Demonstration zu Ende, wie sie begonnen hat: im Tränengasnebel. Erstmals seit 17 Wochen hängt selbst über der größten Einkaufsstraße der Stadt eine Tränengaswolke, die Luft ist nicht atembar. Passanten, ältere Menschen und Kinder, versuchen sich in Nebenstraßen zu retten. Gegen 17 Uhr steht einmal mehr der Helikopter der Gendarmerie am Himmel über Lyon. Eineinhalb Stunden später ist der Spuk vorbei. Bis zum nächsten Mal.