Tichys Einblick
Wenn Identität zum einzigen Lebenssinn wird

Bestseller-Autor Douglas Murray über den Wahnsinn der Massen

In seinem neuen Buch folgt Douglas Murray den Spuren der Entstehung einer neuen Universal-Ideologie. Sie wird getragen von den Gruppen der immer extremeren Identitätspolitik, die sich aufgemacht haben, das gesellschaftliche Gewebe zu zerstören.

Im Frühling letzten Jahres kam der Bestseller „Der Selbstmord Europas“ des englischen Publizisten und Journalisten Douglas Murray auf Deutsch heraus. Darin befasste er sich mit der Frage, warum sich westeuropäische Staaten bereitwillig dem islamischen Eroberungsstreben unterwerfen und warum sie dabei sind, ihre zweitausendjährige Kultur widerstandslos aufzugeben. Sein neues Buch „Wahnsinn der Massen“, das jetzt in deutscher Sprache erschienen ist, kann durchaus als Fortsetzung des ersten Buches betrachtet werden und könnte ohne weiteres auch den Titel „Der Selbstmord der bürgerlichen Gesellschaft“ tragen.

Denn die Phänomene, die Murray diesmal untersucht, die extremen und inzwischen gewalttätigen Formen von Feminismus, Schwulenbewegung und der Bewegungen gegen Rassendiskriminierung können als Symptome der gleichen Krankheit verstanden werden, die auch zur Selbstaufgabe westlicher Kulturnationen geführt hat. Wie damals beim Jubelempfang für angeblich Flüchtende benehmen sich Menschenmassen seit einiger Zeit zunehmend irrational, überschäumend und wie im Fieberwahn, verfolgen in Herden offensichtliche Wahnideen und fallen über Andersdenkende her. Einst sinnvolle Bewegungen, die für die Gleichberechtigung benachteiligter Minderheiten kämpften, laufen immer stärker aus dem Ruder, stellen realitätsferne Behauptungen auf und verfolgen gnadenlos jeden geringfügigen Widerspruch. Es scheint so, als wüchse ihre Radikalität in dem Maße, wie es ihnen gelungen ist, ihre ursprünglichen Ziele zu erreichen.

Einer, der sagt, was ist
Bestseller-Autor Douglas Murray und "Der Selbstmord Europas"
Als erste Erklärung dafür bietet Murray das aus der Psychologie bekannte „Heiliger-Georg-Symptom“ an. Als der Heilige Georg den Drachen besiegt hatte, konnte er nicht ruhen und ging auf die Suche nach weiteren Drachen. Die vorhandenen Drachen wurden immer kleiner und am Ende gab es gar keine mehr, doch er hörte aus einem seelischen Zwang heraus nicht auf, nunmehr mit imaginären Drachen zu kämpfen. Diesem Muster entsprechend entwickelten sich die Identitätsbewegungen: Gerade als sie ihr eigentliches Ziel erreicht hatten, die Gleichberechtigung der Frauen, die Anerkennung der Freiheit, das Sexualleben zu gestalten, wie man möchte, die Abschaffung aller Formen der Rassendiskriminierung, kam in allen Bereichen die Idee auf, eigentlich sei gar nichts erreicht, denn die Unterdrückung sei „strukturell“.
Der bessere Mensch ist eine Frau, schwarz und schwul

Murray untersucht vier verschiedene Bewegungen von ihren Anfängen an bis zu den heutigen Formen: Die Bewegung der Schwulen, die Frauenbewegung, die Trans-Bewegung und die Bewegung gegen Rassendiskriminierung. Am Ende zeigt es sich, dass das Entwicklungsmuster der Bewegungen überall das gleiche ist: Während es am Anfang um berechtigte Anliegen der Gleichberechtigung ging, die von der gesellschaftlichen Mehrheit akzeptiert wurden, geht es heute darum, zu beweisen, dass Schwule, Frauen, Nicht-Weiße und Transmenschen die besseren Menschen sind. Sie stehen einer sexistischen, rassistischen, von Weißen dominierten Gesellschaft gegenüber, die sie gnadenlos unterdrückt. Am besten dargestellt ist die Vorstellung durch die neue Gesellschaftspyramide: Oben an der Spitze der Pyramide befindet sich eine kleine, mächtige Minderheit weißer Männer. Sie unterdrückt alle anderen, die das Fundament der Pyramide bilden. Früher war das die Arbeiterklasse, heute sind es Schwule, Frauen, Transmenschen und alle Rassen außer Weiße.

