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Vom Elend der Sozialdemokratie

Die SPD versucht an diesem Wochenende auf ihrem Bundesparteitag einen Neuaufbruch. Mit Holger Fuß blicken wir auf die Anfänge des Niedergangs dieser ehemals erfolgreichen Volkspartei.

Das Elend der Sozialdemokratie ist älter und schon beinahe sprichwörtlich. Im Dezember 1987 veröffentlichte der große liberale Soziologe Ralf Dahrendorf in der Monatszeitschrift Merkur einen vielbeachteten Essay unter diesem Titel. Schon in den achtziger Jahren, so Dahrendorf, hatten die Sozialdemokraten ihre beste Zeit hinter sich.

Die große Zeit, das war ab 1969, als die Sozialdemokraten auf den Wogen des Zeitgeistes der Achtundsechziger über »die Schwelle der 40 Prozent« gespült wurden. »Endgültig, wie sie glaubten«, schreibt Dahrendorf. Himmel, waren das Wahlergebnisse! 1969 holte die SPD 42,7 Prozent, 1972 sogar 45,8 Prozent. Der Kanzlerkandidat Willy Brandt verhieß den Nachkriegsdeutschen eine Art Hafterleichterung im Schuldturm des Nazi-Traumas. Brandt, der vor Hitler nach Norwegen geflohene Emigrant, kniete 1970 für alle Deutschen am Ehrenmal des Warschauer Ghettos nieder und wurde zur Ikone eines besseren Deutschlands. »Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun«, kündigte er in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 an. Wer kann sich heute noch vorstellen, welche Zauberkraft in diesen Worten lag?

Auf Brandt folgte 1974 Helmut Schmidt, der als Macher galt, als Technokrat. Schon sackte die SPD bei den Wahlen 1976 auf 42,6 Prozent. Den früheren Oberleutnant der Wehrmacht umflorte nicht die Aura, stets auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Seine »innere Gegnerschaft« zum Nationalsozialismus während des Dritten Reichs musste er bis an sein Lebensende immer wieder erklären. Bei der Bundestagswahl 1980, im Duell gegen den Unionskandidaten Franz Josef Strauß, gelangen ihm noch einmal 42,9 Prozent der Wählerstimmen.

Danach musste sich die SPD bei Bundestagswahlen unter 40 Prozent einrichten. 1998 konnte die Partei die Marke mit dem Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder (40,9 Prozent) knapp überschreiten, danach fielen die Werte unter 30 Prozent und schließlich unter 20 Prozent.

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Dahrendorf bewies 1987 also eine robuste Intuition, als er schrieb: »Etwas ist jedenfalls zu Ende gegangen.« Aber was war zu Ende gegangen? Wir erlebten »das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«, behauptete der Sozialforscher. Damit meinte er nicht, »dass Sozialdemokraten ein Jahrhundert lang regiert hätten«. Vielmehr seien sie ein Jahrhundert lang die vorwärtstreibenden politischen Kräfte gewesen. Sie hätten den Totalitarismen getrotzt und die gesellschaftlichen Entwicklungen vorangebracht. »Bis sie am Ende«, so Dahrendorf, »zur natürlichen Regierungspartei wurden und prompt ihre Kraft verloren. Das Jahrhundert war in seinem Antrieb und in seinen besten Möglichkeiten sozialdemokratisch. Als es dem Ziel nahekam, war es folgerichtig mit der Kraft der Sozialdemokraten vorbei.« Die Sozialdemokraten waren in ihrer historischen Mission zu erfolgreich, um zu überleben. Sie hatten den Kapitalismus gezähmt, den Wohlfahrtsstaat eingerichtet und den Unterschichten durch Bildungsreformen den sozialen Aufstieg ermöglicht.

