Tichys Einblick
Ende Mai eine Million Fälle?

Zur Anne-Will-Frage „Wie berechtigt ist die Angst vor dem Coronavirus?“

Das Leben ist kein Wunschkonzert, davon konnte gleich zu Beginn der Sendung der Tenor Michael Volle, der in einem Außenbezirk Berlins lebt, ein Lied singen. Der arme Mann war an der Mailänder Scala mit einem Corona-Befallenen in Kontakt gekommen und wollte nun sicher gehen, dass weder er noch seine Familie infiziert sind, obwohl er keinerlei Symptome aufwies.

Screenprint: ARD/Anne Will

Das Berliner Gesundheitsamt verordnete Quarantäne und gab die Anweisung sich testen zu lassen. Hierfür gibt es in der ganzen Stadt allerdings nur eine Stelle, die Charité. Dort warteten bereits „an die 1.000 Leute, sich testen zu lassen“. Auf die Frage wie schnell er an der Reihe sein könnte, erfuhr Volle, dass pro Stunde etwa sechs bis acht Tests vorgenommen würden – und er entschied sich, ungetestet in seine häusliche Quarantäne zurück zu kehren. Det is Ballin!

In Berlin-Neukölln praktiziert die Allgemeinärztin Sibylle Katzenstein und müsste dem Coronavirus ohne Maske und Schutzkleidung entgegentreten (is aus!), wenn ihre Tochter nicht die famose Idee gehabt hätte, die Patienten können sich doch auch selber testen und den Abstrich von einem Gesunden in die Praxis bringen lassen.

Karl-Josef Laumann ist als Superminister mit den Bereichen Arbeit, Gesundheit und Soziales eigentlich für alles im Homeland NRW zuständig, was dort wichtig ist – ein Job, den der CDU-Laumann mit der Unaufgeregtheit erledigt, die dem Westfalen von Haus aus eigen ist. Auch er empfiehlt, nicht gleich „inne Praxis zu rennen“, sondern er fordert auf: „Telefoniert mit dem System!“ (?) Damit meint er, man möge im Bedarfsfall die Hotline frequentieren. „En bissken inne Waateschleife is nich so schlimm.“

Italien: 16 Millionen Bürger isoliert
Coronavirus: „Rote Zone“ um „orange Zone“ erweitert
Die tiefsinnige Anne-Will-Frage „Wie berechtigt ist die Angst vor dem Coronavirus?“ kann am besten Susanne Herold, Professorin für Infektionserkrankungen der Lunge, beantworten. Sie weiß es nicht so genau, was hier kein versteckter Vorwurf sein soll, sondern einfach den Fakten geschuldet ist. Was die Professorin weiß: Bei der Influenza 2017/2018 hatten wir 25.000 Tote (was die Medien damals nicht mitbekommen haben), „jetzt ist die Mortalität etwas größer“. Diese Mortalität ist das Hauptproblem. In Wuhan liegt sei bei 5,8 % der Infizierten, im Rest Chinas nur 0,7% Warum? „Wir wissen es nicht.“ In Südkorea, dem am zweithäufigsten betroffenen Land bei 0,6%, in Italien hingegen bei 3%.

Der TV-Journalist Ranga Yogeshwar rechnet vor laufender Kamera die mögliche Verbreitungsgeschwindigkeit durch: Wenn sich die Infiziertenzahl pro Woche verdoppele, hätten wir Ende Mai 1.000.000 Fälle, die Tests reichten nicht und die Klinikplätze auch nicht. Also müsse die Zeit gestreckt werden, und Großveranstaltungen abgesagt.

Hier ist die richtige Stelle um die Twitter-Botschaft von Jens Spahn einzublenden:
„Nach zahlreichen Gesprächen mit Verantwortlichen ermuntere ich ausdrücklich, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern bis auf Weiteres abzusagen“, was ihm auf Twitter in Anspielung auf Saddam Husseins legendären Propagandaminister Comical Ali schnell den Spitznamen Comical Jens einbrachte, im Hinblick auf die Reaktionen in Italien, wo das halbe Land still steht.

