Tichys Einblick
Von der alten in eine neue Republik

Wiedergeburt einer handlungsfähigen Opposition

War die alte Bundesrepublik vom indirekten oder direkten Zusammenspiel einer christdemokratischen und einer sozialdemokratischen Volkspartei beherrscht, wird die neue Bundesrepublik von flexiblen Bündnissen mittlerer und kleinerer Parteien geprägt sein.

© Tobis Schwarz/AFP/Getty Images

Nachdem die Freien Demokraten den Jamaika-Spuk beendeten, zeichnet sich in Berlin eine allmähliche Rückkehr zu den tatsächlichen politischen Kräfteverhältnissen ab, die sich aus dem Wahlergebnis vom 24. September ergaben. Einer um 13,8 Prozentpunkte geschrumpften Großen Koalition (GroKo) von CDU/CSU und SPD stehen in Gestalt von AfD und FDP zwei neue Oppositionsparteien gegenüber, die gegenüber 2013 zusammen 13,7 Prozentpunkte hinzugewonnen haben. Ihren (Wieder-)Einzug in den Bundestag verdanken diese Parteien vor allem dem Umstand, dass sie auf dem Feld der Flüchtlings- und Migrationspolitik sowie auf dem Feld der Europapolitik konträre Positionen zu CDU/CSU/SPD beziehen. Nachdem die oppositionelle Kontrolle der Regierung auf den Feldern der Migrations- und Europapolitik durch die Grünen und die Linke komplett ausfiel, war es aus Sicht vieler Wähler, die die migrations- und europapolitischen Positionen der GroKo-Parteien ablehnen, zwingend, neue Opposition in den Bundestag zu entsenden.

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Gleichzeitig war während des Wahlkampfes schon früh absehbar, dass trotz der zunehmenden Unzufriedenheit mit der Kanzlerin keine politische Wechselstimmung entstehen wollte. Zu groß war und ist dafür nach wie vor der Rückhalt für ihre Politik in weiten Teilen der Bevölkerung, dem Schulz und seine SPD nichts entgegenzusetzen vermochten. Eine Neuauflage der GroKo wurde so die für die Wähler wahrscheinlichste Regierungsvariante, trotz mancher Hoffnungen bei den jeweiligen Beteiligten in Richtung Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün. Nicht nur die AfD, sondern auch die FDP trat im Wahlkampf, anders als die Grünen, folgerichtig nicht mit dem Anspruch auf ein Regierungsmandat, sondern auf ein Oppositionsmandat an. Ein solches Mandat erhielten beide Parteien von zusammen 23,3 Prozent aller Wähler. Sie übertrafen die Grünen und die Linke, die zusammen nur 18,1 Prozent erreichten, damit aus dem Stand um mehr als fünf Prozentpunkte. Gegenüber 2013 konnten die Grünen ihr Wahlergebnis nur um 0,5 Prozentpunkte und die Linke nur um 0,6 Prozentpunkte verbessern. Der Dank der Wähler für eine aus ihrer Sicht gute Oppositionsarbeit sieht normalerweise anders aus.

Die verbreitete Behauptung, die GroKo habe zu einer Stärkung der „politischen Ränder“ geführt, stimmt vor diesem Hintergrund nicht, oder allenfalls eingeschränkt – es sei denn, man lokalisiert die FDP als Partei des politischen Randes und wertet den Zuwachs der Linken um 0,6 Prozentpunkte als einen Zuwachs des „linken Randes“. Tatsächlich vollzogen hat sich am 24. September eine Kräfteverschiebung zwischen den GroKo-Parteien CDU/CSU und SPD auf der einen und den neuen Oppositionsparteien AfD und FDP auf der anderen Seite. Sie hat zur Folge, dass die Christdemokraten auf Gedeih und Verderb auf eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten angewiesen sind, wollen sie ihr vorrangiges politisches Ziel, das Kanzleramt zu behalten, erreichen. Das dafür vorhandene gemeinsame Stimmenpolster ist allerdings in der letzten Legislaturperiode von 67,2 Prozent auf 53,5 Prozent zusammengeschmolzen. Die Bezeichnung GroKo ist für eine Koalition aus CDU, CSU und SPD daher leicht irreführend, verfügen diese Parteien im Bundestag zusammen doch nur noch knapp über eine Regierungsmehrheit.

