Tichys Einblick
Geschichte des Sozialismus – Teil 1 von 3

Der Sozialismus: Eine Jahrtausende alte Geschichte verschiedener Anstriche

Zahllose revolutionäre Bewegungen, die sich als verschiedene Spielarten des Sozialismus entpuppen, prägen die Gegenwart, und die Mär, frühere Anläufe wären „kein echter Sozialismus” gewesen, ist quicklebendig. Eine dreiteilige TE-Serie will die Geschichte des Sozialismus beleuchten.

Darstellung der Insel "Utopia" aus der Ausgabe des gleichnamigen Werks von Thomas More aus 1518

Screenshot via Wikipedia / Creative Commons Lizenz
In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Bewegungen, Aktivistengruppen und Projekte entstanden, die alle versuchen, die Gesellschaft auf die eine oder andere Weise neu zu gestalten. Wo Viele nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ende der Geschichte verorteten, entstand stattdessen der wilde Westen konkurrierender Ideen, die versuchen, die Nachfolge der ideologischen Vorherrschaft über eine westliche Welt zu erlangen, die den Bezug zu ihren historischen Wurzeln verloren hat.

Klimaalarmisten, Gender-Ideologen, postkoloniale Critical-Whiteness-Experten und viele andere Propheten einer neuen Ära schossen wie Pilze aus dem Boden. Einige von ihnen wollten den Anschein erwecken, es handele sich um Graswurzelbewegungen, doch meist stellte sich heraus, dass sie von einigen der reichsten und einflussreichsten Menschen und Organisationen der Welt gefördert wurden.

Obwohl diese Bewegungen offensichtlich in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die traditionellen westlichen Werte vereint waren, schien es nicht immer einfach, einen gemeinsamen Nenner zwischen ihnen auszumachen. Das ist der Vorteil von Krisenzeiten, wie wir sie gerade erleben, denn in ihnen lichtet sich der Nebel, der die Aufmerksamkeit von dem ablenken soll, was hinter diesen Bewegungen steckt, und der Blick auf das gemeinsame Ziel, das hinter all diesen Bewegungen steht, wird frei. Wie sich herausstellt, ist mehr als nur ein Körnchen Wahrheit an der Vorstellung, dass sie alle in einer gemeinsamen Ideologie verwurzelt sind.

Die schiere Zahl der Bewegungen schafft Verwirrung über ihre Ursprünge, denn ihre treibenden Kräfte haben schon längst gelernt, ihre uralte Ideologie anzupassen und zu verschleiern, um sie dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. So haben sie sich als viel anpassungsfähiger erwiesen als alle konservativen oder reaktionären Bewegungen. Tatsächlich ist die Fähigkeit zur Verschleierung ihrer wahren Antriebe eine der Hauptstärken dieser Kräfte.

Doch wer sind diese Kräfte? In konservativen Kreisen werden ihnen viele Namen zugeschrieben, und es wird heftig diskutiert, welcher das Phänomen, mit dem wir es zu tun haben, am besten beschreibt. Links, liberal, neomarxistisch, jakobinisch sind nur einige der vielen Begriffe, die zur Beschreibung des Feindes verwendet werden, aber derjenige, den ich für die Dauer dieses Essays verwenden möchte, ist der von Igor Schafarewitsch in seiner brillanten historischen Analyse dieser Bewegungen, „Der Todestrieb in der Geschichte”, verwendete Begriff des Sozialismus.

Sozialistische Utopien im religiösen Gewand

Im Gegensatz zu dem, was uns die Apologeten der alten Schule sozialistischer Regime weismachen wollen, ist der Sozialismus nicht „prinzipiell gut“ und scheiterte auch nicht einfach an „schlechter Umsetzung“. Er ist auch nicht „unzureichend erprobt“, denn ideologisch aufgeladene sozialistische Bewegungen gibt es seit mehr als 2000 Jahren, während der Staatssozialismus fast so alt ist wie die menschliche Zivilisation selbst. Und im Gegensatz zu dem, was uns die naiven Anhänger utopischer Träume vom „neuen Menschen“ weismachen wollen, sind die entsetzlichen Ergebnisse sozialistischer Gesellschaften nicht das Ergebnis gescheiterter Versuche, sondern im Gegenteil ein inhärentes und notwendiges Ergebnis sozialistischer Gesellschaften.