Pandemieplänen zum Trotz: planloses Berlin
Coronavirus legt Versagen bei Krisenmanagement offen
Übrigens findet der Interessierte auf Twitter klarere Informationen als bei unserer Anne Will, die halt immer die falschen Fragen stellt. Beispielsweise beim fleißigen Twitterer (und „Welt“-Kolumnisten) Don Alphonso, den wir nun ungefragt zitieren:

„Die neuen Zahlen in Italien bleiben leider schlimm: 7.375 Erkrankte insgesamt (+1.492 seit gestern) 622 gelten als geheilt (+33) 366 Tote (+133) Also passt auf, fahrt Kontakte herunter und rechnet mit der Dummheit von Leuten, die das nur für eine Grippe halten. Es ist gefährlich.“

Ebenda, für unsere jüngeren Leser vielleicht beruhigend:
„Traurig, aber wichtig: – Durchschnittsalter der Toten in IT: 81 – 3/4 männlich #maleprivilege – 14,1% der Toten waren Ü90 – 42,2% 80-90 – 32,4% 70-80 – 8,4% 60-70 – 2,8% 40-60 – Durchschnittsalter der Infizierten: 60“
Und: „2/3 der Toten hatten mindestens eine Vorerkrankung. Leider handelt es sich dabei aber um im Alter weit verbreitete Probleme wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Diabetes. Für Deutschland wichtig: In Italien sind 24% der Bevölkerung über 65, in Deutschland 18%.“

Coronavirus - Die Welt zwischen Hoffen und Bangen
Eltern beruhigte unsere Professorin Herold mit der Feststellung, dass Kinder eine Infektion problemlos überstehen, nicht mal Symptome zeigten, weil sie nämlich vier Coronaviren in sich trügen, wenn wir es richtig verstanden haben. Nicht jeder Corona ist also schlecht.

„Früher hatten wir Tamiflu“, erinnerte Minister Laumann, aber derzeit wäre kein Mittel auf dem Markt. Und Schutzmasken und Schutzanzüge nicht mal für Ärzte (der dusselige Heiko Maas hatte gerade erst 8 Tonnen davon nach China verschenkt). Es müssten deutsche (oder europäische) Firmen in die Lage versetzt werden, hier Abhilfe zu schaffen – da klatschte das Publikum, obwohl diese protektionistische Einstellung der Merkeldoktrin vom alleinseligmachenden Multilateralismus stark widerspricht.

Kein Grund zur Panik?
Coronavirus: Die Angst der Regierenden vor der Angst der Regierten
Alle waren sich einig, dass es eine gute Idee sei, Großveranstaltungen zunächst abzusagen, jetzt sogar auch der SPD-nahe Marcel Fratzscher vom Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der sich vor Tagen allerdings mal wieder zu früh aus dem Fenster gelehnt und die Vertagung der Tourismusmesse in Berlin kritisiert hatte. (Da passt das Wikipedia-Zitat, Fratzscher veröffentliche mitunter „technisch krude und vorschnelle Studien, die genaueren Untersuchungen nicht standhalten“.)

Während wir noch überlegten, wie Spahn und schließlich viele andere auf die magische Zahl 1.000 bei Veranstaltungen kamen, die abgesagt werden sollten, und nicht etwa auf 999 oder 709 (Zahl der Abgeordneten des Bundestages), entsponnen sich bei den Talkgästen Lösungen wie Fußballspiele zu streamen statt zu besuchen, und Hausärztin Katzenstein forderte generell mehr Digitalisierung und beklagte außerdem, „unsere Gesellschaft ist zu individualistisch“ (da klatschte das trotz Virus für Anne Will gecastete Berliner Individualisten-Publikum).

Das bringt uns schnell zum Schluss, bei dem wir einen Trost aus dem Internet zitieren wollen: Wir haben Rinderwahn (1992), die Nostradamus-Prophezeiung zum Weltenende (1999), den Millenium-Computer-Bug (2000), SARS (2002), Vogelgrippe (2005), Schweinegrippe (2009) und Ebola (2014) auch überlebt.


Lesen Sie Stephan Paetow auch auf
https://www.spaet-nachrichten.de/