Tichys Einblick
Milliardenstaathilfe für Volkswagen?

Hunderttausende Werker werben mit Brandbrief für Vertrauen

Die Vertreter der Mitarbeiter von Volkswagen zeigen sich geradezu entsetzt vom Unwillen ihrer Führung, sich für die Produkte des Konzerns stark zu machen.

imago

Wer in der Region von Volkswagen zwischen Wolfsburg, Hannover und Braunschweig aufgewachsen ist, der liest jetzt schockiert, welche massive Kritik aus den Werkhallen des Volkswagen-Konzerns nach draußen dringt: Den Mitarbeitervertretern ist gerade mit einem lauten Knall der Kragen geplatzt. Der Angriff geht gegen das Management, das Marketing und letztlich sogar gegen die Arbeitnehmervertretung selbst – denn immerhin hat diese bei Volkswagen eine Co-Management-Funktion eingenommen und ist damit für die geschicke des Unternehmens direkt mitverantwortlich. Die Bild-Zeitung titelte: „Mitarbeiter schämen sich für ihren Arbeitgeber VW – die Abrechnung liest sich wie eine Vernichtung.“

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Aber starten wir ausnahmsweise persönlicher: Als Braunschweiger und Niedersachse trage ich wie die allermeisten Leute in der Region Volkswagen-Gene in mir. Angelegt wurde das schon in der Kindheit, als der Vater seine Aktentasche fünfmal die Woche ins Werk trug. Selbstverständlich fuhr die Familie einen Volkswagen-Jahreswagen, der gehütet wurde wie ein Augapfel, damit er sich nach 12 Monaten verlustfrei verkaufen ließ. Man bekam wieder, was man bezahlte hatte. Der Stolz des Volkswagen-Mitarbeiters drückte sich auch darin aus, Jahr für Jahr in der Fahrzeugklasse und Motorisierung aufzusteigen. Quasi vom Käfer zum Audi 100, denn auch die Ingolstädter gehören ja zum Volkswagen-Konzern. Hochglanz-Prospekte im unnachahmlich puristischen Volkswagen-Design wurden nach dem Abendbrot gewälzt, Farben gemeinsam ausgesucht, „Wir nehmen dieses grün-metallic“, die Polsterung gewählt, die Individualisierung war reichhaltig, sogar der Versicherungsmann kam noch ins Haus und erledigt den Papierkram. Im Volkswagenland lohnte so etwas, die Kollegen wohnten ja Tür an Tür.

Vor wenigen Tagen schrieb ich hier bei TE noch über einen furchtbar verunglückten Volkswagen-Werbespot für den neuen Golf 8. In dem Zusammenhang berichtete ich vom Oberwächter Larry Thompson, der seit Dieselgate für das US-amerikanische Justizministerium mit hundertköpfigem Team bei Volkswagen den Sittenwächter spielt und dafür mit maximalen Kompetenzen ausgestattet wurde. Verschlossene Türen und Schubladen gibt es für die US-Regierung beim deutschen Unternehmen nicht. Zugegebenermaßen nicht ganz ohne Genugtuung schrieb ich auf, dass Thompson auch eine Art Whistleblower-System bei den Mitarbeitern installieren wollte, dass er damit aber auf Granit biss: Die vom Vater auf den Sohn übertragenen Volkswagen-Gene ließen es nicht zu, ein schmutziges Häufchen ins eigene Wohnzimmer zu setzen.

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Daran hat sich allerdings gerade grundlegend etwas geändert: Das Wohnzimmer wird offensichtlich als solches nicht mehr empfunden. Der Volkswagen-Deutsche fühlt sich fremd im eigenen Haus. Öffentlich gemacht hat das eine Gruppe bei Volkswagen, die ansonsten einfach ihre Arbeit macht und ihre Aufgabe erfüllt und von der man in der Regel außerhalb der heiligen Hallen wenig Aufregendes vernimmt: Die Vertrauenskörperleitung der IG Metall. Hier sind alle Vertrauensleute des Betriebes zusammengeschlossen: also das wohl intimste Fenster hinein in das Seelenleben der Mitarbeiter.

