Tichys Einblick
In der Bundeswehr und nicht nur dort

Wenn Tradition zu einer politischen Waffe gemacht wird

Die Geschichte der DDR zeigt, wie Politik versuchte, gelenkte Traditionen zu etablieren. In jüngster Zeit kommt es zu forcierten Traditionsbrüchen und damit einhergehenden Absurditäten - ermöglicht durch ein Klima der Geschichtslosigkeit. Einige Beispiele von Christian T. Petersen

Ein Bundeswehr-Soldat auf Rückreise nach dem Wochenende in Köln

imago images / Future Image

Das berühmte Bonmot, demzufolge Tradition nicht die Anbetung der Asche, son­dern die Bewahrung der Flamme sei, trifft für das moderne Deutschland nicht mehr zu. Immer mehr entfernt es sich von seiner eigenen Vergangenheit – nicht nur historisch. Um in der Metapher zu bleiben, könnte man sagen: Die Flamme ist erloschen, die Asche längst zerstreut. Eine neue Flamme soll entzündet werden, kann aber mangels Nahrung nicht brennen – und verglimmt daher bei jedem neuen Versuch des Anzündens. 

Etwas weniger allegorisch ausgedrückt: „Die Deutschen sind zu oft Weltmeister im Ver­­drängen“, schreiben Kraus & Drexl (“Nicht einmal bedingt abwehrbereit“ 20191:221) – und das ist noch sehr di­plo­ma­tisch formuliert. 

Es folgt eine Hand­voll Beispiele für gelenkte Tradition: 

Als 1956 die Bundeswehr und die „Nationale Volksarmee“ (NVA) gegründet wurden, ging diesen Gründungen ein lan­ger Streit um die Namensgebung voraus: Während im Westen Deutschlands einige Ka­­­sernen auch nach Wehrmachtssoldaten benannt wurden (Standorte und Kommunen ent­scheiden in eigener Verantwortung), hat man im Osten der Republik (zumindest offi­ziell; per Ver­fü­gung) mit der Wehr­machts-Tradition insgesamt gebrochen; den Ka­ser­nen wurden kei­ne Namen im engeren Sinne gegeben, sondern sie wurden zumeist in Ver­bin­dung mit dem je­wei­li­gen Standort genannt (also etwa “Lager Leipzig-Süd“). 

Nun gab es in der DDR allerdings auch einige wenige Kasernen, die – aus welchen Gründen auch immer – dann eben doch nach kommunistischen Freiheits- (offiziell: antifaschistischen Widerstands-) Käm­p­fern benannt wurden, die oft auch im Spa­ni­schen Bürgerkrieg (1936-39) aktiv gewesen waren. 

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Nicht so eine Kaserne in Halle/Saale, die wir als erstes Beispiel betrachten: Gebaut in den 70er Jahren für die NVA, trug sie fortan den Namen des KPD-Funk­tio­närs Otto Brosowski. Dieser war für die DDR ein “Antifaschist“ – nicht nur wegen seiner Parteizugehörigkeit, sondern weil er eine Fahne der KPdSU unter Einsatz sei­nes Lebens vor den Nationalsozialisten versteckt und beim Einmarsch der Roten Ar­mee wieder zum Vorschein gebracht haben soll. 

Nach der Wende erhielt die Liegenschaft den Namen “Dr.-Dorothea-Erxleben–Ka­serne“, bis auch diese dem Rotstift zum Opfer fiel und 2007 aufgegeben wurde. 

Mit der Umbenennung hatte man aber immerhin Folgendes erreicht: 

  • Es wurde das weibliche Geschlecht berücksichtigt 
  • Es wurde – zumindest im Groben – ein regionaler Bezug hergestellt
  • Es wurde ein thematischer Bezug hergestellt, denn die Liegenschaft beherbergte diverse Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr 
  • Ein direkter militärischer Bezug, der Anlass zum Zwist hätte geben können, wurde vermieden. 

