Tichys Einblick
Erlebnisbericht aus dem Flut-Gebiet

Die Kraft des Wassers ist gewaltig – und ebenso die Solidarität der Betroffenen

Zu Besuch in der Heimat, als das Wasser über sie hereinbricht. Die Solidarität ist beeindruckend. Sie zeigt, wie wichtig Gemeinschaften aller Art sind – und wie unwichtig die Besuche von Politikern.

© Stefanie Claudia Müller

Die Bilder hatte ich schon so oft im Fernsehen gesehen. Immer wieder schien es mir unglaublich, wie aus einem Rinnsal eine reißende Flut wird und welche zerstörerische Kraft das Wasser hat. Eigentlich war ich zum Urlaub in meine Heimat gekommen. Am Montag saß die Familie noch friedlich beim Lieblingsitaliener auf der Terrasse in Euskirchen. Gelästert wurde über die Tante, die sich wunderte, dass wir trotz „Unwetterwarnungen auf allen Kanälen noch durch die Gegend fahren“. Auch ich konnte angesichts der Sonne in meinem Gesicht nur müde lächeln über die Schreckensmeldungen aus dem Radio. Am nächsten Tag besuchten wir jene Tante und ihren Mann in Jülich. Es wurde viel über das drohende Unwetter geredet. Die abendliche Rückfahrt nach Kreuzweingarten war bei unaufhörlichem Regen schon mühsam.

Wenn die Angst nicht groß genug ist

Mittwoch kam dann die erste Warnmeldung aus dem Mietshaus in Euskirchen. Dort wurde befürchtet, dass angesichts des anhaltenden Regens der Keller volllaufen könnte. Wir fuhren hin, schauten es uns an, aber eine Mieterin entwarnte: „Der See vor dem Keller ist zurückgegangen. Es hört jetzt auch auf zu regnen“, sagt sie entgegen aller Wettervorhersagen voraus. Wir wollten dennoch Sandsäcke holen. Eigentum verpflichtet immerhin. Die waren jedoch in der ganzen Stadt ausverkauft. Das war kein gutes Zeichen. Richtig ernst nahmen wir die hochgeschworene Gefahr aber immer noch nicht. Allerdings leben wir auch auf einem Berg. Um 22 Uhr ging dann das Licht aus in dem rund 1000-Seelen Dorf Kreuzweingarten. Schnell wird klar, dass es kein gewöhnlicher Stromausfall ist. Die Nachbarn versammeln sich auf der Straße. Die Kindheitsfreundin aus den USA ist da, der Sohn der Nachbarn taucht aus dem Dunkeln auf. Wir lachen noch zusammen, als wir bei einer alleinlebenden Nachbarin den überschwemmten Keller gemeinsam mit Taschenlampen und Kehrschippe leeren.

Journalismus
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Weil wir auf einem Hügel wohnen, konnten wir nicht wissen, was inzwischen unten im Dorf passiert war: Der kleine Fluss Erft hatte Ställe mitgerissen und Autos durch die Gegend gewirbelt. Es hatte sich über den Wiesen ein riesiger See gebildet, der in den unteren Lagen im Nachbardorf Arloff zu einer menschlichen Katastrophe und einigen Toten führte. Die nicht weit weg gelegene Steinbach-Talsperre drohte zudem zu brechen. Menschen wurden um Mitternacht aus den umliegenden Dörfern rasant evakuiert. Alles das wussten wie erst am nächsten Morgen, als wir vor unserem mit Batterien betriebenen Radio in der Küche saßen.

Bisher wurden im Kreis Euskirchen 26 Tote gezählt. Einige erzählen von Leichen in Flüssen und toten Kindern in Bäumen. Sicher ist, dass das italienische Restaurant, wo wir am Montag saßen, komplett zerstört wurde, genau wie die gesamte Innenstadt. Nach der Pandemie nun das Aus des Einzelhandels und der Gastronomie durch die Flut. Erneut warten viele Läden auf staatliche Hilfen, um diese Krise zu meistern. Das Zentrum des malerischen Kurorts Bad Münstereifel, wo ich zur Schule gegangen bin, wurde ebenfalls innerhalb weniger Stunden zerstört. Der Fluss hat die gesamte Fußgängerzone weggerissen. So viele Menschen stehen dort vor dem wirtschaftlichen Aus. Wie schäbig fühlen wir uns auf dem Hügel, wo schon ein paar Tage ohne Strom und Telefon wie eine Katastrophe erscheinen, das größte Problem aber die Internetstörung ist. Menschen stehen auf der Straße mit ihren Handys, ich auch, während unten viele Familien vor dem Ruin stehen.

