Tichys Einblick
"Falsche Ausgewogenheit"

Die Erzählkrise der Talkshows ist auch die Erzählkrise der Demokratie

In den großen Shows von ARD und ZDF sitzen immer die Gleichen. Und nicht nur das: Sie sagen auch immer das Gleiche. Diese Tendenz hat sich im Pandemiejahr nur noch verschärft. Da war sie schon lange vorher.

Hoch Zwei/Corbis via Getty Images

Immer weniger Menschen kaufen Tageszeitungen, noch weniger lesen sie. Die ARD beschneidet ihre eigenen politischen Magazine. Und Bundestagsdebatten sind eine Sache der verschwindend geringen Minderheit von Bürgern, die Phoenix schauen. Das Format, in dem heute Politik gemacht wird, ist die Talkshow. Entsprechend hat sie einen großen Anteil an der Krise der demokratischen Kultur.

„Schränke und Betten aus dem Fenster zu werfen, ist verboten. Besonders aus dem ersten Stockwerk.“ Dieser Satz fand sich 1995 in der Hausordnung einer Berliner Jugendherberge. Als Paragraf eins. Der Schluss liegt nahe, dass die Jugendherberge eben jene unerfreulichen Erfahrungen gemacht hat. Sonst wäre wohl kaum einer auf die Idee gekommen, seine Hausordnung mit dieser Regel beginnen zu lassen.

Nachdem der frisch gekürte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Minister seiner Partei vorgestellt hat, meldete sich der Fraktionsvorsitzende der SPD zu Wort, Rolf Mützenich: Er betonte die Bedeutung, die der parlamentarische Betrieb für Gesetzesinitiativen habe. „Die sollten nicht in Talkshows entwickelt werden, sondern mit den Fraktionen, mit der Kompetenz in der Regierung. Darauf werde ich auch achten“, versprach Mützenich. Ähnlich wie in der Berliner Jugendherberge dürften es Erfahrungen gewesen sein, die den Fraktionsboss veranlasst haben, auf diese Regel zu bestehen.

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Es braucht nicht viel Gehirnschmalz, um dahinterzukommen, was Mützenich zu seiner Aussage motiviert hat: Mit der Pandemie hat sich der Bundestag oft genug selbst entmächtigt. Das Übrige dazu getan hat eine Regierungschefin, die bis zuletzt nur zu deutlich erkennen ließ, dass sie von Parlamenten wenig und von der Durchsetzung ihrer eigenen Ideen umso mehr hält. Zwar lässt sie sich beraten. Doch nur von Menschen, die ihr das empfehlen, wovon sie eh schon überzeugt war. Zu den Beratern, auf die sie in der Pandemie gehört habe, gehöre auch Karl Lauterbach, ließ Merkel das Parlament wissen. Der Welt-Journalist Robin Alexander hat präzise – und unwidersprochen – beschrieben, wie die Kanzlerin auf Meinungen und Stimmungen hörte, um ihren Regierungskurs festzulegen. Da lag der Schritt nahe, den Talkshow-König schlechthin ins eigene Treiben einzubinden.

Lauterbach erreichte 2021 absurde Werte, wenn es darum ging, in Talkshows präsent zu sein. Schon seine Zahlen allein wären ausreichend, um dem Format Ödnis zu attestieren, wo Vielfalt gefragt wäre. Doch noch spannender in der Auswertung des Fachportals Meedia.de ist der starke Rückgang an unterschiedlichen Personen, die in die großen Shows von ARD und ZDF eingeladen wurden. Um es zu vereinfachen: In den Shows sitzen immer die Gleichen.

Dazu ließe sich ergänzen: Sie sagen auch immer das Gleiche. Diese Tendenz hat sich im Pandemiejahr nur noch verschärft. Geben tut es sie schon seit Jahren, wie die Studie „Die Talkshow-Gesellschaft“ gezeigt hat, die Paulina Fröhlich und Johannes Hillje für das linksliberale „Progressive Zentrum“ durchgeführt haben. Demnach waren in den vergangenen Jahren 42,6 Prozent der Gäste parteipolitisch gebunden; 22,9 Prozent waren Journalisten.

Wobei die Redaktionen bevorzugt Grüne einladen: Bis zum Herbst stellten sie die kleinste Fraktion – im Bundestag. In den Talkshows waren sie 2021 aber häufiger präsent, als die Vertreter von FDP und Linken zusammen. Auch luden die Redaktionen die Grünen achtmal häufiger ein als Vertreter der AfD. Zudem gibt es laut Studie eine weitere Schieflage: 70 Prozent der Politiker agieren auf Bundesebene, 20 Prozent auf Landesebene und 7,3 Prozent auf europäischer Ebene. Gerade mal 2,4 Prozent sind demnach Kommunalpolitiker.

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Das Sein bestimmt das Bewusstsein, wusste Karl Marx. Die Talkshows füllen diese These mit Leben: Bundes- und Landespolitiker beschäftigen sich mit Gesetzen und Verordnungen. Im besten Fall haben sie diese gelesen – oder wenigstens ihre Zusammenfassung. Oft genug dürften Teilnehmer in Talkshows diese aber nur aus Schlagzeilen oder Kommentaren von Kollegen gekannt haben. Der Kommunalpolitiker weiß, wie die Umsetzung der Gesetze und Verordnungen aussieht. So kommt er erst gar nicht auf die Idee, eine Testpflicht für die Fahrt mit dem Bus zu fordern, wenn der Weg zum Testzentrum nur mit dem Bus möglich ist. Und schon gar nicht würde er in einer Pandemie noch zusätzlich fordern, Autofahren unattraktiver zu machen. Zumindest wenn er für eine ländliche Gemeinde arbeitet – und kein Grüner ist.

