Tichys Einblick
„A sense of malaise“

Quo vadis EU-Europa?

Europa als sinnvolles Projekt, in dem die unterschiedlichen Staaten „In Vielfalt geeint“ („In varietate concordia“) sein sollten, mutiert zum Projekt weitestgehender Gleichschaltung. Als sehr viel passenderes Motto der EU schlage ich vor: „In Einfalt zerstritten“.

@ Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

„Yet there is a sense of malaise in Europe. A life dedicated to prosperity and pleasure no longer seems so assured.“ So schrieb mir gerade ein englischer Freund nach Rückkehr von seinem letzten Besuch auf dem Kontinent. „A sense of malaise“ – eine ebenso elegante wie treffende Formulierung, der Nutzen eines Studiums in Cambridge zeigt sich deutlich. Allerdings scheint dieses Gefühl nicht auf Europa beschränkt zu sein, in den USA ist es womöglich noch ausgeprägter.

Wir leben in einem Zeitenwandel, den wir alle schlicht verpennt haben. Mit dem Fall der Mauer war nicht nur der Ost/West – Konflikt, sondern auch das schablonenhafte Kommunismus/Kapitalismus und links/rechts – Denken obsolet geworden. Keiner hat es gemerkt, alle machten weiter wie bisher. Die „Sieger“ eroberten die Welt, wurden grenzenlos übermütig und haben den Bogen komplett überspannt. Natürlich taugt der Kommunismus/Sozialismus nichts, aber muss man deshalb gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Die Staaten verschrotten, Grenzen auflösen und eigene Utopien des kosmopolitisch-fundamentalliberalen Weltbürgers an die Stelle der kommunistischen Internationalen setzen? Dabei aber zugleich die Bürokratie ins Uferlose wachsen lassen, weil das nun einmal die notwendige Folge ist, wenn man – egal welche  – illusionistischen Utopien umsetzen will?

Europa als sinnvolles Projekt, in welchem die unterschiedlichen Staaten „In Vielfalt geeint“ („In varietate concordia“) sein sollten, mutiert zum Projekt weitestgehender Gleichschaltung. Als neues und sehr viel passenderes Motto der EU schlage ich vor: „In Einfalt zerstritten“.

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Hinzu kommt das Gefühl, dass viele Politiker offenbar Opfer ihrer eigenen Propaganda wurden. So ein bisschen kognitive Dissonanz ist ja ganz niedlich, aber wenn man die Realität völlig ausblendet oder verdreht, hat man schon grenzwertig einen an der Waffel. Natürlich fühlen sich dann die Bürger, die das erkennen, nicht gerade beruhigt, wie sollten sie auch?

Und die Presse als Korrektiv, „4. Gewalt im Staat“ , wie sie oft genannt wird, gibt ebenfalls ein trauriges Bild ab, sowohl in Europa wie auch in den USA. Viele – allzu viele – Presseorgane, versuchen sich gar nicht mehr als objektive Berichterstatter, sondern als Erzieher der unmündigen Bürger. Zumeist dem Mainstream verhaftet, fehlt der kritische Diskurs, was den Frust vieler Bürger, die kein Sprachrohr mehr haben, verschärft hat.

Zeitenwandel verschlafen

Die tabloids in England sind nicht besser, sie trieben als vermeintliches Sprachrohr des kleinen Mannes die Politik z. B. in der Brexit-Frage vor sich her und haben jede noch so falsche Behauptung oder Zahl über die Kosten der EU und die Gewinne des glorreichen Austritts gerne und oft verbreitet. Stets schrieben sie gegen die „eggheads“ aus „Oxbridge“ an, die aus ihrem Elfenbeinturm heraus die Sorgen der Armen oder „jams“ (just about managing) nicht verstanden. Das sind diejenigen, die ihre einfachen Jobs an die Billigkonkurrenz aus asiatischen oder osteuropäischen Ländern verloren haben und die sich „definitly pissed off“ fühlten, wenn irgendwelche liberalen Vordenker das als win-win-Situation für alle darstellten. Sie hatten dadurch nichts gewonnen, im Gegenteil – zählten sie nichts? Es fühlten sich aber auch die in ländlicheren Gegenden Lebenden angesprochen, die London nur noch grauslich verrottet und schmutzig finden, wobei diese durchweg sogar höher gebildet sind, aber diese Form von Internationalität als nicht wünschenswert ablehnen.