Was Schafarewitsch aufzeigte, waren die unterschiedlichen Erscheinungsformen der ideologisch überhöhten, sogenannten chiliastischen sozialistischen Bewegungen, die im Kern durch die immer wieder gleichen zerstörerischen Ideale geeint waren. Schafarewitsch, ein renommierter sowjetischer Mathematiker und Freund Alexander Solschenizyns, stellte dem chiliastischen Sozialismus den Staatssozialismus gegenüber, mit dem er wiederum all jene Gesellschaften beschrieb, die in ihrer Ausführung tatsächlich sozialistisch waren. Es waren Gesellschaftsformen, die oft den frühesten theoretischen Modellen vorausgingen und überall auf der Welt im Laufe der Geschichte auftauchten, vom alten Ägypten über das China der Qin-Periode bis hin zum Inka-Staat in den Anden.

Der chiliastische Sozialismus, der theoretische Traum einer utopischen sozialistischen Gesellschaft, scheint jedoch ein fast ausschließlich westliches Phänomen zu sein. Verwurzelt in Platons Theorie des idealen Staats, manifestierten sich diese Ideen zuerst in den gnostischen Sekten der ersten Jahrhunderte nach Christus und verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch die zahlreichen häretischen Sekten des Mittelalters bis in die frühe Neuzeit. In der Reformationszeit wetteiferten einige der radikalsten sozialistischen Häretiker um die Vorherrschaft, wie die Hussiten oder die Anhänger von Thomas Müntzer (der selbst unter dem Banner der Regenbogenflagge in die Schlacht zog).

Es ließe sich argumentieren, dass die Reformation die erste erfolgreiche sozialistische Revolution des Westens war, in der sich das Luthertum durchsetzte, weil es in seinen Forderungen gemäßigter und kompromissbereiter war als die radikalen Revolutionäre von Sekten wie den Katharern, Adamiten und verschiedenen Versionen der Wiedertäufer. Mit anderen Worten: Das Luthertum war „Sozialismus light“, und das ist der Grund, warum es Erfolg hatte, wo andere Ketzer scheiterten.

Die Wandlungsfähigkeit des Sozialismus im Laufe der Geschichte

Es ist jedoch bemerkenswert, dass die im religiösen Gewand – der Sprache ihrer Zeit – erschienenen Forderungen, im Kern fast identisch waren mit den Ideen, die seither immer wieder in sozialistischen Bewegungen auftauchen. Einige dieser omnipräsenten Kernforderungen sind:

  • Abschaffung des Privateigentums
  • Zerstörung der Familie und deren Ersatz durch „freie Liebe”
  • Abschaffung der Religion zugunsten des Glaubens an eine Ideologie
  • Gemeinschaftlichkeit und Gleichheit, Unterdrückung jeglicher Individualität
  • Utopische Visionen von einer zu erschaffenden „neuen Welt“ und einem „neuen Menschen“
  • Zerstörung klassischer Hierarchien zugunsten eines bürokratischen Apparats weniger Auserwählter
  • Absolute Gewaltbereitschaft zur Bekämpfung jeglicher Opposition

Nach dem Erfolg der Reformation war der Durst nach religiöser Revolution gestillt, und die revolutionären Utopien fassten stattdessen vermehrt unter weltlichen Intellektuellen Fuß. Bereits Thomas More und Tommaso Campanella skizzierten in ihren Werken „utopische“ Gesellschaften (More nannte sein Werk sogar „Utopia“), in denen fiktive, weit entfernte Gesellschaften beschrieben wurden, in denen die meisten der oben genannten sozialistischen Grundforderungen vollständig verwirklicht waren. Dies führte sogar zu einiger Verwirrung, da sich einige Leute fragten, ob Mores Werk durch seine Kenntnis des Staates der Inka in Peru beeinflusst worden sein könnte, der einem voll entwickelten Staatssozialismus am nähesten kam, da das in „Utopia“ skizzierte Ideal große Ähnlichkeiten zur Realität des Inkastaates aufwies. Doch More schrieb „Utopia“ bereits 1516, die Spanier kamen aber erst 1531 zum ersten Mal mit der Andenkultur in Kontakt. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie universell die sozialistischen Ideen sind, sodass sie überall auf der Welt auftauchen, unabhängig vom historischen und geografischen Kontext, in dem sie entstanden sind.

