Tichys Einblick
Britain first!

Boris Johnson: Das nächste Enfant terrible an der Regierung

Johnson ist die Mensch gewordene Brüskierung der etablierten politischen Klasse Europas. Ein größerer Gegensatz als zu Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ist kaum denkbar.

Jeff J Mitchell/Getty Images

Schon wieder ein Land, das von einem Enfant terrible regiert wird. Und nicht irgendein kleines Land, dem man leichtfertig ein Demokratiedefizit attestieren kann. Sondern das Land, das die parlamentarische Demokratie erfunden hat: Großbritannien.

Sind die Briten verrückt geworden? Der „Spiegel“ scheint dieser Ansicht zu sein. Das Magazin stellte den neuen britischen Premier Boris Johnson bezeichnenderweise auf seinem Titelbild wie Alfred E. Neumann dar, das Maskottchen der Witz-Zeitschrift „Mad“. Und zur scheinbaren Bestätigung, dass es sich um einen Verrückten handelt, lässt Spiegel-TV einen x-beliebigen Engländer aus Johnsons Wahlkreis Uxbridge in die Kamera sagen: „He’s a clown“. Eine weitere Passantin sagt, der „Idiot“ solle als Komödiant auftreten „gemeinsam mit Donald Trump“.

"We're gonna get Brexit done!"
Boris Johnson oder schon wieder ein Land, das nicht wählt, wie Berlin will
Repräsentativ ist das mit Sicherheit nicht – schließlich hat die Mehrheit der Bürger von Uxbridge diesen Johnson gewählt. Sonst säße er nicht als ihr Repräsentant im Unterhaus von Westminster. Müssten nicht eigentlich auch angesprochene Passanten dabei gewesen sein, die Johnson gut finden? Sich gar bekannten, ihn bei der letzten Unterhauswahl gewählt zu haben? Vielleicht möchte man den deutschen Zuschauern auch Hoffnung machen: Seht her, es gibt doch vernünftige Briten, die so denken wie wir vom Spiegel. Repräsentativ ist der Spiegel-TV-Beitrag wohl vielmehr für die Vorstellungen, die die politisch-mediale Klasse in den Redaktionsräumen zwischen Brüsseler Berlaymont und Berlin-Mitte davon hat, wie ein guter demokratischer Regierungspolitiker zu sein habe. Immerhin gegen Ende des Beitrags kommt ein Bürger zu Wort, der ganz neutral darauf hinweist, dass Johnson mehr „Lovers“ als „Haters“ habe.

„Boris“, wie ihn sowohl Lover als auch Hater nennen, ist zweifellos ein zu Faxen neigender Selbstdarsteller. Im Netz findet man auf Anhieb jede Menge alberner Bilder von ihm. Die Karikaturisten dürften nicht viel weniger Freude an ihm haben als an Trump. Aber sein Erfolg – bisher ist er nur von der Basis der Konservativen Partei gewählt – ist eben kein Unfall. Weder Johnson, noch die britischen Konservativen, die ihn an die Macht brachten, sind „mad“. Sie haben ein Interesse. Er verspricht ihnen, was vermutlich auch eine Mehrheit aller Briten will: das eigene Land ins Zentrum des Regierungshandelns zu stellen. Johnson mag ein Spaßmacher sein, aber kaum jemand zweifelt daran, dass es ihm mit einer Sache ernst ist: Großbritannien wird die EU zum Ende des Oktober verlassen, vermutlich ohne Vertrag.

Handeln statt Reden
Matteo Salvini: moralisches Handeln statt unmoralisches Dahergerede
Johnson ist die Mensch gewordene Brüskierung der etablierten politischen Klasse Europas. Ein größerer Gegensatz als zu Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ist kaum denkbar – zumindest diesseits des Atlantiks. Die verkündet schließlich in jeder Sonntagsrede ihr multilateralistisches Glaubensbekenntnis: Deutsches Interesse sei, die Interessen der anderen immer mitzudenken. Johnson denkt nicht an andere, sondern an die eigenen. Er macht keine Antrittsbesuche in Berlin und Paris (sollen die doch zu ihm kommen, wenn sie ihre Meinung über den Austrittsvertrag geändert haben!), sondern tourt durch die britische Provinz. Anders im Stil, aber mit ähnlich großem Ego und ähnlicher Prioritätensetzung wie Donald Trump macht er klar: Britain first!