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Diese Spaltung der Gesellschaft zwischen denen, denen es gut geht und die sich irgendwelche abwegigen Weltanschauungen und angeblich hochnoblen Gesinnungen leisten können, und denen, die sehen müssen, wie sie durchkommen oder einfach eine ganz andere Verbundenheit zu traditionellen Werten haben, hat in den USA zu Trump und in Großbritannien zum Brexit geführt. Die absolute Taub- und Blindheit der Regierenden, die immer weiter auf ihrem Weg gingen und anderen diesen Weg aufzwangen, weil sie keinen anderen als richtig gelten lassen konnten (und können), hat genau dazu geführt. Schließlich ist seit 1687 bekannt: „Every action has an equal and opposite reaction.“ (Isaac Newton)

Nirgendwo in Europa sieht es wirklich anders oder besser aus, wenngleich der Schreck über Trump und Brexit allen in die Glieder gefahren ist. Das hat erst einmal gebremst.

Dennoch sind wir am Ende des Regenbogens angekommen. Keine der eingebauten Sicherungen hat funktioniert. Unser System, gebaut für eine andere Zeit, versagt. Es führt vor allem dazu, dass viele Menschen sich unterdrückt fühlen. Sie bemerken enttäuscht, dass man in einer Demokratie genau so beherrscht und fremdbestimmt wird wie in vielen anderen Staatsformen. Es ist schlicht Unfug, in der Demokratie eine Form der Selbstbestimmung zu sehen, denn die Mehrheit bestimmt nun einmal über mich. Genau deshalb wurden ja auch als Gegengewicht die Menschenrechte und der Rechtsstaat erfunden. Diese wären überflüssig, würde jeder über sich selbst bestimmen. Allerdings ist dieser Grundrechtsschutz so löchrig wie ein Schweizer Käse.

Es ist also etwas faul im Staate. Hilft es, dagegen anzuschreiben?

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Das könnte etwas helfen, wenn die Adressaten, z. B. Politiker, in der Lage und willens wären, ernsthaft etwas zu ändern. Dem ist aber nicht so. Zwar gibt es einzelne Politiker gerade in der Nähe zur Basis, die sehen, dass etwas ganz erheblich falsch läuft. Aber die kommen nicht hoch, denn oben in der Führung sitzen nur wenige, die entscheiden, was getan wird. Die aber sind – wie das stets so üblich ist – umringt von Opportunisten, denn anders kommt man in solchen Systemen nicht hoch. Und die Angst vor dem Verlust lukrativer Pöstchen tut ein Übriges. Fr. Merkel hat nicht etwa alle Führungsköpfe gezielt „erledigt“, das musste sie gar nicht. Kritik ist nur einfach unerwünscht und führt zu nichts. Das aber machen echte Führungspersönlichkeiten nicht mit, sie gehen. Echte Führungspersönlichkeiten von außerhalb tun sich umgekehrt Politik nicht an, warum sollen sie auch.

So ist keiner da, der es ändern könnte.

Wie konnte es dazu kommen?

Holen wir die Problematik doch einfach mal von den olympischen Höhen staatstheoretischer Überlegungen und Weltanschauungen in simple Bodennähe. Politische Parteien sind Dienstleistungsunternehmen, der Bürger Konsument und zwar der Dienstleistung  „Staatsmanagement“. Es ist eine etwas spezielle Dienstleistung, denn nicht jeder Empfänger von Serviceleistungen weist eine ausreichende Dankbarkeit auf. So wird der Servicewert von Abbruchverfügungen, Entzug der Fahrerlaubnis, Bußgeldbescheiden u. ä. oft nicht ausreichend geschätzt. In diesen wie in anderen Fällen ist auch die Qualitätssicherung nicht ganz trivial, kann man doch z. B. einen Strafgefangenen nach Vollzug kaum fragen: „Wie waren Sie mit Ihrer Unterbringung zufrieden? Wie beurteilen Sie Verpflegung sowie Freizeit – und Wellnessangebote? Würden Sie unser Komplettpaket „Staatliche Betreuung“ an Freunde und Verwandte weiterempfehlen? Und dürfen wir uns auf eine neue Buchung freuen? Für Rabattangebote bitte klicken Sie hier.“