Menschliche Irrationalität ist die Hauptursache für die Katastrophe

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Wieder einmal hatte ich Gefahr nicht ernst genommen. Das war mir schon bei der Pandemie passiert, als ich trotz der Horrorbilder aus Italien dachte, in meinem Zuhause in Madrid verschont zu bleiben. Ich dachte, dass die Medien mal wieder übertreiben, uns Angst einjagen wollten, genau wie die Politiker. Ich ging noch auf die Frauendemo in der spanischen Hauptstadt und eine Woche später saß ich dann im schlimmsten Lockdown von Europa. Ich bekam den Virus nicht, aber die Medien berichteten über die Hunderten von Toten in wenigen Tagen. Als dann der große Schnee im Januar Anfang dieses Jahres nach Madrid kam, ging ich am Abend der Katastrophe noch ins Theater. Wie jetzt hatte ich auch die vorherigen Male Glück gehabt oder einen sehr guten Schutzengel. Andere blieben stecken im Schnee oder wurden von umstürzenden Bäumen getroffen. Aber diese Flut hat alles verändert. Noch nie habe ich die tödlichen Folgen einer Naturkatastrophe aus solcher Nähe erlebt.
Wenn Besitz zum Gefängnis wird und Vernunft zur Ausnahme

Haus und Heim sind für viele Menschen alles, an dem sie sich festhalten können, vor allem im Alter. Egal, ob sie zur Miete wohnen oder Eigentum besitzen, aus ihren vier Wänden wollen sie nicht weg. In meinem Dorf in Kreuzweingarten wohnen viele Menschen über 80 Jahre, die sich bewusst dafür entschieden haben, dass sie nicht mit ihren Kindern, einer Hilfsperson oder in einem Heim leben wollen. Selbst wenn das Wasser ihnen buchstäblich bis zum Hals steht, wollen sie ihr Zuhause nicht verlassen. Nach der Flut wollten einige die Nacht in dem völlig nassen und zerstörten Haus verbringen. Es scheint wahnsinnig, aber auch zutiefst menschlich.

Galgenhumor macht sich breit. Einige ältere Menschen sitzen auf dem Schutt vor ihrem Haus, als wollten sie es vor Plünderern bewachen. Noch nie habe ich so viel Verzweiflung in so kurzer Zeit gesehen.

Menschliche Irrationalität ist die Hauptursache für dieses Desaster. Wir sind keine Maschinen, wir leben nach Emotionen und lassen uns von Gefühlen leiten. Deswegen wollen Menschen nicht nur oft ihr Haus nicht verlassen, wenn Gefahr droht, sie wollen auch oft in der Nähe von Wasser wohnen, weil das romantisch ist, weil der Blick aufs Meer oder einen Fluss so schön ist und die Wahrscheinlichkeit einer Überschwemmung nicht so hoch scheint. Deswegen sind einige Immobilien in dieser durch die Wetterkapriolen immer gefährlicher werdenden Umgebung dennoch Millionen wert. Es gibt schließlich Versicherungen für die Risiken argumentieren die Verkäufer. Eine Überflutung, so denken viele Käufer, passiert vielleicht einmal im Jahrhundert. „Dann bin ich schon tot“, mag so mancher denken. Aber die Kapriolen der Natur haben für uns immer größere Folgen, weil sie häufiger auftreten, aber auch weil wir immer mehr besitzen und überall sein wollen.

Ein Haus in gefährdeter Lage – ohne die richtige Versicherung

Für Überflutung ist eine Elementar-Versicherung notwendig. Diese ist so teuer für Besitzer, die in der Nähe des Wassers wohnen, dass sie diese meist ausschlagen. Und dann ist sie plötzlich da die Flut. Diesmal hat sie Freunde getroffen, die gerade aus dem Urlaub kamen, andere wurden bei Nacht überflutet, andere evakuiert. Vor allem trifft es die, die kein Geld hatten für die richtigen Absicherungen.

Überragend ist jedoch die Solidarität, die ich in diesen Tagen erlebt habe. Sie zeigt, wie wichtig Gemeinschaften aller Art – und wie unwichtig dagegen die Besuche von Politikern sind, die in den lokalen Medien interessanterweise kaum erwähnt werden.

Haus- oder Dorfgemeinschaften, Kirchen, Junggesellenvereine und die Freiwillige Feuerwehr haben das große Leid gemildert in diesen Tagen. Das öffentliche Krisenmanagement hat dagegen in einigen Kreisen wie in Ahrweiler komplett versagt, wo über 100 Menschen bis jetzt gestorben sind und immer noch viele vermisst werden.

Beispielhafte Solidarität und kleine Wunder

Die Jugend, über die so geschimpft wurde in der Pandemie, sie packt dagegen diesmal mit an ganz ohne Murren, obwohl die Aussichten für sie immer düsterer werden. Sie bilden Solidaritätsketten, starten Spendenaufrufe. Alle Enkel und Töchter kommen aus der Ferne angereist, um zu helfen. Sie kochen Suppe für die Helfer, schleppen den Schrott raus.

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Was wir daraus lernen: Wir sollten Katastrophen-Warnungen jeder Art ernst nehmen. Der Staat muss uns nicht konstant vorschreiben oder uns gar zwingen, vernünftig zu sein. Wir können nicht gegen Naturkräfte handeln und sollten endlich aufhören, zu zementieren und bauen, wo Überflutungen drohen. Und alte Leute sollten über die Sorge der Angehörigen nachdenken, wenn sie auf Biegen oder Brechen allein leben wollen.

Es gab auch kleine Wunder in diesen Tagen: Eine Marienfigur, die in Kreuzweingarten beschützend an einer Brücke über der Erft stand und am Mittwochnacht mit der Flut heruntergerissen worden war, gelangte nach wenigen Tagen völlig unversehrt in den Hausstand eines Ehepaares, das die Statue erst einmal aus Ehrfurcht wieder in die Dorf-Kirche stellte, in deren unmittelbarer Nähe sie wohnen.