Tichys Einblick
Berlin-Wahl

Der lange Weg zur Wahlwiederholung – und wie sie verhindert werden sollte

Zuerst Empörung, dann Abwiegelung, dann Schönrederei: Die Wahlwiederholung in Berlin ist keine Selbstverständlichkeit. Der Weg dorthin gleicht einem Krimi. Und auch nach der Wahl ist kein Happy End in Sicht. Auf Berlin folgt Karlsruhe.

IMAGO / Steinach
Der Vertrauensverlust in die Demokratie hat ein Datum: 26. September 2021, der Wahltag in Berlin. Denn bereits am Morgen ist etwas anders als sonst. Bereits kurz nach 9 Uhr bilden sich vor einem Wahllokal im Bezirk Treptow-Köpenick Warteschlangen. Sie reichen vom Eingang einer Schule bis zum Bolzplatz davor. Hier findet kein Marathon statt, das Milieu ist eher kleinstädtisch als urban. Einige Wähler kehren um, hoffen, dass sich der Andrang zu einer späteren Uhrzeit legt. Weit gefehlt. Nach 10 Uhr verlängert sich die Schlange. Wartezeiten von 45 Minuten sind keine Seltenheit. Die Ursachen? Unbekannt.

Später vertröstet man sich mit der höheren Wahlbeteiligung. Neben der Abgeordnetenhauswahl finden auch die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung und die Bundestagswahl statt. Insbesondere Letztere animiert die Berliner zum Urnengang. Die Anstehzeiten bedeuten demnach: Die Demokratie funktioniert. In den sozialen Medien deklariert man die Dysfunktionalität der Hauptstadt zur Tugend um. Arm, aber demokratisch.

Der Tagesspiegel schreibt: Die Demokratie steht. Statt Stau und Problemen: Andrang bei den Wahlwilligen. Dann der Verweis auf die Hygieneregeln als mögliche Ursache. Aber die gibt es nicht nur in Berlin – warum dann keine ähnlichen Bilder aus anderen Wahllokalen? Innerhalb der nächsten Stunden verfestigt sich das Bild. Hier läuft etwas gehörig schief.

Während insbesondere linke User immer noch von einer erhöhten Wahlbeteiligung sprechen und das als Zeichen „gegen Rechts“ stilisieren wollen, tickert es in den Livetickern über den Bildschirm: Wahlbeteiligung in Berlin gegen Mittag nur leicht erhöht. Am Abend gibt es sogar einen leichten Rückgang.

Die Republik hält das eigentliche Ergebnis des Tages im Bann. Die Ära Merkel ist vorbei, doch das Votum ist nicht eindeutig. Am Wahlabend weiß noch niemand, ob sich die angeschlagene Union noch in eine Jamaika-Koalition retten kann oder nicht. Berlin und der Ablauf der dortigen Chaos-Wahl sind daher zweitrangig.

Doch wo die Berlin-Wahl Thema ist, da sind die Schlagzeilen deutlich: Massives Wahlchaos (BZ), Berliner wählten nach 20 Uhr (RBB), Fehlende und falsche Stimmzettel (Tagesspiegel), die Bild-Zeitung brachte eine Peinlich-Liste des Versagens heraus. Am Abend geben die Wahllokale geschätzte Werte weiter, damit Franziska Giffey noch schnell zur Siegerin ausgerufen werden kann. Rot-Rot-Grün steht, der Rest ist unwichtig. Business as usual. Obwohl selbst die SPD-freundliche Presse den Chaostag kritisiert.

Die Linkspartei bleibt nach der Verkündung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses im Bundestag – mit nur 4,9 Prozent. 3 Direktmandate retten sie vor dem Rauswurf. 2 davon sind aus Berlin. Auf diese Problematik weist kaum jemand hin.

Der Monat danach: kein Nachspiel

Zuerst bleiben die Medien an der Aufarbeitung der Berliner Zettelparade dran. Zu tief sitzt der Schock darüber, dass sich in Berlin Bilder wiederholten, die an die berüchtigte Florida-Wahl im Zuge der US-Präsidentenwahlen 2000 erinnerten. Die Zustände, die der Hauptstadtjournalismus sonst vermeintlichen Scheindemokratien mit Nachholbedarf ankreidete, erlebte dieser nun vor der eigenen Haustüre.

In der ersten Woche nach der Wahl folgen neue Meldungen, die das Chaos nicht nur bestätigen, sondern auch dessen Ausmaß verdeutlichen. Dabei ist zuerst auch der ÖRR involviert. So stellt der RBB einen Fragekatalog zusammen, in dem er auch die Möglichkeiten von Wahlanfechtung und Wahlwiederholung anführt. Staatsrechtler Christian Waldhoff hält eine Überprüfung der Mandatsrelevanz für gegeben.

Die Landeswahlleiterin zieht die Konsequenzen aus der „Pannen“-Wahl und stellt ihr Amt zur Verfügung. Einer dagegen bleibt in Amt und Würden: Andreas Geisel, Innensenator und politisch verantwortlich für das Desaster. Der Berliner SPD ist bewusst, das der Wahlsonntag ein PR-Desaster ist, das an ihr hängen bleiben könnte. Obwohl die Berliner Zeitung von rund 13.000 ungültigen Stimmen spricht und die Medien die Auswirkungen auf die Bundestagswahl thematisieren, wehrt sich der Senat gegen eine Wahlwiederholung. Und das, obwohl die ehemalige Landeswahlleiterin sogar selbst Einspruch einlegen will.