Mehr noch: »Weit über die Grenzen sozialdemokratischer Parteien hinaus bildete sich ein sozialdemokratischer Konsensus, der vor allem den Erfolg dieser politischen Kraft markiert«, schreibt Dahrendorf. »In den fünfziger und sechziger Jahren übernahmen andere Parteien die hier sozialdemokratisch genannte Haltung. Sie wurde zur Haltung der Mehrheit.« Dahrendorf spricht von einer »Sozialdemokratisierung der bürgerlichen Parteien«. Sogar der konservative Winston Churchill mahnte »1951, als die britischen Tories wieder an die Macht kamen«, seine Partei, »man dürfe jetzt nicht versuchen, alles rückgängig zu machen, was die Labour-Regierung nach dem Krieg getan hatte, sondern müsse ›dem Sozialismus seinen Lauf lassen‹«. So sehr war das Sozialdemokratische damals bereits ins Lebensgefühl der Gesellschaft eingedrungen. Dieses Lebensgefühl beschreibt Dahrendorf als »eine von Grund auf anständige Haltung, die immer neu auf Veränderung drängt, weil es stets Gruppen gibt, deren soziale Stellung sie im Dunkeln hält, während doch alle das Licht des Tages genießen sollen und wollen«. Sozialdemokratisch sein ist nach Dahrendorf »eine politische Haltung, die die entschiedene Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie mit dem ausgeprägten Sinn für die Benachteiligten und Schwachen verbindet«. Dieser Definition entsprechen mittlerweile alle Parteien, die ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte beanspruchen, der Konsens reicht von der Union über FDP, SPD und Grüne. Selbst die Linkspartei, die nicht ausdrücklich die Mitte für sich reklamiert, beteiligt sich an diesem sozialdemokratischen Konsens. Wie in einem Hologramm die einzelnen Bilder jeweils der Ganze widerspiegeln, so verkörpern die Konsensparteien je auf ihre Weise die sozialdemokratische Republik Deutschland. »Der Sieg der Sozialdemokraten war total«, so Dahrendorf. »Aber als er errungen war, stand der Niedergang schon vor der Tür.«

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Was Dahrendorf 1987 nicht berücksichtigen konnte, waren die Folgeentwicklungen in den neunziger Jahren, nachdem in den achtziger Jahren, inspiriert durch Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien, der Neoliberalismus seinen Siegeszug als beherrschende Ideologie des Westens antrat und eine beschleunigte Globalisierung zu neuerlichen sozialen Verwerfungen führte. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bekamen dadurch in Deutschland wie in Europa sozialdemokratische Parteien neuen Aufwind. Auf den Britischen Inseln beendete der Chef von New Labour, Tony Blair, 1997 die achtzehnjährige konservative Regierungsära. 1998 löste der Sozialdemokrat Gerhard Schröder nach 16 Jahren den christdemokratischen Kanzler Helmut Kohl ab.

»Allerdings«, stellt Peer Steinbrück, der unterlegene SPD-Kanzlerkandidat von 2013, ernüchtert fest, »handelte es sich nur um ein Zwischenhoch. Das ist nun vorbeigezogen und hat die Sozialdemokratie in einer noch schlechteren Verfassung und einem noch niedrigeren Niveau als Ende der achtziger Jahre zurückgelassen.«

Nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahl 2017, die der SPD traumatische 20,5 Prozent der Zweitstimmen bescherte, publizierte Steinbrück das Debattenbuch Das Elend der Sozialdemokratie – Anmerkungen eines Genossen. Das Zitat von Dahrendorfs Essay im Titel war wohlbegründet. Dahrendorfs Sätze, so Steinbrück, »hallen aus dem Jahr 1987 in unsere Zeit herüber. Und sind für mich Anlass genug, mich mit der Frage zu beschäftigen, wie diesem Elend ein Ende bereitet werden kann.«

