Tichys Einblick
3. Oktober

Welche Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland?

Die deutsche Politik ist eine der Illusionen, aber um sich von ihr abzuwenden, ist es wohl zu spät. In diesem Sinne wird sich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg im historischen Rückblick wohl doch als weitgehend gescheitertes Experiment erweisen.

IMAGO / Christian Spicker

Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete, schien auch das Ende der deutschen Geschichte gekommen zu sein. Nicht nur politisch und militärisch war das Land unter der Führung eines wahnsinnigen Verbrechers in den Abgrund geführt worden, im Grunde genommen kamen die Jahre zwischen 1933 und 1945 dem moralischen Selbstmord einer ganzen Nation gleich. Konnte es angesichts dieses Desasters überhaupt einen Neuanfang geben?

Die Frage hätte sich vermutlich gar nicht erst gestellt, wenn nicht die USA und Großbritannien Westdeutschland als Bollwerk gegen ein weiteres Vordringen der UdSSR nach Westen benötigt hätten. Wohl nur deshalb ließen sie so kurz nach dem Krieg die Neugründung eines deutschen Staates zu, der sich am Ende auch Frankreich nicht widersetzen konnte.

Aus dieser eigentlich zu Anfang noch recht prekären Konstellation entstand dann freilich ein Staatswesen, das in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens durchaus ein Erfolgsmodell zu sein schien. Ausgestattet mit einer offiziell freilich nur provisorischen Verfassung, die auf gelungene Weise Demokratie mit dem wirksamen Schutz individueller Freiheitsrechte verband, und fest integriert in das westliche Bündnissystem, befand sich die Bundesrepublik bald auf dem Weg zu Wirtschaftswachstum und Prosperität.

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Wichtig für diesen Aufstieg von ganz unten war der Umstand, dass der Gründungskanzler der Bundesrepublik, Adenauer, ein klares Bekenntnis zur Westbindung des Landes mit einem selbstbewussten Auftreten gegenüber den Siegermächten verband. Persönlich nicht in das NS-Regime verwickelt, sah er für Demutsgesten keinen Anlass. Der Wechsel zu einer SPD-Regierung 1969 stellte die Westbindung zwar nicht direkt in Frage, aber gab doch jenen Kräften in der SPD, die gegen die enge Bindung an die USA immer Vorbehalte gehabt hatten, mehr Möglichkeiten, ihre Stimme zur Geltung zu bringen.

Zugleich wurde die Idee eines wiedervereinigten Nationalstaates, die bei der Gründung der Bundesrepublik noch allgemein akzeptiert worden war, zunehmend als obsolet angesehen. In der SPD setzte zumindest die jüngere Politikergeneration – Brandt dachte noch ganz anders – darauf, dass der Nationalstaat an sich eine Sache der Vergangenheit sei, und nur Reaktionäre noch eine Wiedervereinigung anstreben konnten, aber auch in der CDU war das Bekenntnis zur Nation seit Ende der 1970er Jahre oft nur noch ein reines Lippenbekenntnis, da man davon ausging, dass der Eiserne Vorhang Europa für immer teilen würde.

Der Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung stellten dann für große Teil der politischen Klasse einen Schock dar, was zum Teil erklärt, warum man so verzweifelt versuchte, die Denkmuster und Strukturen der alten Bundesrepublik Eins zu Eins auf den Osten zu übertragen – ein Versuch, der jedoch, wie heute immer mehr deutlich wird, weitgehend scheiterte und in der Gegenwart zu den massiven Vorbehalten der Bevölkerung in den neuen Bundesländern gegen die politische Kultur, für die die etablierten Parteien des Westens stehen, beigetragen hat.

Aber die Wiedervereinigung warf auch andere Probleme auf, die bis heute nicht gelöst sind. England und Frankreich sahen beide in einem wiedervereinigten deutschen Nationalstaat eine massive Bedrohung ihrer eigenen Interessen in Europa. Alte Feindbilder, die nicht nur auf den Zweiten, sondern auch auf den Ersten Weltkrieg zurückgingen, erwachten rasch zu neuem Leben. Aber während Großbritannien sich unter Thatchers Führung bei der Wiedervereinigung ganz querzulegen versuchte, war Mitterand klüger. Er zwang Deutschland den Euro auf, um eine wirtschaftliche Hegemonie des wiedervereinigten Deutschlands in der EU zu verhindern, aber auch um weiter das Ziel einer französischen politischen Vorherrschaft auf dem Kontinent verfolgen zu können.