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Die SPD ist aufgrund der Weigerung der FDP, Merkel erneut ins Kanzleramt zu hieven, wider Erwarten in eine recht komfortable Lage geraten. Sie kann nun Forderungen stellen, die über die Kompromisse ihres bisherigen Koalitionsvertrages mit der CDU/CSU hinausgehen und gleichzeitig geschäftsführend weiterregieren, solange es zu keiner Einigung kommt. Sollten sich CDU/CSU darauf nicht einlassen, hat die SPD die Möglichkeit, die geschäftsführende GroKo aufzukündigen und der  CDU/CSU die Tolerierung einer Minderheitsregierung anzubieten. Einem solchen Angebot werden sich die Christdemokraten kaum verweigern können, zumal die Risiken einer drohenden Neuwahl auch für sie zu groß und nicht kalkulierbar sind.

Die SPD ist damit für Merkel zur einzig übriggebliebenen Kanzlermacherin avanciert. Gleichzeitig ist sie seit dem Jamaika-Aus dazu verdammt, mit den Christdemokraten zu regieren, sei es in Gestalt der Wiederauflage der GroKo oder der Tolerierung einer Minderheitsregierung. Damit hatte sie am Abend des 24. September nicht gerechnet. Da die SPD davon ausging, dass Grüne und FDP Merkel zur erneuten Kanzlerschaft verhelfen würden, zog sie sich aus dem beginnenden Koalitionspoker in die Rolle der zahlenmäßig stärksten Oppositionspartei zurück, um so bis zur nächsten Bundestagswahl zu neuer Stärke zu finden. Dieser Verstoß gegen das Verdikt Münteferings, Opposition sei Mist, wäre jetzt nur noch unter der Bedingung von Neuwahlen zu verwirklichen, die jedoch auch für die Sozialdemokraten zu riskant sind.

Dessen ungeachtet verweist das Interesse der SPD an der Übernahme der Oppositionsführerschaft, die die Sozialdemokraten angesichts des Wahlergebnisses ausdrücklich nicht der AfD überlassen wollten, auf die seit der Bundestagswahl gewachsene Bedeutung der Opposition. Gefragt sind von den Wählern nicht mehr nur Merkel-affine Ja-Sager, sondern auch Merkel-kritische Nein-Sager.

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Wir werden vor diesem Hintergrund in den nächsten Wochen aller Voraussicht nach eine Neuauflage der Regierungszusammenarbeit zwischen CDU/CSU und SPD erleben, sei es in Gestalt einer Groko oder in Gestalt der Tolerierung einer rein schwarzen oder auch einer weniger wahrscheinlichen schwarz-grünen Minderheitsregierung. Dies entspricht weit mehr dem am 24. September zum Ausdruck gebrachten „Wählerwillen“ als eine Jamaika-Koalition oder eine Koalition aus CDU/CSU, AfD und FDP. Diese hätte rein rechnerisch im Bundestag eine größere Mehrheit als eine Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen und würde insofern dem Wählerwillen sogar mehr entsprechen als Jamaika. Bei Regierungsbildungen geht es jedoch nicht um Zahlenspiele, sondern um die Verwirklichung politischer Ziele und Konzepte. Dafür bedarf es ausreichender Schnittmengen zwischen den beteiligten Parteien sowie ihrers Willens, diese auch zu nutzen. Dass die gemeinsamen Schnittmengen zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten auf den meisten Politikfeldern inzwischen größer sind als die Unterschiede, wissen die Wähler spätestens seit der letzten Legislaturperiode. Das gilt insbesondere für die Felder Europapolitik, Umweltpolitik, Migrationspolitik und Sozialpolitik, die von der GroKo weitgehend konfliktfrei im Konsens betrieben wurden.

Eine abnehmende Mehrheit von Wählern hält dies für gut oder sogar sehr gut. Sie befürwortet es deshalb, auch weiterhin von einer Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Führung von Merkel regiert zu werden. Eine wachsende Minderheit von Wählern lehnt demgegenüber wesentliche Inhalte dieser Politik jedoch ab. Sie haben deswegen, sei es aus Überzeugung oder aus Protest, am 24. September AfD oder FDP gewählt, nicht um diesen Parteien ein Regierungsmandat zu verschaffen, sondern um die GroKo-Parteien durch Stimmenentzug und Oppositionsstärkung zu einer politischen Richtungsänderung zu zwingen. Lindners FDP scheint dies, nach einem vorübergehenden Irrlauf Richtung Jamaika, begriffen zu haben und hat sich daher aus guten Gründen für die Oppositionsrolle entschieden. Die AfD hatte, aus ebenso guten Gründen, nie etwas anderes vor als Opposition. Den Grünen und der Linken bleibt nichts anderes übrig, als auf den Oppositionsbänken sitzen zu bleiben, obwohl beide im Wahlkampf auf Regierungsbeteiligung gesetzt haben. Ob sie von dort weiterhin, wie in den zurückliegenden vier Jahren, die Regierungspolitik alternativlos durchwinken oder sich dazu durchringen, nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich Opposition zu sein, wird man sehen. Sollten Grüne und Linke jedoch weiterhin als Opposition ausfallen, können wir seit dem 24. September hoffen und erwarten, dass diese Aufgabe von der AfD und der FDP ausgefüllt wird.