Die utopischen sozialistischen Ideale fanden auch bei den Autoren der Aufklärung Anklang. Im 17. Jahrhundert erfreuen sich sozialistische Romane großer Popularität, und im 18. Jahrhundert übersetzten Schriftsteller wie Jean Meslier, der heute zwar kaum noch bekannt ist, aber einen enormen Einfluss auf Voltaire hatte, die sozialistischen Ideale in die Sprache ihrer Zeit. Während die Ketzer des Mittelalters ihren Sozialismus in einen religiös motivierten Kontext kleideten, ersetzten die Sozialisten der Aufklärung die Religion durch die Vernunft, um die ansonsten fast identischen Ideen einer utopischen Gesellschaft zu rechtfertigen.

Meslier war bei den radikalen Jakobinern so angesehen, dass Anarcharsis Cloots 1793, als der Jakobinerkonvent offiziell den Kult der Vernunft einführte, vorschlug, eine Statue von Meslier im Tempel der Vernunft aufzustellen, da er es war, der als erster die „religiösen Verwirrungen“ überwunden hatte. Abwandlungen dieser sozialistischen Ideen finden sich bei vielen mehr oder weniger bekannten Autoren dieser Zeit. Deren unbeholfene philosophische Versuche, ihre Ideologie zu rechtfertigen, könnte man oft als amüsant bezeichnen, wäre da nicht die Blutspur, die ihre Ideologie durch die Französische Revolution und ihre europaweiten Nachbeben zog.

Im Sozialismus des 19. Jahrhunderts kam es dann zu einer Abkehr vom Kult der Vernunft hin zur wissenschaftlichen Methode, vor allem in Form des historischen Materialismus, wie er von Karl Marx propagiert wurde. Das ist die Form, mit der die meisten Menschen den Sozialismus assoziieren, auch wenn das Faktenwissen über die tatsächlichen Schriften und Ansichten von Marx heute bestenfalls lückenhaft ist. Und das ist nicht apologetisch zu verstehen, wie es bei vielen Marxisten der alten Schule üblich ist. Die bolschewistische Schreckensherrschaft in der Sowjetunion war keine „Fehlinterpretation“ von Marx, sie war tatsächlich eine relativ konsequente Umsetzung Marxscher Ideen, nur sind diese in der Regel nicht Teil der Diskussion in den etablierten Medien, wenn wieder einmal von den revolutionären Ideen von Marx geschwärmt wird.

Staatssozialismus als erlösender Kompromiss

Der Terror in der Sowjetunion, insbesondere in den Jahren vor Stalin, steht beispielhaft für den splitterhaften Charakter sozialistischer Bewegungen. Wie bei den zahllosen mittelalterlichen Häresien oder den vielen Fraktionen innerhalb der Jakobiner, waren auch die Bolschewiki weit weniger ein monolithischer Block, als es uns im Rückblick erscheinen mag. Die berühmteste Kluft bestand natürlich zwischen den Anhängern Lenins und Trotzkis, aber auch andere Revolutionäre wie Bucharin, Sinowjew, Kamenew und natürlich Stalin vertraten unterschiedliche Schattierungen und Ausprägungen des Sozialismus, was auch die brutalen internen Säuberungen erklärt, die in dieser Zeit stattfanden.

Doch ungeachtet ihrer internen Unterschiede war der äußere Hauptfeind der Sozialisten immer klar definiert und wurde nie vergessen. Erst unter Stalin wurden die rivalisierenden Fraktionen konsolidiert (oder ausgerottet, wie auch immer man es nennen will) und eine Form des Staatssozialismus etabliert. Die Tatsache, dass Stalin diesen internen Auseinandersetzungen, die stets auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wurden, ein Ende machte, muss als Teil der Anziehungskraft verstanden werden, die Stalin trotz seiner genozidalen Bilanz bis heute auf manche Russen ausübt.

Die enorme Zahl der von Stalin verursachten Todesopfer verdeckt auch die Tatsache, dass er im Gegensatz zu anderen Bolschewiki eigentlich kein Ideologe war. Auch Stalin war der „stabile Kompromiss“, so makaber das angesichts von Millionen von Toten auch klingen mag. Pragmatisch bis auf die Knochen und sich jeder Bedrohung seiner Macht bewusst, waren seine ideologischen Beiträge kaum der Rede wert, und die Errichtung einer weltweiten sozialistischen Utopie hatte er nie wirklich im Sinn. In dieser Hinsicht ähnelte er Napoleon, den niemand als Ideologen bezeichnen würde, als vielmehr einen pragmatischen und rücksichtslosen Staatsmann, der dem ideologischen Gezänk der sozialistischen Narren in Frankreich ein Ende setzte.

