Tichys Einblick
Wie am Ende der DDR

Das Demo-Verbot in Berlin ist töricht

Mit seiner Entscheidung setzt der Senat auf Konfrontation mit Bürgern – und beschwört mutwillig historische Erinnerungen herauf.

imago Images/Stefan Zeitz
Mit Blick auf die Corona-Demonstration am 1. August in Berlin mahnte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im ARD-Sommerinterview die Leute draußen im Land: „Mein dringender Appell: Nicht nur körperlichen Abstand halten, sondern auch geistigen Abstand.“

Auch andere Politiker meinten, jeder müsse sich jetzt sehr genau überlegen, mit wem er demonstriere – mit dem Hinweis auf Rechtsradikale, Reichsbürger, „Coronaleugner“, die in dem Demonstrationszug dabei gewesen seien. Der Berliner Senat hatte zwar kürzlich in einer Antwort auf eine Anfrage des FDP-Politikers Marcel Luthe eingeräumt, er habe keine Anhaltpunkte für verfassungsfeindliche beziehungsweise extremistische Bestrebungen bei den Demo-Anmeldern von Anfang August. Das hinderte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) allerdings nicht, jetzt die Neuauflage der Demonstration – geplant für den kommenden Samstag – zu verbieten. Begründung: es seien Verstöße gegen die Corona-Auflagen zu befürchten.

Theoretisch müssen sich nun viele Bürger keine Gedanken mehr über das geistige Abstandhalten machen. Praktisch dürften viele trotzdem nach Berlin kommen – was ihnen erst einmal niemand verbieten kann. Damit setzt der Berliner Senat auf die maximale Konfrontation: aus renitenten Bürgern werden nach seiner Logik Staatsfeinde.

Die Argumentation vieler Politiker und Medien lautet: die überwiegende Mehrheit der Bürger akzeptieren die Corona-Auflagen. Aber genau das wäre ja ein Argument, mit einer protestierenden Minderheit um so gelassener umzugehen. Bei den Hygiene-Auflagen zeigten sich die Behörden bekanntlich großzügig, als es in Berlin und anderswo zu den Black-Lives-Matter-Demonstrationen kam. Jetzt will die Hauptstadt-Regierung weder gelassen sein noch mit gleichen Maßstäben messen.
Vor allem ältere Ostdeutsche, DDR-Bürger, werden sich an die Versuche der SED-Führung im Hebst 1989 erinnern.

Von der Straße fernzuhalten – mit entsprechenden Apellen in allen Schulen und Betrieben, und mit dem Hinweis, jeder müsse jetzt genau wissen, ob er sich mit Rowdys, staatfeindlichen Elementen und westlichen Agenten gemein machen wolle. Ein Dokument dieser Zeit ist der Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 25. Juni 1989 damals Organ der SED-Bezirksleitung: „Was trieb Frau A.K. ins Stadtzentrum?“
Auch damals ging es um Polithygiene: „Diese Leute werden zu willkommenen Handlangern jener Kräfte in der BRD, die unsere sozialistische DDR von innen heraus so langanhaltend und tiefgreifend “reformieren” wollen, bis die Agonie eintritt und vom Sozialismus nichts mehr übrig geblieben ist.“

Die Bundesrepublik ist nicht die DDR, der Berliner Senat keine SED-Bezirksleitung. Umso absurder ist es, dass er die historischen Anklänge mutwillig heraufbeschwört.

Sicherlich gibt es unter den Anti-Corona-Demonstranten Spinner, etwa den Koch Attila Hildmann, der unter anderem den Abriss des Pergamon-Altars in Berlin fordert, weil er ihn für die Wurzel allen Übels hält. Gelassene Demokratien können normalerweise auch mit Spinnern umgehen. Und am 1. August war in Berlin eine bunte Mischung unterwegs: Gastronomen, die ihren Job durch die Corona-Auflagen verloren haben, viele, die ihre Unzufriedenheit mit dem autoritären Gestus der Regierung zeigen wollen, und die es leid sind, in Medien und ARD-Sommerinterview geschulmeistert zu werden.

Der FDP-Politiker Luthe weist darauf hin, dass Geisel in Berlin schon ganz andere Demonstrationen zugelassen hatte – etwa die islamistischen und vom Iran unterstützten Al-Kuds-Aufmärsche.

„Andreas Geisel setzt offenbar immer mehr auf Eskalation und Spaltung“, so Luthe: „Statt verhältnismäßig zu agieren; während der Senat sich nicht in der Lage sieht, Demonstrationen, die erfahrungsgemäß in schweren Straftaten münden – Al-Kuds und der 1. Mai als zwei Beispiele – zu verbieten, will man wegen angeblich zu erwartender Verstöße gegen meines Erachtens ohnehin unzweckmäßige und daher rechtswidrige Auflagen eine Demonstration zu dem zentralen politischen Thema dieser Monate verbieten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Willkür vor den Gerichten Bestand hat.“

Es wäre ein Gewinn, wenn ein Gericht die Gelassenheit aufbringen würde, das schlecht begründete Demo-Verbot des Berliner Senats noch zu kippen.

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