Tichys Einblick
Neue Auflagenzahlen

Das Zeitungssterben nimmt weiter an Fahrt auf

Die Zeitungen haben im vergangenen Jahr im Schnitt über fünf Prozent an Auflage verloren. Bei den Zeitschriften waren es sogar fast neun Prozent. Der Leser verabschiedet sich in der Medienlandschaft als Souverän.

MAGO / Michael Gstettenbauer
Aus welcher Perspektive berichtet mein Medium? Hört sich nach einer schwierigen Frage an, ließ sich aber an diesem Donnerstag anhand eines einfachen Tests feststellen: Hat das Medium es als positive Meldung gefeiert, dass der Staat so hohe Steuern wie noch nie eingenommen hat? Oder hat das Medium darauf hingewiesen, dass die Bürger in Zeiten von Rekordpreisen für Lebensmittel und Strom auch noch so viele Steuern wie noch nie zahlen mussten? Im ersten Fall berichtet das Medium aus Perspektive der Regierung, im zweiten Fall berichtet es aus der Perspektive seiner Leser, Hörer oder Zuschauer.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Medien, die aus Perspektive der Leser, Hörer und Zuschauer berichten, sind die Ausnahme geworden. Die praktische Nähe zwischen Journalisten und Mächtigen hat dazu geführt, dass es immer öfters auch zu einer inhaltlichen Nähe kommt. Bei den Lesern, Hörern und Zuschauern hat das wiederum zu einer Entfremdung geführt. Diese zeigt sich vor allem im Zeitungssterben. Das kündigte sich schon zum Milleniumswechsel an, wie unter anderem der Publizistik-Professor Hans Mathias Kepplinger festgestellt hat. Durch das Aufkommen des Internets hat sich dieser Trend dann aber entsprechend beschleunigt.

Bis etwa vor zehn Jahren haben die Zeitungen im Schnitt zwei Prozent ihrer Auflage pro Jahr verloren. Mittlerweile hat sich dieser Trend beschleunigt. In den letzten Jahren waren es um die 5 Prozent im Schnitt. So wie jetzt wieder vom zweiten Quartal 2021 zum zweiten Quartal 2022. Die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) erhebt diese Zahlen. Unter anderem haben sich der IVW 339 lokale Tageszeitungen angeschlossen.

Die lokalen Tageszeitungen hatten im zweiten Quartal 2021 noch eine verkaufte Auflage von zusammen 15,4 Millionen Exemplaren. Diese ist zurückgegangen auf 14,6 Millionen Exemplare. Das entspricht einem Rückgang von 5,3 Prozent über ein Jahr gesehen. Allein vom ersten zum zweiten Quartal in diesem Jahr ist die gemeinsame Auflage um fast 200.000 Exemplare zurückgegangen. Die E-Paper sind in diesen Zahlen mitgerechnet. Ihre Verbreitung steigt zwar tendenziell, aber dieses Plus kann das Minus bei der gedruckten Zeitung nicht ausgleichen.

Zeitungssterben
Zeitungen verlieren an Lesern und an Bedeutung – vor allem bei Jüngeren
Noch deutlicher fallen die Werte der Zeitschriften aus. 1444 Zeitschriften sind bei der IVW gemeldet. Ihre verkaufte Auflage ist binnen eines Jahres von 66,5 Millionen auf 61,1 Millionen gesunken. Das entspricht einem Rückgang von 8,9 Prozent. Anders als die Zeitungen können sie ihre Bilanz auch nicht mehr mit Bordexemplaren schönen, da sie mit fast 500.000 Exemplaren bereits ein hohes Niveau erreicht haben.

Was bedeutet diese Tendenz für den Leser? Unmittelbar einen Qualitätsverlust: Die Finanzierungsmodelle der Zeitungen sind schwer beschädigt. Nicht nur die Einnahmen aus dem Verkauf schrumpfen. Auch große Teile des Anzeigenmarktes sind ins Netz abgewandert. Wobei der Verlust der Kleinanzeigen für die Verleger noch schmerzhafter ist als der Rückgang bei den Geschäftsanzeigen. Viele Zeitungen haben daher Personal abgebaut, während die Aufgaben zugenommen haben. Wer für die Lokalzeitung übers Rathaus schreibt, muss heute zum Beispiel oft genug gleich den Film fürs Internet mitdrehen.

Auch die Bezahlung hat sich verschlechtert. Viele Verleger zahlen nicht mehr nach Tarif. In den gleichen Redaktionen sitzen ältere Mitarbeiter mit Verträgen jenseits der 5000 Euro, während Einsteiger kaum noch 3000 Euro erhalten. Wer als Arzt oder Physiker schreiben kann und will, für den ist der Gang zur Zeitung ein finanzieller Abstieg. Sodass im Zeitungsbereich fast nur noch Geisteswissenschaftler zu Hause sind – oft genug mit mehr Sendungsbewusstsein als Sendungsvermögen.

"Passende" Medien
Bill Gates verschenkt Geld an zahlreiche Medien – auch an den „Spiegel“
Neben der Qualität verliert der Leser aber mittelbar seine Rolle: die als Souverän der „Vierten Gewalt“. Zum einen übernehmen Stiftungen diese Rolle. So steht der Spiegel auf der Empfängerliste der Bill and Melinda Gates Foundation. Dadurch entstehen schwer durchschaubare Interessenkonflikte: Als Wohltäter setzt sich der Stifter Gates weltweit für Impfungen ein, als Milliardär und Aktienbesitzer profitiert er, wenn Pfizer Impfdosen verkauft, selbst wenn sie später weggeschmissen werden. Über wen will der Spiegel berichten? Über den Wohltäter oder den Profiteur?

Das „Sturmgeschütz der Demokratie“ betont, dass Gates’ Geld nicht die Berichterstattung über Gates beeinflusse. Jüngst klagte der Spiegel den Einfluss an, den Milliardäre auf demokratische Entscheidungen nehmen. Auf dem Titelblatt fehlte Gates, den versteckte der Spiegel in den Tiefen des Fließtextes. Jetzt konnte der Spiegel einen Auflagenzuwachs von 56.000 Exemplaren innerhalb eines Jahres feiern. Den verdanken die Hamburger vor allem vergünstigten Digital-Abos. Die kann man mit Gates’ Geld im Rücken leichter anbieten. Wer will dann noch sagen, wer wann welchen Hut aufhat? Sicher ist nur, dass es nicht der Hut des Lesers ist.

Auch der Staat greift immer häufiger und unverschämter in den Journalismus ein, der laut Verfassung eigentlich nicht staatlich sein darf. Über die Internet-Plattform „Funk“ fließen bereits Rundfunkgebühren an private Medienmacher. Doch die Politik scheint sowohl Scham als auch die Geduld zu verlieren. So unterstützt die Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen das Bonn Institute. Das setzt sich wiederum für „konstruktiven Journalismus“ ein. Der Journalist soll dabei keine Probleme aufzeigen, sondern Lösungen. Letztlich gibt der Staat also Geld dafür aus, dass sich Journalisten nicht mehr auf Probleme konzentrieren. Wie viel die Staatskanzlei gibt, ist nicht bekannt. Wie viel der Steuerzahler aufbringen muss, ist die Perspektive des Lesers, Hörers und Zuschauers. Im Mittelpunkt steht aber künftig die Perspektive des Staates und dessen Vertreter wollen lesen, dass sie als Wohltäter aufgetreten sind – und nicht, was das den Steuerzahler kostet.