Tichys Einblick
Nicht niedlich

Ein bisschen Bayern, ein bisschen Ruhrgebiet – das Saarland sucht seine Identität

Die Saarländer wählen an diesem Sonntag voraussichtlich die beiden alten Volksparteien. Sie ahmen damit die alte Bonner Republik nach. Denn eine ehrliche Identität haben sie nur bedingt entwickelt – sie würde auch manchen überraschen.

Trambahn vor dem Rathaus in der Innenstadt von Saarbrücken

IMAGO / Ralph Peters

Devote Aufsässigkeit. So hat der Komiker Emmanuel „Alfons“ Peterfalvi einst den Nationalcharakter der Saarländer recht zutreffend beschrieben. Er selbst stammt aus Paris und gab als Kunstfigur einen französischen Wirt. Das macht ihn für die ARD zum Vertreter der saarländischen Kultur. Denn dem Land mangelt es an eigenen Künstlern, die seinen Landescharakter beschreiben könnten. Zumindest wenn der eine nicht verfügbar ist – der alle anderen überstrahlt.

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Wenn einer die devote Aufsässigkeit der Saarländer je künstlerisch verarbeitet hat, dann ist es der Kabarettist Heinz Becker mit seiner Kunstfigur des Gerd Dudenhöffers. Oder war es umgekehrt? Und der Becker Heinz ist die Kunstfigur, die den Saarländer so genau beschrieben hat, wie es seine Literaten nie vermocht haben? Vom Barock bis zur Moderne hat das Saarland jedenfalls keine großen Autoren hervorgebracht. Ludwig Harig wurde mal von den kulturellen Eliten als solcher aufgebaut. Ein netter Mensch mit netten Büchern. Sein Bekanntheitsgrad dürfte aber selbst im Saarland nie zweistellig geworden sein.

Das hat außer dem Becker Heinz keiner geschafft. Die lesenswerteste saarländische Autorin ist heute Beatrice Sonntag. Das Pseudonym einer Reiseschriftstellerin aus Illingen. Vielleicht ist kaum etwas so saarländisch wie die Sehnsucht, weg zu wollen. Über Jahrzehnte hat das Saarland einen Aderlass unter den jungen Menschen erlebt, denen es beruflich nicht genug zu bieten hatte. Nicht als der Bergbau noch florierte, erst recht nicht, als es mit ihm zu Ende ging.

Sonntag stammt aus Illingen. Nirgendwo ist das Saarland so saarländisch wie in Illingen. In wirtschaftlich besseren Zeiten hat der Höll mitten im Ortskern Fleisch verarbeitet. Der beste Lyoner, also Fleischwurst, des Landes wurde dort gemacht. Ansonsten war Illingen ein Wohndorf. Eines, das in den 50er und 60er Jahren expandierte. Die Stahl- und Bergwerke waren im Süden des Landes und ihre Arbeiter zogen Meter um Meter nach Norden, weil dort Platz war für das eigene Haus.

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Das Saarland hat die höchste Eigenheimquote in Deutschland. Die höchste Immobilität ausgerechnet in einem Bundesland, das so viele seiner klügeren Köpfe an Köln, Mainz, München oder Berlin verloren hat. Das Saarland ist klein. Aber das heißt nicht, dass es nicht genug Platz hätte für eine Vielzahl an Mikrokosmen. Limbach liegt gerade mal 20 Kilometer von Heusweiler entfernt. Trotzdem sind die Dialekte so unterschiedlich, dass Schüler, die aufs gleiche Gymnasium gehen, sich bemühen müssen, um sich gegenseitig zu verstehen.

Das Saarland ist das kleine Bayern. Die Menschen hier trinken pro Kopf mehr Bier als die zwischen Main und Alpen. Auch gibt es pro Kopf mehr Katholiken. Doch das Saarland ist auch das kleine Revier. Seine wirtschaftliche Struktur ist am besten mit der von Essen, Dortmund oder Gladbeck zu vergleichen. Im Guten einst wie heute im Schlechten. Das Saarland ist klein, aber es hat die Probleme einer postindustriellen Nation.

Soll bloß keiner das Saarland für niedlich halten, bloß weil es klein ist. Von den ersten Verhafteten der terroristischen „Sauerland-Gruppe“ stammte die Hälfte aus dem Saarland. In den 80ern kamen die Männer aus der Türkei, um die Plätze in Gruben und Stahlwerken zu besetzen, die Deutsche da schon nicht mehr ausreichend besetzen wollten. Sie wurden angelockt mit dem Versprechen, als reiche Männer nach Hause zu kehren. Doch sie sind hier geblieben und nur wenige sind reich geworden. Jetzt müssen sie mit dem postindustriellen Land leben, das sein Versprechen auf Wohlstand durch Arbeit nicht mehr erfüllt.