Man muss konstatieren: Die Methode hat Erfolg. Der Berliner Senat spielt den Chaostag herunter. „Nach unseren derzeitigen Erkenntnissen sind die Unregelmäßigkeiten nicht in einem Umfang zu sehen, die mandatsrelevant oder wahlverfälschend sind“, sagt der damals noch Regierende Bürgermeister Müller. „Nach jetzigem Stand gehe ich nicht davon aus, dass die Wahl in Berlin großflächig wiederholt werden müsste“, erklärt der damalige Innensenator Geisel. Er entgeht politischen Konsequenzen, wird unter Giffey Bausenator.

Damit erweckt Geisel den Eindruck, er habe ein Schlusswort gesprochen. Mitte Oktober nimmt die Berichterstattung zum Themenkomplex ab. TE weist darauf hin, dass der Innensenator nicht über die Gültigkeit der Wahlen zu entscheiden habe. Doch einen Monat nach der Wahl verblasst die Erinnerung, legt sich die Empörung. Die neue Bundesregierung tritt an, die Impfpflicht-Debatte, der Umgang mit Ungeimpften, Maßnahmen und Corona-Proteste beherrschen die mediale Landschaft. Ende Februar überschattet der Ukraine-Krieg die Ereignisse. Die Berlin-Wahl scheint vergessen, weder Politik noch Medien gehen den Versäumnissen, Fehlern und Manipulationen nach.

Im Frühling ergreift TE die Initiative

Erst im Frühling 2022 meldet sich der Fluch der bösen Tat. Roland Tichy lässt auch nach Monaten das Thema nicht kalt. Als sich der ehemalige Abgeordnete Marcel Luthe an ihn wendet, weil dieser gegen die Wahl vorgehen will, greift er zu: Tichy stellt ein Team aus jungen Autoren unter der Führung von Max Mannhardt auf, das die Protokolle der Wahl auswerten soll. Auf Bitte von TE ist die Atlas-Initiative zur Finanzierung bereit.

Schon bei den ersten Stichproben wird deutlich, dass das Ausmaß der als „Pannenwahl“ mittlerweile verniedlichten Berlin-Wahl größer ist als angenommen. Doch weder der gebührenfinanzierte RBB noch das Hauptstadtblatt Tagesspiegel nehmen den Ball auf, um mit eigenen Recherchen nachzuziehen. Ob den Medien das Thema zu heiß oder zu unwichtig erscheint, bleibt bis heute offen.

Die Medien übernehmen die Rechercheergebnisse und tragen die Chaoswahl nach Monaten ins Gedächtnis zurück – auch wenn man sich dagegen wehrt, den eigentlichen Aufklärer TE beim Namen zu nennen. Doch das ist nachrangig. Der Stein, den die Berliner Politik tief in den Berliner Morast gewälzt hatte, kommt plötzlich wieder ins Rollen. Neben immer neuen, haarsträubenden Erkenntnissen kommen dabei noch andere Verstrickungen ans Licht. Etwa, dass die Senatsverwaltung für Inneres, der Geisel vorstand, die Wahlpannen zu kaschieren versucht hatte.

Vom Mai bis September 2022 bleibt TE am Ball, treibt die Verantwortlichen vor sich her. Das stößt nicht überall auf Gegenliebe. Das Team fühlt sich zeitweilig in seiner Arbeit gestört, wenn nicht wenigstens überwacht. Dennoch: Der Zug ist nicht mehr aufzuhalten, nachdem die Wahl wieder im Rampenlicht steht. Gleich vier Anträge gehen beim Berliner Verfassungsgerichtshof ein. Und überraschend erklärt das Gericht: mit Fug und Recht.

„Die Wahlen waren so unzureichend vorbereitet, dass ein Gelingen von Anfang an gefährdet war“, erklärt das Gericht. Nur eine komplette Wahlwiederholung könne einen großen Vertrauensverlust in die Demokratie verhindern. Ein Wahltermin ist bald gefunden: der 12. Februar 2023.

Heute Berlin, morgen Karlsruhe

Die Entscheidung ist für TE ein großer Erfolg. Doch die Entscheidung bringt kein Happy End. Der Senat bleibt trotz der berüchtigten Chaoswahl im Amt. Wenige Wochen vor dem Wahltermin türmen sich neuerlich die Pannen in der Bundeshauptstadt. Einige Politiker versuchen, über die Fraktionsgrenzen hinaus, die Wahlwiederholung durch Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht zu verhindern.

Und dann ist da noch die Bundestagswahl: Obwohl diese unter denselben Umständen stattfand wie die anderen Berliner Wahlen an diesem Tag auch, will das deutsche Parlament nur in einigen Wahllokalen die Wahl nachholen. Obwohl zwei Direktmandate der Linken von Berlin abhängen und damit der Verbleib im Bundestag. Oder: gerade deswegen?

Gleich, wie die morgige Wahl ausgeht. Der lange Schatten vom 26. September 2021 bleibt. Wieder hat Roland Tichy nicht lockergelassen: Eine Wahlprüfungsbeschwerde liegt in Karlsruhe vor. Die Entscheidung steht noch aus. Die Geschichte geht weiter. Im Zweifel bis zur nächsten Wahl in Berlin.


In eigener Sache: Roland Tichy, Herausgeber von TE, hat eine Initiative gegründet, um die Wiederholung der Bundestagswahl in allen Berliner Bezirken einzuklagen. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau im Namen von zwei Tichys-Einblick-Lesern geführt. Die Finanzierung hat „Atlas – Initiative für Recht und Freiheit“ übernommen.

Die von TE eingereichte Wahlprüfungsbeschwerde ist dem Bundesverfassungsgericht am 5. Januar per Fax und am 7. Januar per Brief zugegangen. Am Donnerstag, dem 26. Januar, hat das Gericht den fristgerechten Eingang bestätigt und der Beschwerde ein Aktenzeichen (2 BvC 15/23) gegeben.

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