Somit hatte man vermeintlich jede politische Klientel bedient und konnte – ganz im Sinne der political correctness – relativ sicher sein vor ideologisch begründeten An­wür­fen. Denn wer hätte etwas dagegen haben sollen, dass eine Ärztin und Pionierin des Frauenstudiums zur Namenspatronin erkoren wird! 

Andererseits geht eine Umbenennung (anders als eine Neubenennung) zwingend mit der Ablösung des alten Namenspatrons einher, für den sich – in diesem Falle – einzig die Linke (damals PDS) hätte starkmachen können, die aber zunächst geschwächt aus der Wende hervorging, so dass – militärisch gesprochen – kein nennenswertes Stör­feuer zu erwarten stand. 

Einer anderen, älteren Wendezeit entstammt die zweite Anekdote (Bsp. 2): 

In Berlin-Friedrichshain gibt es den Bersarinplatz, benannt nach dem ersten alli­ierten Berliner Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin (Никола́й Берза́рин), der in der un­mit­telbaren Nachkriegszeit zur schillernden Figur wurde – nicht zuletzt ob der Art und Weise seines Ablebens. An der inkriminierten Stelle stehen in­zwi­schen eine Bersarin-Birke, ein Bersarin-Gedenkstein sowie seit diesem Jahr (2020) auch eine separate Ge­denk­tafel – allesamt initiiert von “PolitikerInnen“ der Partei die Linke.

Doch es wurde nicht nur der ehemalige Baltenplatz im Jahre 1947 zu Bersarins Ehren umbenannt, sondern auch die zum Platz hinführende ehemalige Petersburger Straße. 

Im Gegensatz zum Platz aber (der auch heute noch Bersarinplatz heißt) wurde 1991 – also kurz nach der Wende – die Petersburger Straße wieder als solche bezeichnet. Wie zum Ausgleich benannte man aber später (viz. 2005 unter rot-roter Regierung) eine bis dato namenlose Brücke zwischen den Stadtteilen Marzahn und Hellersdorf  nach Ber­sa­rin, dessen Truppen 1945 an jener Stelle die (damalige) Berliner Stadtgrenze über­schritten haben sollen. (Bild und Beschreibung bei Peter Lieb: “Die Schlacht um Berlin […]“, 20202:97f.) 

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Interessant im Sinne sozialistischer Traditionslenkung ist aber auch der Umstand, dass Bersarin 1975 postum die (Ost-)Berliner Ehrenbürgerwürde zuerkannt bekam, die je­doch im Zuge der Wiedervereinigung 1991 wieder aufgehoben wurde. Später aber (viz. 2003, wiederum unter rot-roter Regierung) wurde sie wieder zuerkannt – mit der Be­­grün­dung, Bersarin habe sich Verdienste um den Wiederaufbau der Stadt er­wor­ben. Je nach Zu­sam­men­set­zung des Senats oder der Bezirksverwaltung  ist also ein Kom­munist mal traditionswürdig, mal nicht. 

Auch mit der Wehrmacht ist das so eine Sache (Bsp. 3). So steht bspw. im jüngsten Traditionserlaß der Bundeswehr (§ 3.4.1.) unter dem Stichwort Wehrmacht:

Der verbrecherische NS-Staat kann Tradition nicht begründen. Für die Streitkräfte ei­nes demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht tra­di­tions­wür­dig. 

Interessant an dieser Diktion ist zumindest zweierlei: 

– Zum einen verwundert das Modalverb „kann“. 

Da es sich um einen ministeriellen Erlass handelt, würde man wohl eher “darf“ oder “soll“ (oder – etwas weniger do­mi­nant: “sollte“) erwarten. Durch die bestehende Wortwahl aber wird insinuiert, es sei per se, also quasi von Natur aus ausgeschlossen, dass Tradition durch ein Terror-Regime “begründet“ werden könne – eine Art Ver­ord­nung nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. 