Die alte und die neue Linke
Identitätsgerechtigkeit fragmentiert die Gesellschaft
Murray zeigt auf Streifzügen durch die verschiedenen „sozialen Gerechtigkeitsbewegungen“ auf, wie aufgrund dieser Neuausrichtung es nicht mehr um Gleichberechtigung geht, sondern darum, das gesamte System der bürgerlichen Gesellschaft zu bekämpfen. Die Träger und Verteidiger der unterdrückerischen Strukturen sind weiße Männer. „White men are trash“ ist eine der beliebten Hashtags unter den Aktivisten, ohne dass jemand daran Anstoß nehmen würde. Und das aus gutem Grund. Es ist erschütternd zu lesen, wie an einst als geistige Hochburgen geltenden Universitäten Hetzjagden, gewalttätige Angriffe stattfinden, Professoren und unliebsame Referenten mit Baseball-Schlägern gejagt werden, gegen jeden zur Jagd geblasen wird, der ein falsches Wort benutzt oder nur minimale Abweichungen vom jeweils gültigen Dogma zeigt. Karrieren, ganze Familien werden bedenkenlos zerstört, von der Universität und ihrem Wohnort buchstäblich vertrieben. Es gibt Aufrufe zum Mord. Ebenso gewalttätig werden die Widersprüche innerhalb der Bewegungen selbst ausgetragen. Wer dem jeweils aktuellem Credo der Bewegung nicht folgt, wer dem linken Gesellschaftsbild abschwört, wird aus der Opfergruppe ausgeschlossen, es wird sogar sein Schwul- oder Schwarzsein aberkannt. Prominentes Opfer eines solchen Ausschlusses ist der bekennende Schwule Peter Thiel. Als er sich als Unterstützer Präsident Trumps outete, wurde ihm das Recht abgesprochen, sich als schwul zu bezeichnen.

Diese Auffassung von der Welt hat innerhalb von wenigen Jahren den Weg von den extremsten Rändern der akademischen Welt über die Universitäten in die Medien und vor allem in die sozialen Medien geschafft und beherrscht inzwischen nicht nur die elektronischen, sondern auch weitestgehend die sogenannten Qualitätsmedien. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Ideen aus den Kursen exotischer Studienfächer bis in die Mitte der Gesellschaft ausgebreitet haben, hat die meisten demokratisch und bürgerlich Gesinnten völlig überrascht. Eine ganz entscheidende Rolle spielen und spielten dabei die sozialen Medien, über die neue Ideen ventiliert und Kampagnen organisiert werden. Sie haben ihre Grundhaltung in Windeseile der herrschenden Ideologie angepasst. Ein besonders interessanter Abschnitt im Buch widmet sich den eingebauten politisch korrekten Verfälschungen der Wirklichkeit durch Google, wobei Google nur als Beispiel für das Verhalten aller großen sozialen Medien steht. Hier merkt Murray zu Recht an, dass wir uns über die Wirkungsweise der elektronischen Medien dringend Gedanken machen sollten, bevor es endgültig zu spät sein wird.

Eine neue Universalideologie ist entstanden

Die Interpretation der Welt vom Gesichtspunkt der Identitätspolitik und der sogenannten Intersektionalität (damit ist die Zusammenführung aller genannten Beschwerden gemeint) „ist der kühnste und umfassendste Versuch zur Schaffung einer neuen Universalideologie“ seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der religiöse Glaube hatte schon vorher immer stärker an Boden verloren und danach brachen auch alle bis dahin gültigen Welterklärungen zusammen, und mit ihnen die politischen Ideologien. Doch ein ideelles Vakuum kann nicht lange fortbestehen. Früher oder später muss etwas kommen, das es ausfüllt. Die Menschen sind in Ermangelung großer Erzählungen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, und es sieht ganz so aus, dass zumindest viele unter ihnen – auch große Teile der Eliten – ihn in der Identitätspolitik gefunden zu haben.