Denn Dahrendorfs damaliger Befund ist auch für heutige Sozialdemokraten niederschmetternd: »Eine säkulare Kraft hat sich erschöpft. Wichtige Teile ihres Programms sind realisiert; die sozialen Gruppen, die sie trugen, finden sich damit in neuen Interessenlagen. Die Vertreter dieser politischen Kraft sind auch erschöpft. Es bleibt ihnen nur, auf verbleibende Unvollkommenheiten der von ihnen geschaffenen Welt hinzuweisen und im Übrigen das Erreichte zu verteidigen. Beides ruft nicht gerade Begeisterungsstürme hervor; es reicht noch nicht einmal, um regierungsfähige Wählermehrheiten zu gewinnen. Das ist das Elend der Sozialdemokratie.«

Der Urkonflikt der Genossen

Um die gegenwärtige Identitätskrise der Sozialdemokraten zu verstehen, müssen wir auf die Anfänge blicken. Die Wurzeln der Arbeiterbewegung lassen sich bis in die Zeit der Revolution von 1848 zurückverfolgen. Aber schon in den 1830er Jahren hatte es frühsozialistische Handwerkervereine im europäischen Ausland gegeben – »als Reaktion der neuen, industriellen Arbeiterklasse auf die Abhängigkeits-verhältnisse, Unsicherheiten und Krisen des neuen, industriellen Kapitalismus«, so der Parteienforscher Franz Walter. Das waren Vorläufer der modernen Arbeiterbewegung.

Organisiert hat sich die Sozialdemokratie am 23. Mai 1863, als der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig gegründet und Ferdinand Lassalle zu dessen Präsidenten gewählt wurde. Lassalle war kein Proletarier, sondern Anwalt, Intellektueller und Bohemien; er wurde 1825 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Tuchhändlers in Breslau geboren. Lassalle galt als ehrgeizig und hochbegabt. Alexander Humboldt, Mitte des 19. Jahrhundert das Zentralgestirn des Berliner Geisteslebens, schwärmte von Lassalles scharfem Verstand. Heinrich Heine verehrte ihn und war zugleich von seiner Egozentrik verschreckt. Karl Marx und Friedrich Engels konnten seine Eitelkeit nicht ausstehen. Engels nannte ihn einen »Gecken« mit »überschnappender Stimme« und den »Richelieu des Proletariats«. Der Linkshegelianer Lassalle wollte aus dem ADAV mit diktatorischem Elan eine radikaldemokratische Bewegung schmieden und den Staat sozialistisch revolutionieren. Als er nur 15 Monate nach der Vereinsgründung bei einem Duell um eine Frau ums Leben kam, setzte ein Lassalle-Kult ein, der bis in Weimarer Zeiten hinein die sozialdemokratischen Festlichkeiten liturgisch begleitete.

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Zum ADAV gesellte sich noch eine zweite Gründungslinie – Arbeitervereine, die dem linken Liberalismus verbunden blieben und sich am 9. August 1869 in Eisenach zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zusammentaten und von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführt wurden. Bebel kam 1840 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Unteroffiziers in den Kasematten der Festung Deutz bei Köln zur Welt, lernte widerwillig den Beruf des Drechslers und bildete sich durch Lektüre unermüdlich weiter. In Leipzig machte er seinen Meisterbrief und eröffnete eine eigene Werkstatt. Von Anbeginn, so wird berichtet, versuchte er, seine Beschäftigten nicht auszubeuten, sondern zahlte etwas mehr Lohn als üblich.

Dem Liberalismus-Verächter Lassalle stand Bebel stets kritisch gegenüber. Dessen Forderung nach einem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht für Männer beispielsweise lehnte Bebel ab. Er hielt die Arbeiter politisch noch nicht für reif genug. So war der Gothaer Vereinigungsparteitag von ADAV und SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Mai 1875 auch die Vermählung zweier Polaritäten, zwischen denen die Sozialdemokratie bis heute oszilliert. Der Historiker Bernd Faulenbach spricht vom »Gegensatz zwischen Utopie und konkretem Reformismus«.