– Zum anderen ist allein schon die Tatsache, dass die Wehrmacht auch im aktuellen (viz. dritten) Erlaß dieser Art (2018) überhaupt noch Erwähnung findet, ein Kuriosum: 

Waren Weltkriegsteilnehmer der Wehrmacht zum Teil noch am Aufbau der Bundeswehr beteiligt, nahmen die Querverbindungen zwischen diesen Streitkräften  im Laufe der Zeit immer weiter ab: Gelegentliche Ausfälle bei Trauerfeiern für ehemalige Wehr­machts­-Soldaten wurden zu Politica stilisiert – zumeist jedoch ohne ernste Folgen für die Beteiligten. 

Als eine seiner ersten Amtshandlungen verkündete 1999 der glück- und instinktlose Rudolf Scharping (1968 wegen seiner Agitation gegen die Anschaffung sog. Star­fighter mit einem Parteiordnungsverfahren belegt; gleichwohl Verteidigungsminister von 1998 bis 2002) die Ordensgemeinschaft der Ritter­kreuz­träger ( ’OdR’) zur Orga­ni­sa­tion non grata und verbot der Bundeswehr jeglichen offiziellen Kontakt. Solche und andere Ak­tionen konnte man sich freilich erst leisten, nachdem genug Zeit ver­strichen war – “die Gna­de der spä­ten Geburt“ hat es Helmut Kohl einmal genannt. – Im Gegensatz zu die­sem (1930–2017) gehörte Scharping (* 1947) aber nicht mehr der Erlebnisgeneration an. 

Der zweite Passus des o. g. Abschnitts (3.4.1.) im aktuellen Traditionserlass lautet wie folgt:

“Die Aufnahme einzelner Angehöriger der Wehrmacht in das Traditionsgut der Bundes­wehr ist dagegen grundsätzlich möglich. Voraussetzung dafür ist immer eine ein­ge­hen­de Einzel­fall­betrachtung sowie ein sorgfältiges Abwägen. Dieses Ab­wägen muss die Frage persönlicher Schuld berücksichtigen und eine Leistung zur Be­dingung machen, die vorbildlich oder sinn­stiftend in die Gegenwart wirkt, etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NS-Regime oder besondere Ver­dien­ste um den Aufbau der Bundeswehr.“ 

Anstatt also für Klarheit zu sorgen, hält sich die aktuelle Version alle Optionen offen: Je nach Zeitgeist, Kenntnisstand und ideologischer Ausrichtung können also mal diese, mal jene Wehrmachtsangehörigen “in das Traditionsgut der Bundeswehr“ auf­ge­nom­men werden – oder eben nicht. 

Die gesamte Diktion impliziert aber auch, dass vorher (also zu Zeiten der ersten bei­den Traditionserlasse 1965 und 1982) all die hier genannten Kriterien offenkundig nicht (oder zumindest nicht hinreichend) berücksichtigt worden wären. 

Unterirdisch
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Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sagte 2018 anläßlich des 74sten Jahrestages des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler (1944) in Strausberg sinngemäß, es sei nur eine Frage der Zeit, dass die Reputation Stauffenbergs und seiner Mit­ver­schwörer durch umtriebige Zeitgenossen in Zweifel gezogen werde, sofern nur hin­rei­chende In­di­zien dafür vorlägen, dass die Verdienste um den Widerstand relativiert würden  durch im Weltkrieg aufgeladene persönliche Schuld der Akteure. 

Denn eine mili­tä­ri­sche Karriere – zumal in der Offizierslaufbahn – ging in aller Regel auch mit ent­spre­chen­den Meriten einher, die eine zeitige Beförderung ermöglichten. Speziell dem Grafen Stauffenberg (1907–1944) würde man aus heutiger kritischer Sicht seine steile militärische Karriere zur Last legen: Wer mit 35 Jahren zum Obri­sten befördert wird, diverse Auszeichnungen erworben hat und im Generalstab sitzt – taugt so jemand zur Ikone des Widerstands?  