Die spätere Umwandlung der Eurozone in eine Transfergemeinschaft war sicherlich schon damals angedacht, da man in Paris kaum je die Absicht gehabt haben dürfte, sich buchstabengetreu an die Bestimmungen des Maastricht-Vertrages zu halten. Im Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen war ja die französische Diplomatie immer schon flexibel. Damit war die neue Berliner Republik von Anfang an mit einer schweren Hypothek belastet, auch wenn die Kosten der Kompromisse, die Kohl, der von Wirtschaft nichts verstand, einging, erst nach 2010 sichtbar werden sollten.

Die historischen Hypotheken der Berliner Republik

Aber die neue Berliner Republik war und ist noch mit ganz anderen Hypotheken belastet. Schon der Bonner Republik fiel es schwer, ein positives Verhältnis zu ihrer eigenen Existenz zu finden. Sicher, es gab den Appell an einen eher blassen Verfassungspatriotismus, aber ein solcher Verfassungspatriotismus ist in der Regel nur dann identitätsstiftend, wenn die eigene Verfassung und die Geschichte ihrer Genese als vorbildlich für den Rest der Welt angesehen werden, wie in Frankreich oder den USA, wenn er also eigentlich missionarisch ist.

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Ansätze zu einem solchen Verfassungsverständnis fehlen zwar in Deutschland nicht ganz – man erteilt anderen ja gern Ratschläge, wie sie ihre Demokratie organisieren sollen –, aber insgesamt fehlte doch schon vor 1989 ein entsprechendes sinnstiftendes historisches Narrativ. Allerdings verstand sich die Bonner Republik ja auch nur als Provisorium – bis zur Neugründung eines vereinigten deutschen Nationalstaates. Auf andere Weise sieht sich aber auch die Berliner Republik nur als ein solches Provisorium, jetzt aber mit Blick auf eine erhoffte europäische Staatsgründung.

Die Bundesrepublik soll eigentlich nur eine Zwischenstufe sein auf dem Weg zu einer Abschaffung aller Nationalstaaten in Europa, das war die Auffassung, die sich nach der Wiedervereinigung weitgehend durchsetzte, und es so schwer macht, deutsche Interessen in der EU klar zu artikulieren. Für die Berliner Republik ist es bezeichnend, dass sie nie versuchte, an die ältere deutsche Geschichte vor 1914 anzuknüpfen, weder an das Bismarckreich – das noch vor kurzem vom Bundespräsidenten als eine Art intolerante Tyrannis dargestellt wurde – noch an das Alte Reich vor 1806.

Deutschland ist letzten Endes ein geschichtsloser Staat, oder ein Land, das seine Identität historisch nur mit Bezug auf die jüngste Vergangenheit und besonders auf die Katastrophe des NS-Regimes, also rein ex negativo definiert. Auf dieser Basis konnte und kann sich ein normales Nationalbewusstsein freilich nicht entwickeln, mag auch die politische Klasse in Deutschland weitgehend davon überzeugt sein, dass man ein solches Nationalbewusstsein gar nicht benötige, weil die Nationen ja ohnehin schon übermorgen durch die Vereinigten Staaten von Europa ersetzt würden.

Deutschland bezog sein Selbstbewusstsein aus dem wirtschaftlichen Erfolg – damit ist es jetzt vorbei

Allerdings, in bestimmten Bereichen ist Deutschland dann seit den 1960er Jahren doch mit einem gewissen Selbstbewusstsein auf der internationalen und europäischen Bühne aufgetreten: Überall dort, wo es um Wirtschaft ging, glaubte man sich anderen Ländern durchaus überlegen. Zwar endete das sogenannte Wirtschaftswunder spätestens in den 1980er Jahren, wenn nicht schon früher, und die ersten strukturellen Schwächen Deutschlands als Standort wurden sichtbar, aber nicht zuletzt dank der allerdings recht harten Reformen unter Schröder konnte Deutschland seinen Platz als führende Industrienation in Europa bis in die jüngste Vergangenheit bewahren, wenn auch mit tendenziell abnehmenden Wachstumsraten.