Auf Seiten der Utopisten stand Lassalle, indem er gleichsam einen frühen Universalismus in die Welt setzte und den vierten Stand, also die Arbeiterklasse, als »gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht« deklarierte. Bebel, anfangs eher vom bürgerlichen Liberalismus geprägt, radikalisierte sich durch Lassalles Schriften zum Sozialisten, derweil er als Fabrikant expandierte und wohlhabend wurde.

Die pragmatischen Reformisten versammelten sich später mehrheitlich in der Reichstagsfraktion. Dort stimmten die Abgeordneten 1884 beispielsweise der Subventionierung der Dampferlinien nach Übersee zu. »Eine Vertretung der Arbeiterschaft kann unmöglich der Bourgeoisie Subventionen bewilligen«, wetterte Parteichef Bebel und wusste einen beträchtlichen Teil der Genossen hinter sich.

Die Kompromissbereitschaft sozialdemokratischer Parlamentarier dürfte auch eine Reaktion auf das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« gewesen sein. Das sogenannte Sozialistengesetz hatte Reichskanzler Bismarck im Reichstag 1878 durchgesetzt, es wurde bis 1890 dreimal verlängert. Während dieser zwölf Jahre, die eine Art frühkindliches Trauma für die Partei darstellen, waren die Parteiorganisation und die ihr nahestehenden Gewerkschaften verboten. Gegen viele Genossen wurden Gefängnisstrafen verhängt, mal wegen Majestätsbeleidigung, mal wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz. Andere Sozialdemokraten wurden als »Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu besorgen ist«, vorsorglich aus ihren Wohnorten ausgewiesen.

Der Historiker Faulenbach weist auf die »relative Schwäche der liberalen Bourgeoisie« im Kaiserreich hin. »Das Bürgertum hatte erkennbar Mühe, seine Interessen gegenüber den traditionellen Führungsschichten durchzusetzen.« Geschwächt durch die gescheiterte Revolution von 1848/49 fügten sich bürgerliche Liberale in die von dem Reichsgründer Bismarck vorgegebenen Strukturen. »Die Rolle der bürgerlichen Demokratie musste deshalb von den Sozialdemokraten ausgefüllt werden.« (…)

Sympathieträger treten anders auf
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Es gibt [also] zwei Geburtsmerkmale der deutschen Sozialdemokratie. Das eine Merkmal tragen die Utopisten, es wird von Dahrendorf beschrieben als »ein kurioser, beinahe absurder Irrtum«. Er besteht in der Vorstellung, »dass die Arbeiterklasse der industriellen Welt die Kraft zu einer ganz anderen Zukunft verkörpert«. Als ob »auf einmal die übergroße Mehrheit die Vision der Zukunft haben soll. Die Mehrheit will eigentlich immer vor allem die Verbesserung der eigenen Lebenslage hier und jetzt – und wer wollte ihr die Präferenz verübeln?«

Über diesen Irrtum stolperten ein Jahrhundert später auch die revoltierenden Studenten um 1968, als sie schließlich zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Werktätigen lieber Bild-Zeitung als Mao-Bibel lasen und sich lieber ein Reihenhäuschen ansparten, anstatt in schmuddeligen Wohngemeinschaften mit alternativen Lebensformen zu experimentieren.

Das andere Merkmal tragen die Reformer, die Pragmatiker. Einer wie der heute 91-jährige Klaus von Dohnanyi. Von 1981 bis 1988 war der Spross eines Widerstandskämpfers gegen die Nazis Erster Bürgermeister in Hamburg. Aus dieser Zeit ist die Anekdote überliefert, dass Dohnanyi am Fenster seines Rathausbüros die Baukräne am Himmel abzählte, um sich einen Eindruck von der wirtschaftlichen Lage der Hansestadt zu verschaffen. Heute grämt sich der Silberkopf ob des Absturzes seiner sozialdemokratischen Partei. Wiewohl: »Das ist kein Absturz«, sagte er in der ZDF-Talkshow »Markus Lanz«. »Das ist ein langsamer Weg gewesen über viele Jahre. Ich glaube, er hängt damit zusammen, dass die Partei sich noch immer nicht damit abgefunden hat, dass es zu dem System, in dem wir in Freiheit leben, keine wirkliche Alternative gibt. Da gibt es ja Leute, die meinen, sie müssten Kapitalismuskritik üben oder sowas.«