Eine Katastrophe, was sich von dort auf den Weg in die Öffentlichkeit gemacht hat schon auch deshalb, weil der interne Leidensdruck hier besonders hoch sein muss, bevor man es für nötig hält, nach außen dringen zu lassen, was Sie hier gleich lesen werden. Der Brief richtet sich an Aufsichtsrat und Vorstand des Unternehmens. Die Vertrauensleute zeigen sich darin „zunehmend massiv besorgt über die vielen vom Vorstand zu verantwortenden negativen Presseberichte über unser Unternehmen Volkswagen.“

Und die Volkswagen-Vertrauensleute nehmen die Schlechtleistung der Angesprochen durchaus persönlich: Die gesamte Belegschaft würde unter dem Verlust des Ansehens des Unternehmens leiden. Dem Vorstand wird nicht weniger vorgeworfen, als mit einem schlechten Bild in der Öffentlichkeit „das über Jahrzehnte gewachsene Kundenvertrauen“ zu zerstören.

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Wer mit Volkswagen aufgewachsen ist, der weiß um die traditionell gelebte Nüchternheit, die sich hier wie ein wohl kühlender Mantel über alles legt, was zu schnell hochkochen will, die sich im überlegtem Design der Produkte und ihrer Präsentation wiederfindet und die sich selbst noch im hochdeutschen Sprachbild der Niedersachsen auf eine Weise eingegraben hat, das man glauben könnte, Volkswagen sei auch der Erfinder des Hochdeutschen. Und mitten hinein in diese Nüchternheit also ein emotionaler Aufschrei:

„Für uns ist das Maß inzwischen unerträglich. Mittlerweile ist ein Zustand erreicht, in dem sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen für ihren Arbeitgeber schämen und ihn teilweise sogar verleugnen.“

Als Begründung dafür wird zunächst das Marketing- und Kommunikationsdesaster rund um die Markteinführung des Golf 8 genannt. Dies sei freilich nur ein Beispiel einer ganzen Kette von Managementfehlern, „die uns viel Geld kosten, unsere Imagewerte weiter nach unten ziehen und die bei den Beschäftigten den Eindruck hinterlassen, dass dem aktuellen Vorstand von Volkswagen die Dinge zunehmen entgleiten.“

Weitere Kommunikationspannen der letzten Wochen und Monate werden aufgezählt. Diese würden nun in Summe Unternehmenswohl und Arbeitsplätze gefährden. Was befürchten die Vertrauensleute am meisten? Sie fürchten um den Kern der Volkswagen-DNA, wonach Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung gleichrangige Unternehmensziele sein.

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Klar, dass ist der Big-Point der Region. Die hohen Verdienste und zusätzlichen Sonderzuwendungen für die Mitarbeiter sind der ganze Stolz der Region. Das geht sogar so weit, dass es das Unternehmen immer geschafft hat, auch sein weltweites Engagement nicht als Gefährdung für die inländischen Mitarbeiter aussehen zu lassen, sondern im Gegenteil als Garant. Alleine das ist schon ein unternehmerisches Meisterstück in der internen Kommunikation, die jetzt offensichtlich in Trümmern liegt.

Die Vertrauensleute verstehen den Golf als sichere Bank des Unternehmens. Auch die sei nun mutwillig von den Verantwortlichen zerschossen worden. Richtig wehmütig erinnern sich die Kollegenvertreter an die Markteinführung des Golf 7 zurück samt umfangreicher Eventkultur mit „Automeilen, Bratwurststände, Hüpfburgen für die Kinder. Man wusste: Es ist die Markteinführung eines neuen Golf – des unangefochtenen Königs in der Kompaktklasse.“

Bei der Markteinführung des Golf 8 gab es all das nicht. Die Vertreter der Mitarbeiter zeigen sich geradezu entsetzt vom Unwillen der Verantwortlichen, sich für die Produkte des Konzerns stark zu machen. Und tatsächlich scheint es so, dass man sich in den oberen Etagen nur noch traut, seine Begeisterung zu zeigen für die Idee irgendwelcher Produkte der Zukunft, für die es kaum mehr als ein paar windschnittige Modelle geschweige denn eine wirklich konkurrenzfähige E-Motorisierung gäbe.