Sollten wider Erwarten alle vier Oppositionsparteien ihre Oppositionsrolle aktiv wahrnehmen, werden sowohl die Christdemokraten wie auch die Sozialdemokraten einer zunehmenden Zerreißprobe ausgesetzt. Sie wird den von dem Politologen Wolfgang Merkel in der FAZ vom 23. Oktober 2017 überzeugend beschriebenen „Niedergang der Volksparteien“ erheblich beschleunigen. Dabei wird es im Kern um die Frage gehen, ob und wie sie an ihren gemeinsamen europa-, migrations-, umwelt- und sozialpolitischen Konzepten festhalten können, ohne dadurch weitere Teile ihrer jeweiligen Anhänger- und Wählerschaft zu verprellen und Gefahr zu laufen, zusammen unter die 50-Prozent-Marke zu fallen. Ob es gelingt, dies zu verhindern, wird nicht nur vom politischen Geschick der betroffenen Volksparteien, sondern mehr noch davon anhängen, wie die vier Oppositionsparteien ihre jeweiligen Chancen nutzen, von CDU, CSU und SPD enttäuschte Wähler für sich zu gewinnen.

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Zu weiteren enttäuschten Wählern bei CDU/CSU wird es bei einer Fortführung der Regierungszusammenarbeit von Christdemokraten und Sozialdemokraten zwangsläufig kommen, wenn zum Beispiel den europa- und finanzpolitischen Vorstellungen Macrons gefolgt, die Schuldenbremse gelockert, der Solidaritätszuschlag forggeführt, der Familiennachzug für subsidiäre Flüchtlinge erlaubt, eine Bürgerversicherung eingeführt oder der Mindestlohn deutlich angehoben wird. Umgekehrt werden weitere Wähler von der SPD abwandern, sollten derlei Maßnahmen nicht zustande kommen. Egal wie, im einen Fall werden CDU/CSU, im anderen Fall wird die SPD Federn lassen müssen. Das könnte dazu führen, dass zwischen diesen Parteien keine formale Koalition gebildet wird, sondern auf der Basis von Absprachen irgendeine Art der Tolerierung stattfindet. Doch selbst dies wird die drei Parteien nicht aus dem Dilemma befreien, aufgrund gemeinsam getragener politischer Maßnahmen weiter Wähler zu verlieren. Im Interesse des gemeinsamen Regierens müssen sie gemäß ihrer derzeitigen politischen Präferenzen weiter Interessen eigener Wählerschichten verletzen.

Es liegt somit maßgeblich mit in den Händen der vier Oppositionsparteien, ob es mit Blick auf die kommende Legislaturperiode zu einem „Weiter-So“ à la Merkel kommt oder ein Politikwechsel eingeleitet wird, der entweder mit einer Stärkung der politischen Ziele der Grünen und der Linken oder der politischen Ziele der AfD und der FDP einhergeht. Die kommende Legislaturperiode ist insofern eine Periode des Übergangs auf dem Weg von der alten in eine neue Bundesrepublik. War die alte Bundesrepublik maßgeblich vom meist indirekten, manchmal aber auch direkten Zusammenspiel einer christdemokratischen und einer sozialdemokratischen Volkspartei beherrscht, wird die neue Bundesrepublik aller Voraussicht nach vom Zusammenspiel flexibler Bündnisse mittlerer und kleinerer Parteien geprägt sein. Deren Bündnis-Muster sind bislang erst schemenhaft zu erkennen und werden sich nur unter manchen Schmerzen der beteiligten Parteien sowie ihrer Mitglieder, Anhänger und Wähler allmählich herausbilden. Die Geburtswehen der neuen Bundesrepublik haben mit der Wiedergeburt einer handlungsbereiten Opposition insofern erst begonnen. Dass sie damit nicht abgeschlossen sind, ist sicher; dass sie bis zur nächsten Bundestagswahl weitgehend überstanden sind, bleibt zu hoffen.