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Dennoch bleibt es bei der Tatsache, dass Parteien nichts anderes als Unternehmen sind, die  Dienstleistungen zur Organisation des Gemeinwesens anbieten, wobei das Angebot nicht nach Qualität oder Kompetenz in diesem Bereich, sondern ausschließlich nach Gesinnung differiert. Der Bürger als Konsument entscheidet alle vier Jahre, welches Angebot er am attraktivsten findet, wobei die Verpackung und die Werbebotschaften durchaus wichtig sind. So wie „Persil, da weiß man, was man hat. Schönen guten Abend!“. Schon Omi hat gute Erfahrung mit Persil gemacht, da nehme ich das doch auch, sagen sich viele. Denn wirklich beurteilen, was gut ist – wer kann das schon!

In der Wirtschaftswissenschaft nennt man das „Asymmetrische Information“, was als eine der Hauptursachen von Marktversagen gilt. Hoppla – da haben wir doch schon einmal einen sinnvollen Erklärungsansatz. Marktversagen des politischen Marktes, das trifft es ziemlich gut.

Marktversagen im Politikmarkt

Die meisten Bürger können eben nicht abschätzen, ob der Euro oder die Euro-Rettungspolitik sinnvoll waren. Man hat ihnen beigebracht, die Atomkraft mehr zu fürchten als den Besuch der Schwiegermutter und dass man niemanden nie nicht keine Grenzen setzen darf. Schon kleinen Kindern nicht, mit denen muss man alles aushandeln, was man isst, was man wie spielt – Grenzen in jeder Form sind böse. Keiner kennt sich so ganz genau mit Kinderpsychologe aus und kann überprüfen, ob das wirklich richtig ist, aber egal. Gleiches gilt für die Funktionsweise von Integration oder von Grenzsicherungen, für Wirtschaft, Gesundheitswesen, Außenpolitik usw. Muss er ja eigentlich auch nicht, denn unsere Zivilisation basiert auf Arbeitsteilung, nur so wurde Fortschritt überhaupt möglich. Keiner kann alles wissen, dafür gibt es Fachleute. Aber dann kann und muss der Bürger als Konsument auch keine ausreichenden Informationen haben, um eine vernünftige politische Entscheidung treffen zu können, es muss zum Marktversagen kommen!

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Liest man ein wenig mehr über Marktversagen, so findet man als weitere Ursache Monopole oder Oligopole. Und wieder hoppla – passt doch genau. Alle Parteien als Staatsmanager arbeiten in wechselnden Besetzungen zusammen. Ein Verhalten, welches bei Parteien normal ist, würde in der Wirtschaft sofort die Kartellbehörde auf den Plan rufen. Aus gutem Grund, wie man sieht. Denn es gibt praktisch keine Konkurrenz mehr. Der Konsument wird durch die Presse außerdem oft einseitig informiert, die ihrerseits sogar zum Teil in der Hand der Staatsmanager ist. Das führt dazu, dass sich die Dienstleistungsangebote an die Konsumenten sehr ähneln (können), weil die Nachfrage beeinflusst wurde. Der Einheitsbrei wird dadurch verstärkt, dass die Sozialisation, d. h. schulische und weitere Bildung, ebenfalls in der Hand derselben Staatsdienstleister liegt, die nachher die Abgänger als Konsumenten benötigen. So hat der Anbieter auf die Nachfrageseite von vornherein erheblichen eigenen Einfluss, aus seiner Sicht traumhaft, ein Oligopol, das auch noch die Nachfrage weitgehend beeinflussen kann. Das alles ist aber eine geradezu schreiende Marktverzerrung, was ganz logisch zum Marktversagen führen muss.

So kann das doch schon vom Ansatz her nichts werden. Wie aber könnte das Marktversagen korrigiert werden?

Anne Kann ist freie Publizistin.