Egal ob deutsche, türkische oder italienische Wurzeln. Vielen schlägt die postindustrielle Gesellschaft aufs Gemüt. Besonders dort, wo früher viel gearbeitet wurde. In Neunkirchen etwa oder in Völklingen oder in Saarbrücker Stadtteilen wie Burbach. Tages-Trinker finden sich hier, ungewaschene Menschen, Süchtige an der Nadel, Hoffnungslose. Es ist der Abgrund, in den auch der kleine Pascal in Saarbrücken gestürzt ist.

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Seine Leiche wurde nie gefunden. Was ihm in der Saarbrücker „Tosa-Klause“ wiederfahren ist, wurde vor Gericht verhandelt: Menschen, die sich in einer versifften Kneipe an einem Kind vergehen. Weil ihnen der Anstand fehlt, weil ihnen die Fallhöhe fehlt, einem kranken Trieb nicht einfach nachzugeben, um ein Kind nicht zu Tode zu quälen. Anständig zu bleiben. Menschlich. Die Tosa-Klause war sehr klein, sehr saarländisch – aber überhaupt nicht niedlich. Die Welt hat sie „die Hölle“ genannt – die Welt hatte recht.

Nun werden schon manche mit den Hufen scharen, um endlich loszuwerden, dass das Saarland nicht überall so sei. Und auch wenn sie es nicht gerne hören, zumindest nicht, bevor sie sich den Frust von der Seele geheult haben: Sie haben recht. Das Saarland ist nicht die Tosa-Klause. Aber es gibt die Tosa-Klause im Saarland.

So wie es den Nordwesten im Saarland gibt. Mit dem natürlichen Emblem, der Saarschleife, mit Waldreichtum und Weinbau. Wo die Lebensweise tatsächlich so französisch ist, wie sich das manche außerhalb des Landes gerne romantisierend vorstellen. Es gibt den Bliesgau im Südosten mit seinen historischen Fundstätten oder Homburg, das sich aus früheren Tagen einen bayerischen Charakter bewahrt hat. Es gibt Saarbrücken, wohin dank offener Grenzen die französischen Nachbarn mittlerweile zum Einkaufen und Flanieren kommen. All das gibt es im Saarland – aber es ist nicht das Saarland.

Nichts ist das Saarland. Es ist ein politisches Kunstprodukt. Eine Ansammlung kleinster Landstriche, die bis 1919 den unterschiedlichsten Monarchen gehört haben und dann von den Siegern des Ersten Weltkriegs zu einer Einheit gepresst wurden. Zu einer Einheit, zu der sie erst finden mussten, obwohl es an Literaten oder Sängern fehlte, die das hätten formulieren können. Menschen, die unter Adenauer nichts sehnlicher wollten als zurück nach Deutschland. 66 Prozent stimmten dafür. Über 90 Prozent waren es, die 1935 „heim ins Reich“ wollten. Unter Hitler. Das Saarland ist nicht niedlich.

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Es hat ihm die eigene Identität gefehlt. Als letztes beigetretenes Land der Bonner Republik wurde es von der nie wahrgenommen. Ein Schattengewächs. Am westlichen Zipfel des Landes gelegen. In Frankreich versinkend – und in Luxemburg. Deswegen liebten die Saarländer Oskar Lafontaine. Nicht wegen seinen politischen Vorstellungen. Wahrscheinlich nicht einmal wegen seiner devoten Aufsässigkeit. Sondern weil sie wahrgenommen wurden durch ihn. Bundesweit. Zum ersten Mal. Deswegen schenkten die eigentlich konservativen Wähler Lafontaine 1990 das zweitbeste Wahlergebnis der Landesgeschichte. Aus dem gleichen Grund liebten sie später den Becker Heinz. Weil er ihnen eine Identität geschenkt hat. Aufmerksamkeit.

Um Dudenhöffer ist es ruhiger geworden. Im woken Wokistan sind manche seiner Witze nicht mehr staatstragend genug für das Staatsfernsehen: „Einwanderung? Wenn ich das höre. Es Hilde und ich, mir gehn ach ab und zu wandern – aber mir gehn obends wieder hemm.“ Oder: „Heute bist du ja schon ein Rassist, wenn du in der Pizzeria den Teller net leer isst. Aber wenn du genug bezahlst, kannst du dir noch die Farb‘ von der Handgranat‘ aussuchen.“

Eine saarländische Identität gibt es nach dem Aus der Kohle nicht mehr. Höchstens eine saarländische Realität, und die heißt Illingen: im eigenen Haus leben, mit Parkplätzen für eine Kompanie an Autos. Möglichst morgens zur Arbeit fahren. Und wenn das nicht geht, dann irgendeine Tätigkeit so ernst nehmen, als ob es Arbeit wäre. Sei es der Kaninchenzuchtverein oder auch nur der Einkauf im Supermarkt. Eine Volkspartei wählen, in der AOK versichert sein und einen Vertrag bei der Telekom haben. Wenn man schon keine eigene Identität hat, dann die der anderen Deutschen camouflieren. Es ist kein Zufall, dass die beste Autorin, die von hier kommt, ausschließlich über woanders schreibt.

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