Eine umfassende Vernichtung in allen Details und ein erschütterndes Dokument einer unternehmerischen Schlechtleistung, denn weiter heißt es im O-Ton des Brandbriefes:

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„Aktuell haben wir so gut wie kein Angebot. Die neuen E-Fahrzeuge wurden verschoben, es gilt einen Bestellstopp beim Tiguan, da warten wir ja auf die Produktaufwertung. Wir haben einen Bestellstopp beim e-Golf und das Bestellende für den Golf Sportsvan. Auch die Fahrzeuge mit den bevorstehenden Abgasnormen sind so gut wie nicht vorhanden.“

Noch einmal appellieren die Mitarbeiter an die Verantwortlichen und werben damit, dass sie nach wie vor bereit sind, den Karren aus dem Dreck zu ziehen:

„Dabei steht unsere Belegschaft wie immer bereit! Trotz Dieselgate, trotz Corona! Es hat sich hier in den Werkshallen und Büros nichts daran geändert, dass wir die besten Werkerinnen und Werker, Fachleute, Expertinnen und Experten an Bord haben, die hier die besten Autos der Welt auf den Markt bringen könnten. Wenn nur die Struktur stimmen würde, für die das Management sorgt.“

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Und leider klingt auch das dann bald so, als würde der verstoßene Ehemann beim Davonziehen der Frau seines Herzens noch einmal all seine Vorzüge in einen verdüsterten Himmel schreien. Das ist das Ende der Nüchternheit. Denn natürlich war auch diese Nüchternheit Ergebnis des Welterfolges dieses automobilen Giganten.

Speziell an den Vorsitzenden Dr. Diess stellen die Volkswagen-Vertrauensleute drei Fragen, die einer Anklageschrift gleichen:

♦ Wer von Ihnen trägt hier die Verantwortung dafür, dass wir Technik und Marketing wieder in den Griff bekommen?

♦ Wer übernimmt die Verantwortung für das Produktdesaster unserer aktuellen Modellpalette?

♦ Und wie wollen Sie zukünftig vermeiden, dass hier im Konzern unnötig Geld verbrannt wird, weil hier keine eindeutigen Konzernstrategien erkennbar sind?

Die Werker aus den Hallen benennen zudem schonungslos, was denen da oben ihrer Meinung nach mittlerweile fehlt: technischer Verstand, die nötige Ehrfurcht vor der Aufgabe und die Hingabe zum Automobil. Schlimmer kann Führung kaum abgeurteilt werden, als hier.

Wolfsburg, Salzgitter, Kassel, Hannover, Emden, Braunschweig, Zwickau, Osnabrück, Chemnitz und Dresden – alle Vertreter der Vertrauensleute der deutschen Werke haben unterschrieben, was final gefordert wird:

„Um das abschließend hier noch einmal ganz unmissverständlich zu fordern:
Sehr geehrte Vorstandsmitglieder, sehr geehrter Vorstandsvorsitzender Dr. Diess, Sie tragen die Verantwortung für diese aktuelle Situation, die uns nicht mehr ruhig schlafen lässt.“

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Aber gibt es hier auch noch eine Meta-Ebene? Geht es womöglich darum, den Vorstandsvorsitzenden zu stürzen und nutzt man dafür diese untere Ebene der Mitarbeitervertretung, weil der Gesamtbetriebsrat diesem schon das Vertrauen ausgesprochen hat oder ist die Ursprungsmotivation vielleicht doch eine ganz andere:

Geht es um die Vorbereitung einer Akzeptanz in der Bevölkerung für zukünftige Milliardenhilfen für Volkswagen, weil VW dringend finanzielle Unterstützung vom Staat braucht? Ist damit jetzt der Weg gefunden wurden, zukünftige milliardengroße Unterstützungsfonds für Volkswagen vorzubereiten? Wird hier über den einfachen Werker Solidarität mit den Bürgern da draußen angebahnt? Und ist das Zerwürfnis am Ende gar nicht so groß, taugt es aber, milliardenschwere Hilfen zu rechtfertigen über das Bild des fleißigen Werkers, der doch einfach nur schöne Autos für die Welt bauen will mit allem Knowhow, über das er verfügt und um seiner Familie Wohlstand und Einkommen zu ermöglichen? Oder wie es die Vertrauenskörperleitung des Konzerns so bodenständig in ihrem Brandbrief aufgeschrieben hat: „Wir sind bereit, wie gewohnt alles zu geben, uns krumm zu machen.“


Der Autor war über ein Jahrzehnt in einer Werbeagentur mit Hauptkunden Volkswagen-Konzern tätig, zuletzt als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin der automobilen Oberklasse von Volkswagen

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