Diese Zeiten sind jetzt wohl endgültig vorbei: Der Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und Russland, der zum Teil ähnliche Folgen haben wird wie ein echter Krieg – nicht zuletzt bei den Staatsfinanzen –, aber natürlich auch die völlig verfehlte Energiepolitik der unterschiedlichen von Merkel geführten Regierungen spätestens seit 2011 werden dafür sorgen, dass auch hier die Deindustrialisierung einsetzen wird, mag sie auch einzelne Branchen und Sektoren unterschiedlich stark treffen. Der unvermeidliche Niedergang der Autoindustrie – eine Folge der politisch gewollten Elektrifizierung – wird ihr Übriges tun, um den Niedergang des Industriestandortes Deutschland zu besiegeln. Damit wird Deutschland verarmen, das ist klar.

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Aber mit dieser Deindustrialisierung schwindet nicht nur der Wohlstand, an den wir uns seit den 1960er Jahren gewöhnt hatten, es schmilzt auch der letzte Kern eines positiven Nationalbewusstseins dahin, denn außer wirtschaftlichem Erfolg hat die Bundesrepublik eben doch nicht gar so viel vorzuzeigen, auf das sie stolz sein könnte. Die Infrastruktur bröckelt schon lange weg, besser regiert und verwaltet als andere Länder wird Deutschland auch nicht mehr unbedingt, das sieht jeder (man kann ja nicht einmal mehr demokratische Wahlen ordentlich organisieren), und das Grundgesetz wird heute so stark von EU-Recht und EU-Kompetenzen überlagert, dass es eigentlich in vielen Bereichen nur noch eine Art zweitklassiger Provinzialverfassung ist, die Karlsruhe auch nicht wirklich bereit ist, gegen die diversen ultra vires-Akte der EU und ihrer Organe zu verteidigen, wie immer wieder deutlich wird.

Es bleibt dann nur das Trauma der jüngeren Vergangenheit, das der Bundesrepublik erinnerungspolitisch eine eigene Identität gibt, aber eine solche rein negativ definierte Identität wird kaum tragfähig sein auf Dauer. Deutschland müsste ein neues Selbstverständnis entwickeln, das die Bereitschaft zu einem kritischen Blick auf das eigene Land und seine Geschichte mit einem Minimum an Selbstbewusstsein verbindet.

Aber welche politische Kraft sollte einen solchen Prozess voranbringen? Sie ist schlechterdings nicht sichtbar, auch in der CDU nicht, die wohl auf lange Zeit eine postnational orientierte weitgehend profillose Mitte-Links-Partei bleiben wird, für die die EU der eigentliche deutsche Sehnsuchtsort ist, weil man nur so glaubt, der eigenen ungeliebten Identität entfliehen zu können. Das sieht man in der CDU dann doch heute ganz ähnlich wie bei den linken Parteien.

Die deutsche Europapolitik ist spektakulär gescheitert

Auch mit Blick auf Brüssel freilich muss mittlerweile die gesamte Politik, die die Bundesrepublik seit Jahrzehnten verfolgt hat, weitgehend als gescheitert gelten. In der Vergangenheit versuchte Deutschland durch Engagement für die europäische Einigung Vorbehalte bei einstigen Kriegsgegnern abzubauen und Partner für seine Handels- und Wirtschaftspolitik zu finden, auch um sich Exportmärkte zu erschließen. Lange war das durchaus erfolgreich. Die Wende kam mit dem Euro und dessen existenzieller Krise ab 2008/2010. Es ist klar, dass der Euro als Währung nur im Rahmen einer Transfergemeinschaft überleben kann, die im Wesentlichen von Deutschland und einigen kleineren nördlichen Staaten zu finanzieren ist. Ebenso klar ist, dass Länder wie Italien niemals irgendwelche harten Reformauflagen akzeptieren werden.

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Die Deindustrialisierung in Deutschland und Europa nimmt weiter Fahrt auf
Die Transfers werden voraussetzungslos sein, sodass das Geld dann faktisch in einem Fass ohne Boden zu verschwinden droht. Aber wehren kann man sich dagegen kaum noch, weil man eben seit 2010 Schritt für Schritt den Weg in diese Transfergemeinschaft bereits gegangen ist und eine Rechtsgarantie nach der anderen abgeräumt hat, vor allem unter französischem Druck. Das letzte Tor zur vollständigen Transfergemeinschaft wurde im Kontext der Corona-Krise durch die eigentlich vertragswidrige Aufnahme gemeinsamer Schulden der EU aufgestoßen – unter tatkräftiger Mitwirkung des damaligen Finanzministers und heutigen Kanzlers Scholz, für den deutsche Interessen in Europa offenbar keine wirkliche Bedeutung haben, sonst hätte er diesen „Hamilton-Moment” nicht so triumphierend gefeiert.

