Tichys Einblick
„Eigenverantwortung durchführen“!?

Bei Anne Will: Angst und Gruseln statt „Fehlalarm“-Analyse

Bei Diplomjournalistin Anne Will kein Wort zum Scoop des Tages, obwohl sich nicht einmal der „Spiegel“ zu fein dafür war, über das bei TE veröffentlichte Corona-Papier zu berichten, in dem ein Mitarbeiter des Innenministeriums der Regierung „Fehlalarm“ vorwirft.

Screenprint: ARD/Anne Will

Dabei geht es doch nur noch darum in diesen Tagen: Waren die Verbote und Verordnungen übertrieben? Ist Corona die neue Pest oder eine ohne Aktionismus und mit Sicherheitsvorkehrungen wie Mundschutz und Desinfektionsmittel beherrschbare Krankheit? Und ist der Totalzusammenbruch der Wirtschaft mit katastrophalen Folgen Merkels vom Ende her gedachtes Meisterstückchen? Ein Referent des Innenministeriums hat mit hochkarätigen Mitarbeitern eine 80-seitige Expertise verfasst, die dem Ministerium und der Regierung ein vernichtendes Zeugnis ausstellt. Deshalb sollte das Papier unter den Teppich fallen, der Referent wurde mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Mit Maske und Maulkorb. Es war die Redaktion von Tichys Einblick, die am Sonntag die Thesen der „Corona Papers“ veröffentlichte – genug Zeit für die Anne-Will-Truppe, sich kundig zu machen.

Zeit zum Lesen
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Stattdessen blieb Anne Will ihrer staatstragenden Sendung treu. Die Polit-Talkshows im ÖR der letzten Wochen hatten Titel wie „Deutschland macht auf – mutig oder riskant?“, oder „Riskanter Neustart – wer trägt die Verantwortung?“. Oder „Sorge vor zweiter Infektionswelle – lockert Deutschland die Corona-Maßnahmen zu forsch“? Dann „Die Politik macht auf – die Unsicherheit bleibt“. Ach, dachte sich die Anne-Will-Redaktion, seien wir mal innovativ, machen wir was ganz Anderes: „Deutschland macht sich locker – ist das Corona-Risiko beherrschbar?“

Dazu hielt sich die Diplomjournalistin Will an die goldene Karl-Valentin-TV-Regel, die schon festgeschrieben wurde, als es noch gar kein TV gab: Es wurde alles gesagt, nur noch nicht von allen.

Zum Beispiel wurde noch nichts gesagt von Frau Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und von Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie, der gleich katholische und evangelische Theologie studiert hat und folgerichtig mal Vorsitzender des Ethikrates war, mehr geht fast gar nicht (außer vielleicht noch ein bisschen Islam dazu). Frau Priesemann ist Physikerin und setzt auf die App, über die wir schon so oft geschrieben haben wie über den Berliner Flughafen BER. Vielleicht geht beides gleichzeitig an den Start. Ansonsten ist die strenge Frau mit forscher Burschenfrisur für Fortsetzung der Merkel-Maßnahmen. Der Theologe wägt wortreich hin und her, ihn ängstigt die frisch geschätzte R-Zahl des RKI, aber er muss natürlich auch auf Eigenverantwortung setzen. Was er unter „Eigenverantwortung durchführen“ versteht, übersteigt unseren Horizont, ebenso was er mit „krudem Gebräu“ meinte, das viele Menschen erreiche. Jedenfalls will er da offensiv reingehen.

Risiko gehört zum Leben
Sperrt das Land auf!
Als gewiefter Prediger wusste er auch die eine oder andere Anekdote als Auflockerung zu setzen, etwa die von dem Spieler des 1. FC Köln, der engen Kontakt zu zwei Infizierten hatte. Klarer Fall von Kontaktgruppe Eins. Dabei hat der eine herzkranke Partnerin zuhause. Jedenfalls, lange Rede, kurzer Sinn, Bundesliga geht gar nicht, die Testkapazitäten für die Spieler fehlen doch für die Allgemeinheit. Und Anne Will erwähnt extra, dass der Theologe eine Dauerkarte beim BVB habe.

Moment, sagte da Wolfgang Kubicki, der auch mal wieder da war. Es werden nur 50% der Testkapazitäten in Deutschland genutzt, da nimmt die Liga nichts weg, aber da hatte der Professor seine Solidarität auch als Fußballfan mit dem einfachen Inifizierten auf der Straße bereits wortreich bekundet.

Übrigens, Kinder, die ihr nolens volens im Homeschooling seid, und das hier lest: Hier ein Bonmot vom Professor für den Ethikunterricht, das mit Sicherheit Extra-Punkte gibt. Also notieren wir „Soziokulturelles Existenzminimum“. Der Professor! Mit allen Wassern. Großartig. Heißt übrigens nicht Dauerkarten beim BVB oder FCB für alle, aber wenigstens Corona-Tests für alle, jederzeit und for free. Das soziokulturelle Existenzminimum gefiel vor allem Malu Dreyer, die wir auch wieder einmal ganz herzlich begrüßen konnten. Und wo wir gleich die Frage anschließen müssen: Warum bekommt die SPD partout keine Pest-Punkte beim Wähler? Läppische 15%. Trotz Olaf, Heiko, Saskia, Hubertus und Norbert.

Vielleicht hat Malu Dreyer deshalb keine richtige Lust mehr auf Corona-Maßnahmen. Außerdem ist in Rheinland-Pfalz die Welt in Ordnung, Hygiene, Abstand, Eigenverantwortungs-Durchführung zack zack, alles piccobello.

Auf der Straße geht der Protest samstags weiter
Im Grunde fühlten wir uns nur durch Ute Teichert bereichert. Die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V., sagte zwar das, was sie schon oft gesagt hat, nämlich, dass Gesundheitsämter personell besser ausgestattet gehören und Pflegepersonal besser bezahlt werden müsse, aber das sind wenigstens harte Fakten. Anders als die Schätzzahlen vom RKI.

Plötzlich hat Anne Will ihr Herz für die Altenheime entdeckt. Malu Dreyer erzählte von ihrer Mutter, die wenigstens in einen großen Park gehen könne, der zum Altenheim gehöre (die Genossen sorgen für ihre Alten, bravo!). Ein Filmeinspieler zeigte dann Heime für Alte, die es nicht so gut haben. Ohne Park, ohne Besuche, dafür mit Depressionen. (Eine Statistik am Rande, um die Verhältnisse ins Lot zu bringen: Inzwischen zählt das RKI 7.549 Corona-Tote, durchnittlich haben wir pro Jahr 9.000 Suizidfälle.)

Kubicki berichtete dann von der Schwiegermutter, vergaß wenigstens nicht zu erwähnen, dass die Schutzmaßnahmen in den Heimen acht Wochen zu spät kämen und blieb trotzdem bei seiner Lockerungsforderung. „Wenn in Rosenheim ein Altenheim betroffen ist, muss man doch nicht die Kirchen in Ostfriesland dicht machen.“

Aber das wollten unsere Angst & Grusel-Freunde Priesemann und Dabrock nicht gelten lassen. Deswegen waren sie ja auch eingeladen. Gute Nacht.

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