Doch genau das sind die Talkshows: urban und grün. Hauptstadtbewohner laden Hauptstadtbewohner ein, um über Themen aus einer Hauptstadtperspektive zu reden. Es ist kein Zufall, dass grüne Vertreter in den Shows so überpräsentiert sind. Widmen sich diese der ländlichen Perspektive, dann tun sie das im besten Fall mit der Attitüde eines geheuchelten und überheblichen Verständnisses – meistens aber mit klar erkennbarem Unverständnis, wenn nicht sogar offener Ablehnung.

Dieser Vorwurf ist nicht neu. Und ARD und ZDF reagieren darauf. Nicht etwa, indem sie sich um mehr Ausgewogenheit bemühten. Sondern indem sie der Ausgewogenheit den Kampf ansagen. Um dieses Vorhaben nicht zu deutlich werden zu lassen, beschreiben sie es mit einem englischen Begriff: Es gehe darum, die „False Balance“ zu bekämpfen. Ausgewogenheit sei schlecht, so die These, weil dann auch Meinungen zu Wort kämen, die falsch seien.

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Noch vornehm zurückhaltend agiert Ferdinand Meyen in einem Kommentar für den BR, den er mit „Warum False Balancing in Talkshows nicht nur schlecht ist“ überschreibt. Das gibt sich immerhin liberal und an Ausgeglichenheit interessiert. Doch die Überschrift suggeriert, dass „falsche Ausgewogenheit“ in der Regel schlecht sei – und Ausgewogenheit nur in begründeten Ausnahmefällen erlaubt werden dürfe. So raffiniert der Text formuliert ist, so wenig will sein Autor etwas anderes.

Um diese Raffinesse und Zurückhaltung bemüht sich Jan Böhmermann erst gar nicht. Der ZDF-„Aktivist“ wollte in einer Talkrunde falsche Meinungen komplett ausschließen. Wer bestimmen solle, was falsche Meinungen sind, sagte er nicht ausdrücklich. Am Ende würde er vermutlich dazu gehören. Sodass dann ein Mann mit einem abgebrochenem Studium in Soziologie, Geschichte sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften darüber bestimmen würde, welcher Virologe „Die Wissenschaft“ vertritt und welcher „Die Querdenker“.

In diese Ecke stellte Böhmermann auch Hendrik Streeck – nur wenige Tage nachdem die Kanzlerin selbst eingeräumt hatte, dass es ihr größter Fehler in der Pandemie gewesen sei, nicht auf Streeck und andere gehört zu haben. Nämlich als diese im Herbst 2020 gefordert hatten, dass Alten- und Pflegeheime gezielter geschützt werden müssten. Diese Quasi-Entschuldigung äußerte Merkel mit einem Jahr Verspätung. Wobei sie immer noch progressiver war als „Aktivisten“ wie Böhmermann, in deren Welt es das Wort „falsch“ nur gibt, wenn es um andere Meinungen geht – nicht aber um die eigene. Das gilt gerade in der Welt der Talkshow. Dort zählt der Moment und in dem wiederum zählt es, smarter zu wirken, als der auf dem Stuhl nebenan. Wenn es smart geklungen hat, aber sich danach als falsch erwiesen hat, wird in der nächsten Talkshow einfach das Gegenteil behauptet.

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Dennoch hat sich in den Shows der Ton der Unfehlbarkeit durchgesetzt. Und die Herabwürdigung der anderen Meinung – so weit, dass sie als „False Balance“ überhaupt nicht mehr vorkommen soll. Viele mögen diese Tendenz mit der Pandemie verbinden – doch sie war schon vorher da. Bevor andere Meinungen als die Äußerungen von „Corona-Leugnern“ oder „Covidioten“ abgetan wurden, war „Klimaleugner“, wer das E-Auto nicht für die Mobilität der Zukunft hält, oder Nazi, Rechtsextremer und Rechtsradikaler, wer es nicht für eine gute Idee hielt, Menschen ohne Ausweis leichter ins Land einreisen zu lassen als Menschen mit Ausweisen.

Talkshows verstärken diese gesellschaftliche Konfrontation. In Talkshows werden keine Gespräche geführt, geschweige denn Kompromisse gesucht. In Talkshows werden bekannte Positionen konfrontativ gegenübergestellt – in einer vorher feststehenden Inszenierung. Wenn ARD und ZDF nun der „falschen Ausgewogenheit“ den Kampf ansagen, lässt das für den gesellschaftlichen Frieden nichts Gutes erwarten. Der Schritt von der verbalen Abwertung zur tätlichen Abwertung ist zwar ein gewaltiger – aber ist er erst einmal getan, ist dieser Schritt kaum noch umkehrbar.

Es bleibt Rolf Mützenich zu wünschen, dass er sich durchsetzt – und dass Gesetze wieder im Parlament entwickelt werden. Doch seine Chancen stehen schlecht. Viel wahrscheinlicher ist da, dass aus den Fenstern der Berliner Jugendherbergen keine Schränke mehr geworfen werden.