Es zeigt sich jedoch, dass skrupellose Männer wie Napoleon und Stalin (oder sogar Martin Luther, wenn man so weit gehen möchte) nicht das revolutionäre Ideal des Sozialismus darstellen, sondern den Kompromiss und damit die Antwort auf das sozialistische Chaos der Utopisten. Chiliastische Sozialisten sind eben nicht einheitlich, sondern in viele verschiedene Lager gespalten, die aber – bevor sie sich gegenseitig fressen – in ihrem Hass auf den gemeinsamen Feind verbunden sind: die bestehende, funktionierende Ordnung von einst, sei sie nun Monarchie, Bürgertum oder Patriarchat.

Die revolutionäre Halbwertszeit auf dem Weg zur permanenten Revolution?

Leider ist die Tatsache, dass der Kompromiss sich am Ende immer durchzusetzen scheint, für Konservative kein Trost, denn die Messlatte verschiebt sich immer schneller, immer weiter. Fast könnte man von einer revolutionären Halbwertszeit sprechen: Während zwischen der Reformation und der Französischen Revolution mehr als 250 Jahre lagen, dauerte es von der Französischen bis zur Russischen Revolution nur noch etwa 125 Jahre, und die Revolution von 1968 folgte kaum mehr als 50 Jahre auf den Umsturz in Russland. Zugegeben, die Abstände sind gerundet, aber die zunehmende Geschwindigkeit und Dringlichkeit, mit der diese sozialistischen Revolutionen stattfanden, lässt sich nicht wegdiskutieren und wirft somit auch Fragen über das Hier und Jetzt auf.

Die Kulturrevolution der 1960er Jahre unterschied sich aber in einigen zentralen Aspekten von vorangegangenen Revolutionen. Schafarewitsch schrieb seine Analyse „Der Todestrieb in der Geschichte“ im Jahr 1975, und sah viele der kommenden Probleme richtig voraus. Zwar benannte er korrekt einige der einflussreichsten Revoluzzer jener Epoche (unter anderem den in der klassischen Linken eher gering geschätzten Herbert Marcuse und dessen Einfluss auf die sexuelle Revolution), aber der Erfolg dieser letzten Revolution war damals noch bei weitem nicht so absehbar, wie er sich heutzutage präsentiert. Die Besonderheiten der Kulturrevolution der 1960er Jahre sowie ihr Einfluss auf die zeitgenössischen sozialistischen Bewegungen sind Gegenstand des zweiten Teils dieses Aufsatzes.

Eine abschließende Bemerkung zur chinesischen Revolution, die in diesem Aufsatz auffallend abwesend ist: Zwar lässt sich nicht leugnen, dass der westliche Anstrich namens „Kommunismus“ die Revolutionäre der Mao-Tse-Tung-Ära beeinflusst hat, was sich am deutlichsten in der katastrophalen Kulturrevolution in China zeigte, doch scheint das ab der Ära Deng Xiaoping etablierte System sich einem Staatssozialismus anzunähern, der eher den autokratischen Bürokratien des alten China entspricht, als den im Westen üblichen Kompromissen. Daraus ließe sich auch der enorme wirtschaftliche Erfolg Chinas im Vergleich zur Sowjetunion erklären, die letztendlich auch wirtschaftlich kollabierte. Schafarewitsch verweist auf Karl Wittfogels Theorie des „orientalischen Despotismus“, verdeutlicht aber auch die Probleme, die selbst Marx hatte, als er versuchte, die von ihm sogenannte „asiatische Produktionsweise“ in sein System der Klassenstrukturen einzupassen.

So scheint das gegenwärtige chinesische Modell, nachdem es die härtesten ideologischen Bürden der frühen Revolution abgelegt hat, eher auf Modelle des Staatssozialismus zurückzugreifen, die bereits vor Tausenden von Jahren in den alten chinesischen Kulturen existierten. Es ließe sich argumentieren, dass der Erfolg eines solchen Modells auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass das Konzept des Individualismus in den chinesischen Gesellschaften historisch gesehen nie eine große Rolle gespielt hat, sodass diese Formen des Staatssozialismus widerstandsloser übernommen wurden, als andernorts in der westlichen Welt.

Lesen Sie hier Teil 2 und Teil 3 der Serie „Geschichte des Sozialismus“.

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