Tichys Einblick
Wendepunkt der Beurteilung?

Grenzschließung war 2015 rechtlich möglich

Ist jetzt mit dem Auftauchen brisanter Dokumente die Stunde der Wahrheit für Angela Merkel und die Union gekommen? Für Angela Merkel ganz sicher. Aber spannender wird die Frage sein, wie die Union sich aus der Affäre ziehen kann.

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Erinnern Sie sich noch? Es war Christian Lindner, der im März 2017 als Laudator für Robin Alexanders „Die Getriebenen“ auftrat und der nach Lektüre befand, dieses Buch ersetze „fast“ einen Untersuchungsausschuss, da es Merkels „systematische Täuschung der Öffentlichkeit“ enthülle. Nun braucht es für so einen Untersuchungsausschuss ein Viertel der Stimmen der Abgeordneten. AfD und FDP stellten zwar jeweils einen Antrag, ein Untersuchungsausschuss kam dennoch nicht zustande. Stattdessen rückt Angela Merkels Abschied immer näher und die FDP von Lindner hat ihre Rolle im Parlament nicht gefunden.

Wir können nur ahnen, wie sehr es Lindner mittlerweile bedauern muss, die Jamaika-Gespräche abgebrochen zu haben. Denn gemacht hat er aus dieser als äußerste Konsequenz verkauften Maßnahme nichts: Lag die FDP bei der Bundestagswahl noch fast zwei Prozentpunkte vor den Grünen, liegen diese jetzt mit 22 Prozent der Wählerstimmen unfassbare 14 Prozentpunkte vor der FDP.

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Jedenfalls bis jetzt. Denn Christian Lindner scheint jetzt den Anlass gefunden zu haben, mittels Umkehrschub den erfolgreichen Wahlkampfkurs der FDP wiederzubeleben. Nein, hier ist nicht der Jagdschein gemeint, den er im Juni dieses Jahres absolviert hat, der ihn jetzt öfter anlegen lässt und der ihn zu folgendem kuriosen Satz geführt hat: „Der Moment des stillen Bedauerns ist eher nach dem Schuss. Wenn man das kleine Wesen erlegt im Gras liegen sieht – mit winzigen Hufen und Knopfaugen. Nur wenn man kein Herz hat, ist man da beim ersten Mal nicht gerührt.“ Nein, Lindners Umkehrschub besteht in einer neuen Vehemenz, mit der er fordert, Angela Merkels „Flüchtlingspolitik” nun endlich vor einen Untersuchungsausschuss zu bringen.

Der Zeitpunkt ist kaum besser gewählt, wenn der WELT gerade exklusive Dokumente zugespielt wurden, die, direkt aus dem Innenministerium kommend, belegen, was Journalist Robin Alexander schon stichhaltig in seinem Bestseller „Die Getriebenen“ ausgeführt hatte: Die Überschrift lautet bei Welt „Grenze hätte 2015 geschlossen werden können.“

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Und wohl noch wichtiger, diese Dokumente stellten sogar die Rechtmäßigkeit solcher unpopulärer Maßnahmen fest. Weiter heißt es bei WELT: »Im Herbst 2015 erstellten Spitzenbeamte einen Plan, wie die deutsche Grenze gegen die anhaltende Massenflucht geschützt werden könnte. Dazu wurden mehrere sogenannte Non-Paper erstellt, die niemals veröffentlicht werden sollten. (…) Das inoffizielle Dokument des Innenministeriums trägt den Titel „Möglichkeit einer Zurückweisung von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen“.«

Christian Lindner hat diese Dokumente nun offensichtlich auch zu lesen bekommen und die Chance sofort wahrgenommen, sich (gegenüber der WamS) zu positionieren: „Die Enthüllungen werfen ein grelles Licht auf die Regierungspraxis von Frau Merkel. Für das Land zentrale Fragen werden in abgeschotteten und verdunkelten Runden debattiert. Die Entscheidung, ob unser Land über das geordnete Rechts- und Grenzregime hinaus Flüchtlinge aufnehmen soll, hätte aber öffentlich und parlamentarisch debattiert werden müssen.“

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Für Lindner steht „die Notwendigkeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (fest), damit die gesamten Vorgänge des Jahres 2015 offen gelegt werden.“ Spannende Frage: Wird Angela Merkel so einen Untersuchungsausschuss noch als Kanzlerin erleben oder wird sie dann schon als einfache Angeordnete oder gar als Privatperson vorgeladen werden?

Unterstützung erhält Lindner von Oskar Lafontaine, Der spricht allerdings nicht für die Fraktion der Linkspartei im Bundestag, die sich, wie später auch in Sachen Bamf-Skandal gegen einen Untersuchungsausschuss ausgesprochen hatte, ebenso wie aktuell Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), der erstaunlich zielsicher jede Gelegenheit findet, sich öffentlich zu diversen Themen zu äußern, so auch hier, wenn er anders als Lindner und Lafontaine feststellt: „Ich wüsste nicht, was das bringen sollte. Am Ende ist es eine politische Entscheidung der Bundesregierung gewesen. Es nützt doch niemanden, diese erneut aufzuarbeiten.“

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Interessant an dem der WELT vorliegenden Papier ist außerdem, dass darin das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration, kurz GASIM, in vertraulicher Analyse verschiedene Szenarien für die Grenzschließungen entlang der Balkanroute durchspielte. Interessant deshalb, weil dieses GASIM einmal aus einem bestimmten Anlass gegründet wurde, als das Bundesinnenministerium im November 2004 als Folge der Visa-Affäre ein Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum Schleusungskriminalität von Bundeskriminalamt und Bundespolizei unter Beteiligung der Bundeszollverwaltung (Finanzkontrolle Schwarzarbeit) eingerichtet hatte.

Und die Visa-Affäre, wir erinnern uns, wurde deshalb zur Affäre, weil unter dem damaligen Außenminister Joschka Fischer die Auslandsvertretungen per „Fischer-Erlass“ angewiesen wurden, bei der Verteilung von Visa unbürokratischer zu verfahren. Die Folge: Eine zehntausendfache Erschleichung von Visa zwischen 1999 und 2002. Auf Antrag der CDU/CSU setzte der Deutsche Bundestag deshalb Ende 2004 einen Untersuchungsausschuss ein.

Die Richtigkeit so eines Ausschusses war für die Union damals übrigens überhaupt keine Frage und schon gar kein Anlass für anhaltende Diskussionen. Schließlich ging es hier um die Untersuchung von Entscheidungen einer rot-grünen Bundesregierung, die heute schon beinahe vergessen sind.

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Ist jetzt also mit dem Auftauchen der brisanten Dokumente die Stunde der Wahrheit auch für Angela Merkel und die Union gekommen? Für Angela Merkel ganz sicher. Aber spannender wird die Frage sein, wie sauber die Union sich aus der Affäre ziehen kann. Und wie dringend sie ihre Bundeskanzlerin nun als Opfer braucht, um sich selbst rein zu waschen: ein deutlicher Widerspruch zur Zuwanderungspolitik von Merkel wurde in der Union nie vernommen.

Stattdessen übte man sich gemeinsam mit Vertretern des Koalitionspartners SPD darin, in Talkshows und gegenüber der Presse jede Kritik an der Zuwanderungspolitik der Kanzlerin als rechtspopulistisch, rechtsradikal oder einfach als Nazi zu beschimpfen. Diese scheinheiligen Manöver dürften jetzt jedenfalls ein für alle Mal beendet sein.