Johnson ist Indiz einer Veränderung der politischen Kultur – in Großbritannien und im Rest von Europa. Und den etablierten Politikeliten in Berlin gehen allmählich die Gleichgesinnten in anderen Hauptstädten aus. In Washington, aber auch in Rom, in Warschau, in Budapest und nun auch in London regieren Politiker, die zwar keine gemeinsame Agenda verfolgen, aber doch eines teilen: ein Verständnis von Demokratie und der Aufgabe von Politik, das jenes der etablierten Parteipolitiker in der EU, vor allem aber Deutschlands, in Frage stellt.

Um den Riss zu verstehen, der Europa und den Westen (nicht nur die EU) zunehmend trennt und die Verständigungsfähigkeit und auf längere Sicht möglicherweise damit auch den inneren politischen Frieden gefährdet, genügt aber nicht der Blick auf die so genannten Rechtspopulisten von Matteo Salvini bis Viktor Orbán und auf Politikerphänomene wie Donald Trump und Boris Johnson. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass diese Regierungspolitiker der anderen Art rasch wieder verschwinden. Und es wird immer deutlicher, dass ihr Erfolg nicht aus sich selbst zu erklären ist.

Gegen Bindungslosigkeit
Orbán: Die EU will ein Imperium ohne europäische Kultur
Deren Aufstieg ist vielmehr als Gegenreaktion zu deuten auf eine vorausgegangene Uminterpretation der „Demokratie“. Und zwar eine aus den Hochburgen des Establishments kommende. Nämlich weg von einem Demokratiebegriff, der in erster Linie die Gegensätzlichkeit von Interessen und das geregelte Prozedere der Entscheidungsfindung durch Mehrheiten und des Schutzes der unterlegenen Minderheiten bezeichnet. Hin zu einem Verständnis von Demokratie als Sammelbegriff für universelle moralische Werte, zum Beispiel „Weltoffenheit“. Eine so verstandene Demokratie bedeutet dann nicht mehr in erster Linie das Vertreten eigener Interessen bei gleichzeitiger Akzeptanz der anderen, sondern eine „Haltung“.

Eine „demokratische Partei“, das ist dementsprechend in jüngerer Zeit nach einhelliger Lesart der Berliner Mitte nur eine, die diese – ihre – Haltung zeigt und in politische Positionen umsetzt. Demokratisch zu sein, das bedeutet dann nicht mehr unbedingt, die demokratischen Regeln zu akzeptieren, vor allem Mehrheitsentscheidung und Minderheitenschutz. Sondern demokratisch zu sein, das bedeutet in erster Linie für möglichst wenig begrenzte Zuwanderung zu sein, am Nutzen der Währungsunion ebenso wenig zu zweifeln wie an der Notwendigkeit radikaler Klimaschutzmaßnahmen. Und nicht zuletzt: den Nationalstaat für weitgehend überlebt und durch die Europäische Union überwindungsbedürftig zu halten. Wer diese Haltung nicht zeigt, kann demnach nicht mehr den Anspruch haben „demokratisch“ zu sein. Grundsätzlicher Widerspruch im Namen eigener nationaler oder Gruppeninteressen gilt dann als illegitim.

Was haben sie gemeinsam?
Boris and Donald haben eine Botschaft für ihre Bürger
Das Gegenmodell ist Viktor Orbáns Konzept der „illiberalen Demokratie“, das er zwei Tage nach Johnsons Ernennung in einer großen Rede vorstellte. Den „imperialen“ Ambitionen der EU und der Einebnung nationaler Traditionen und Interessen im Dienste einer „liberalen Internationale“ will er seine „christliche Freiheit“ entgegenstellen.

Solch tief wurzelnde, theoretisierende Programmatik ist Johnsons Sache nicht. „Illiberalität“ und politisches Christentum hat er sich auch nicht auf die Fahne geschrieben. Und doch kann Orbán, der eigentliche intellektuelle Widersacher der Etablierten, Johnsons Ernennung als Erfolg verbuchen: In London regiert einer, der seinen Nationalstaat nicht nur erhalten, sondern sogar „zum großartigsten Land der Welt machen“ will.

Und dieses Land ist nicht nur ein großes Land, eine frühere Weltmacht, sondern das Mutterland des Parlamentarismus. Demokratie und Nationalstaat sind, daran erinnert Großbritanniens Weg vom Brexit-Referendum zu Johnsons Regierungsübernahme, kein Widerspruch. Im Gegenteil. Der Nationalstaat, diese erfolgreiche europäische Erfindung, war das einzige politische Gehäuse, in dem sich Souveränität und Volk verbinden konnten.

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