Wir müssen fest davon ausgehen, dass man diesen Weg weiter gehen wird. Ein neuer, vermutlich billionenschwerer EU-Fonds steht schon im Raum, der den Schock der hohen Energiepreise abfedern soll. Die jetzige Bundesregierung wird sich dem kaum widersetzen. Länder wie Italien, das wird ja in diesen Tagen deutlich, fühlen sich durch deutsche Zugeständnisse nur ermuntert, immer weitergehende Forderungen zu stellen. Der Erpresser, der einmal erfolgreich war, wird natürlich weitermachen. Die bewilligten Summen werden letztlich nie genug sein, egal wie viel wir zahlen, das ist absolut klar.

Damit ist aber die seit Jahrzehnten verfolgte deutsche Europapolitik, die unser Land in die westliche Wertegemeinschaft als gleichberechtigtes Mitglied integrieren und vor erneuter Isolation – wie vor 1914 – schützen sollte, gescheitert; Deutschland ist in Europa erneut der Außenseiter; die Rhetorik, die man in Rom und Warschau, aber auch an anderen Orten hört, zeigt das. Nie kann es genug finanzielle Leistungen offerieren, solange nicht alle Schulden bis auf den letzten Pfennig vergemeinschaftet worden sind oder entsprechend unbegrenzte Finanztransfers geleistet wurden. Sicher, irgendwann wird dieses Spiel enden, weil es in Deutschland nichts mehr zu holen geben wird; und wenn die sich jetzt abzeichnende Deindustrialisierung fortschreitet, könnte das schon in 10 bis 15 Jahren der Fall sein, aber das ist für uns kein Trost.

TE-Forum Energie am 10. Oktober 2022
Expertenforum in Dresden: Wie retten wir uns vor der Energiewende?
Die Bundesrepublik stellt sich heute als ein rasch verarmendes Land dar, das die residuale Souveränität, die es nach 1945 wiedererlangt hatte, zunehmend zugunsten der Brüsseler Postdemokratie aufgegeben hat, ohne dafür nach 1989 genuine Gegenleistungen zu erhalten, ein Land, das in Europa unbeliebter, wenn nicht verhasster denn je ist und sich vor den Trümmern seiner Energiepolitik und seiner naiven „Ostpolitik“ gegenüber Russland, die es seit den 1970er Jahren verfolgte, sieht. Überdies bricht seine wirtschaftliche Basis und damit auch das Fundament des sehr beschränkten nationalen Selbstbewusstseins weg.

Hat dieses Land überhaupt noch eine Zukunft? Allenfalls dann, wenn es in der Lage wäre, sich ganz neu zu erfinden, aber Ansätze dafür sieht man nicht. Man erhält zunehmend den Eindruck, dass Deutschland auf dem Weg dazu ist, ein failed state zu werden, ja mehr noch, es stellt sich die Frage, ob die Neugründung eines deutschen Staates (oder ursprünglich zweier deutscher Staaten) nach 1945 nicht ein Experiment war, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Zu groß waren die Lasten der Geschichte, zu groß auch die Vorbehalte unserer Nachbarn gegen jeden gleichberechtigten deutschen Nationalstaat, zu stark am Ende aber auch die fundamentalen Zweifel der deutschen politischen Klasse selbst an der Existenzberechtigung des eigenen Staates – Zweifel, die seltsamerweise nach der Wiedervereinigung noch wuchsen, sodass mittlerweile die Auflösung dieses Staates zugunsten eines imaginierten europäischen Zentralstaates fast zum politischen Konsens geworden ist, der nur von den politisch Marginalisierten in Frage gestellt wird.

Das ist eine Politik der Illusionen, aber um sich von ihr abzuwenden, ist es wohl zu spät. In diesem Sinne wird sich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg im historischen Rückblick wohl doch als weitgehend gescheitertes Experiment erweisen.

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