Spätestens im Jahre 2044 werden wir die Antwort kennen. Bis dahin wird womöglich in Vergessenheit geraten sein, unter welch dramatischen Umständen vor dann 100 Jah­ren ein junger, mehrfach verwundeter und daher multipel behinderter Offizier aus dem Umfeld Hitlers nicht nur den Mut, sondern auch Planung und Logistik aufbrachte, um seinem “heiligen Deutschland“ zu einem Neubeginn zu verhelfen. – Im übrigen sind sich Historiker heute weitgehend darin einig, dass ein effektiver Umsturz auch nur aus der Wehrmacht heraus zu bewerkstelligen gewesen wäre. 

Ein vordergründig völlig unmilitärisches Exempel (Bsp. 4) bezieht sich auf einen Klassiker der römischen Literatur: 

Vor 25 Jahren starb der große Dichter
Heiner Müller - Zweiter Clown im Kommunistischen Frühling
Wer sein Latinum machen wollte, kam an der Germania des Tacitus nicht vorbei: Mehr oder weniger langweilige Ausführungen über Haartracht und Mode wechselten mit Schilderungen von Orakeln, Gelagen oder Würfelspielen – eigentlich eine wenig spannende Lektüre, wären da nicht jene Passagen, in denen von „Rasse“ und Reinheit (propria et sincera et tantum sui similis gens) oder Waffen und Kampfkraft (acies, arma, bellum, etc.) die Rede wäre. Dies aber ist naturgemäß nur eine Facette des Ger­ma­nentums; und man sollte auch im Hinterkopf behalten, dass sich Römer und Ger­manen (bzw. einzelne ihrer Stämme) häufig im Krieg miteinander befanden, so dass tak­tische Überlegungen und waffentechnische Beschreibungen durchaus Gegenstand der Überlieferung sein können und sollen. 

Wenn nun ein deutscher Klassischer Philologe in einer nichtdeutschen Sprache (viz. Englisch) ein Buch veröffentlicht mit dem Titel A most dangerous book – Tacitus’ Germania from the Roman Empire to the Third Reich (2011), so ist dies nicht nur ein Anachronismus, der eines seriösen Wissenschaftlers unwürdig ist – nein, es grenzt auch an Vermessenheit, dieses Buch von einer dritten Person ins Deutsche rück­übersetzen zu lassen, um es dann zu betiteln Ein gefährliches BuchDie Germania des Tacitus und die Erfindung der Deutschen. 

Die ideologisch motivierten Ausführungen und Betrachtungen erregen beim Verfasser dieser Zeilen – selbst ein Klas­si­­scher Philologe – Unverständnis. Der deutsche Buchtitel trifft im Grunde nur auf sich selbst zu: ein gefährliches Buch! 

Zur Entlastung des Kollegen muss man aber wohl sehen, dass der Autor schon einer Ge­neration entstammt, die von der Erlebnisgeneration des Nationalsozialismus  bereits so weit entfernt ist, dass sie diesen nur noch aus Schulbüchern kennt und heute den Begriff Nazi inadäquat und inflationär für jeden gebraucht, der nicht seinen po­li­ti­schen Standpunkt vertritt. 

Ein fünftes und letztes Beispiel entstammt dem kirchlichen Bereich: Das be­kann­te und eingängige Lied “Herr, Deine Liebe“ ist relativ jungen Ursprungs (1968) und entstammt eigentlich einer Ferienfreizeit in Skan­dinavien. Es wurde in vielen Sprachen vertextet (nicht: übersetzt), und hat zumindest in der deut­schen Version die Eigenart, eines Reimes zu entbehren. 