Roger Scruton rehabilitiert
Die Gesellschaft darf nicht vom Twitter-Mob regiert werden
Das revolutionäre Subjekt dieser Erlösungsideologie sind die verschiedenen Interessengruppen, die durch Gender, sexuelle Präferenzen und Rasse definiert sind. Wer schwarz, weiblich und schwul ist, verfügt über den Vorteil der moralischen Überlegenheit. Die Parallele zur marxistischen Definition des Proletariats als revolutionäres Subjekt springt ins Auge. In Wirklichkeit war in den marxistischen Bewegungen niemals die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt, sondern vielmehr die intellektuellen Aktivisten, die sich als Arbeiter gerierten. Heute sind wir Zeugen eines ähnlichen Phänomens. Es geht schon lange nicht mehr um die Rechte von Schwulen, Frauen und ehemals unterdrückter Rassen. Eine erneut wild gewordene Intelligenz und ihr Anhang haben sich mithilfe der Identitätspolitik zum neuen revolutionären Subjekt selbst erkoren. Daher die endlosen Spaltungen und das Ringen um die wahre Lehre in jedem einzelnen Bereich der Unterdrückung, deshalb wendet sich der Kampf nur allzu oft gegen jene, die vor fünf Minuten noch als die Fahnenträger galten. Mit das Erniedrigendste für die normalen Bürger an der Machtergreifung auch der absurdesten Ideen über Gender, Frauen und Rasse sei ein Phänomen, schreibt Murray, das aus dem Kommunismus bestens bekannt sei: Dass man gezwungen ist, vorzutäuschen, an etwas zu glauben, was man in Wirklichkeit niemals glauben würde. Keiner glaube in Wirklichkeit, dass Männer Frauen und Frauen Männer seien, dass man die Rasse nach Belieben wechseln könne und dass Geschlecht und Rasse nur soziale Konstrukte seien, die man ohne weiteres austauschen könne.

Die Frage lautet deshalb, wie weit lässt sich die Gesellschaft von dieser neuen revolutionären Lehre infizieren , wie weit geht die Bereitschaft der Eliten, sich an die Spitze der neuen revolutionären Bewegung zu setzen? Die Bereitschaft scheint nicht nur in den USA sehr weit zu gehen. Offensichtlich haben die deutschen Blockparteien und die von ihnen besetzten Staatsorgane diesen revolutionären Geist gierig aufgesogen – auch ohne, dass hierzulande eine nennenswerte Bewegung vorhanden wäre.

Politik ist nicht der Sinn des Lebens

Auf eine Frage hat Murray trotz intensiver Recherchen keine Antwort gefunden: Was kommt danach? Wie sieht denn die Gesellschaft aus, die alle Forderungen der Interessengruppen erfüllt hat? Die Frage ist schon deshalb nicht zu beantworten, weil die Forderungen der einzelnen Teilbereiche zusammengenommen kein konsistentes zukünftiges Gesellschaftsbild ergeben. Aber noch schwerer wiegt, dass sich die Forderungen gegenseitig ausschließen. Denn letztendlich geht es jeder Gruppe darum, die eigenen Privilegien zu maximieren. Die Entmachtung des gemeinsamen Feindes, des weißen Mannes im Besitz von irgendeiner größeren oder kleineren Macht, hinterlässt nur ein Trümmerfeld, auf dem neue Beziehungen und Herrschaftsverhältnisse entstehen werden. Wie diese aussehen sollen, darauf gibt es zurzeit keine Antwort.

Der neue Klassenkampf
Wie der Wahnsinn der Massen unsere Gesellschaft zerstört
Auch wenn Murray hauptsächlich über die Entwicklungen in angelsächsischen Gesellschaften und deren Bedrohungen berichtet, werden deutsche Leser das Buch mit großem Gewinn lesen. Die Wege, auf dem diese gefährlichen Ideen – um mit Marx zu sprechen – die Massen ergreifen, mögen auf dem europäischen Kontinent zwar etwas andere sein, die Gefahren, die von ihnen ausgehen, sind jedoch die gleichen. Ganz besonders gilt das für die Schlusssätze des Buches, wo Murray dazu aufruft, das gesellschaftliche und private Leben zu entpolitisieren. Auch hierzulande findet in einem atemraubenden Tempo die Politisierung aller Lebensbereiche statt. Sie hat verheerende Folgen: Denn wird die Politik zum einzigen Sinn im Leben der Menschen, wird sie mit einer unkontrollierbaren Emotionalität aufgeladen und führt unweigerlich zu Wut und Selbstradikalisierung. Zurück bleibt eine gespaltene, von Feindseligkeit zerrissene Gesellschaft.
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