Für Dohnanyi ist das ein Anachronismus. »Die SPD hat sehr grundsätzliche Probleme«, erläuterte er in einem FAZ-Interview. »Sie hatte ihre Geburtsstunde in einer Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der sie dafür kämpfte, die Interessen der unteren Schichten, der kleinen Leute, zu verteidigen. Sie glaubt, das noch heute vordringlich tun zu müssen, obwohl wir längst in einer anderen Zeit leben. Heute geht es in erster Linie um wettbewerbsfähige Arbeitsplätze!« Die Partei habe sich an die heutige Zeit anzupassen, sie »muss sich weiter häuten«. Und sich von der Sorge verabschieden, sie würde dabei etwas von ihrem Kern verlieren: »Sie hat zu Beginn für die Chancen und Rechte von Menschen gekämpft, die als kleine Arbeiter und Angestellte von vielen Unternehmern ausgebeutet wurden. Heute sind nicht mehr die ›bösen‹ Unternehmer schuld daran, es sind die Kostenunterschiede zwischen uns und den aufsteigenden Ländern sowie die Tatsache, dass viele Menschen weniger Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten als andere haben.«

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Ein Reformer wie Dohnanyi ist gleichsam ein Sozialdemokrat ohne Misere. Leute wie er nehmen das Gegebene hin, Utopien sind ihnen fremd. Dass eine solche Haltung der Linkspartei Zulauf beschert, stört Dohnanyi nicht: »Zehn Prozent, die glauben, man könne noch in den alten Denkmustern verharren, wird es immer geben.« Neues Denken ist für die Pragmatiker in der Partei vor allem ökonomisches Denken, für sie gilt als progressiv, was wirtschaftlichem Fortschritt und Wachstum dient. Die gesellschaftlich Progressiven in der SPD sind alte linke Schule, überkommen und nicht mehrheitsfähig.

Die Pragmatiker machen sich keine Illusionen darüber, dass die Mehrzahl der Wähler im Lande nach den Interessen ihres Portemonnaies wählen, weil sie zumeist damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen oder über anstehende Anschaffungen nachzudenken. Nach Weltverbesserung, internationaler Solidarität oder gar nach gesellschaftlichen Umstürzen steht selbst unter SPD-Anhängern den wenigsten der Sinn. Utopische Visionen, die Vorstellungen einer gerechteren Welt sind auch in dieser Wählerklientel den Sonntagen vorbehalten, nicht den Werktagen, den privaten Besinnlichkeiten, nicht den öffentlichen Angelegenheiten des Problemeabarbeitens.

Aus diesem Grund ist die SPD für den Pragmatiker Dohnanyi »eine schwierige Partei. Einfach aus dem Grund, weil es immer noch einflussreiche Leute gibt, denen Hoffnung wichtiger ist als Wirklichkeit. Das ist aber auf Dauer keine Basis für gute Politik. Der linke Flügel der SPD hat wegen der Agenda 2010 Gerhard Schröder gestürzt. Wäre das nicht geschehen, wäre Angela Merkel heute wohl nicht Kanzlerin. Solange aber die SPD nicht durchgängig erkennt, dass es ohne Schröders Reformen nicht geht, hat sie ihr grundsätzliches Problem nicht behoben. Die Sozialdemokraten müssen anerkennen, dass die globalisierte Welt eine Welt der Wirtschaft und der Unternehmer ist.«


Leicht gekürzter Auszug aus:
Holger Fuß, Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei. FBV, 256 Seiten, 22,99 €


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