Man kann sagen, dass der Text sich der Melodie unterordnet: 

Gud kärlek är som stranden och som gräset 

(schwedisches Original von Anders Frostenson, 1968) 

Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer 

(Übersetzung von Erst Hansen, 1970 – wörtlich übersetzt  bis auf die Metathese) 

 Lord God, your love is like a rolling valley“ (angelsächsische Version; etwas freier) 

Nicht zufällig stammen Text (Anders Frostenson; s.o.) und Melodie (Lars Åke Lund­­­berg) aus dem Jahre 1968. Die später 60er Jahre waren geprägt von der Sehn­sucht nach Auf­bruch und Veränderung, vom Vietnamkrieg und entsprechender Ge­gen­bewegung, von Stu­denten-Unruhen sowie dem Streben nach internationaler So­li­da­rität. Diesem letztgenannten Gedanken entstammt auch die folgende Textzeile (Strophe 4): 

Freiheit, sie gilt für Menschen, Völker, Rassen

Da hier – wie erwähnt – kein Reimschema besteht, ergibt sich auch keine interne oder ex­terne Entsprechung für “Rassen“. – Gleichwohl ist der Text natürlich ge­schützt, so dass er nicht ein­fach im Nachhinein folgenlos verändert werden könnte. 

Der Terminus der Rasse ist seit neuestem aber nicht mehr politisch korrekt; er gilt als rück­­wärtsgewandt und unbotmäßig – kurzum: “rassistisch“. 

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5 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD, unter dem bayrischen “Rats­vor­sit­zen­den“ Bedford-Strohm) hat daher jüngst beschlossen, nicht die Zeile, nicht die Stro­phe – nein: das gesamte Lied (umfassend neun Strophen) aus dem Evangelischen Ge­sang­buch (EG) entfernen zu lassen; es sei unzeitgemäß. Diese Gedanken ergehen aus­­gerechnet in einer Phase von Kirchen-Austritten, die man ob ihrer Masse (evan­ge­lisch und katholisch) als historisch bezeichnen muss. 

Wir sehen: Von Politik und konformistischen Medien erzwungene Traditionsbrüche ma­chen auch vor Kunst, Kirche und Kultur nicht halt. Ein römischer Schriftsteller, des­sen Œuvre seit Jahr­hunderten gelehrt und gelesen wird, der aus naheliegenden Grün­den niemals fa­schi­s­toides Gedankengut hätte entwickeln, geschweige denn ver­öf­fent­li­chen können, wird zum Indoktrinator führender Nationalsozialisten stilisiert. 

Emil Nolde, ein expressionischer Maler, der seit Jahrzehnten exemplarisch für diese Kunstrichtung steht und zahllose Aquarelle von bleibendem Wert geschaffen hat, gilt plötzlich als Ras­sist, als Antisemit und als Freund der Nazis, obwohl er im Dritten Reich als “Ent­art­eter Künstler“ mit einem Ausstellungsverbot belegt wurde. 

Solche postbiographischen Manöver sind im Grunde nur möglich, weil heute Poli­tik, Medien und große Teile der Gesellschaft einer unhistorischen Desavouierung Einzel­ner kei­ner­lei Wi­der­stand bieten – im Gegenteil: Es wurde etwa seit der Jahr­tau­send­wende ein a­histo­­ri­sches Klima des Tra­di­tions­un­be­wusst­seins ge­schaffen, das es heute er­möglicht, ohne kir­chliche oder kulturelle Bin­dung, politische Heimat oder ideelle Ver­­wur­zelung Halb- oder gar Unwahrheiten zu ver­breiten, ohne dass dies nen­nens­wer­te Kon­se­quen­zen hätte. 

Fazit: Ein inzwischen etabliertes politisch-mediales System in Deutschland vereinnahmt derzeit die Tradition für seine eigene Ideo­lo­gie – ’erneut’ muss man hinzufügen. Denn das war früher so – und ist es auch heute noch: Eine Politik, die ethno­lo­gisch völlig neutrale Be­griffe wie Volk, Rasse oder eben Tradition plötz­lich in­frage stellt, um bei bestimmten Alters- und Wählergruppen zu punk­ten, ist op­por­­tu­ni­stisch – und feige, wenn sie sich nicht der eigenen Ver­gangen­heit zu stel­len ver­mag. 


Christian T. Petersen ist Historiker, Indogermanist und Theologe 

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