Tichys Einblick
Ohne Grundgesetzänderungen geht nichts

Pistorius konkretisiert Deutschlands „Kriegstüchtigkeit“

Um Deutschland kriegstüchtig zu machen, sind zusätzlich Zigtausende Soldaten und eine dreistellige Milliardensumme nötig. SPD-Verteidigungsminister Pistorius will dafür an die Schuldenbremse und die Wehrpflicht wieder einführen, auch für Frauen. Für beides ist eine Grundgesetzänderung nötig.

picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt
Natürlich hat alles mit Russlands völkerrechtswidrigem Einfall vom 24. Februar 2022 in die Ukraine und dem seither andauernden verlustreichen Krieg dort zu tun. Natürlich hat alles damit zu tun, dass die Bundesregierungen ab 1994 auf Friedensdividende machten und die Bundeswehr kaputtsparten – besser: kaputtschrumpften zu einer allenfalls noch rudimentären Einsatzfähigkeit. Und natürlich hat es damit zu tun, dass sich Deutschland wie die anderen westeuropäischen Länder nicht mehr allein auf den Schutz durch die USA verlassen sollen. Nicht einmal die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 ließ die Alarmglocken schrillen. Zur Erinnerung: Die Kanzlerin hieß damals Angela Merkel und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (beide CDU).

Seit dem 24. Februar 2022 ist alles anders. Putins Russland, das schon vor 2014 massiv hochgerüstet wurde, zettelte einen Krieg gegen eine Ukraine an, die an vier Nato-Länder (Rumänien, Ungarn, Slowakei, Polen) mit Nato-Beistandsgarantie grenzt und gerade eben 600 Kilometer von Deutschlands Ostgrenze entfernt ist. Russland inklusive Oblast Kaliningrad selbst grenzt an die Nato-Länder Finnland, Polen sowie an die drei „Balten“ an.

Nun hat Deutschland seit Januar 2023 mit Boris Pistorius (SPD) mal wieder einen Verteidigungsminister, der nicht auf „bella figura“ macht, sondern Probleme erkennt und zu lösen versucht. Und der Klartext spricht. Dass Deutschland nach seinen Worten „kriegstüchtig“ (sic!) werden müsse, dieses Ziel hat er im November 2023 ausgegeben. Erste Schritte dorthin konnten ab Sommer 2022 mit einem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr eingeleitet werden. Es sind zwar 100 Milliarden Euro Schulden, aber selbst dieser Betrag wird spätestens 2026 aufgebraucht sein, zumal er sich durch Inflationsrate und Schuldenzahlungen auf reale 80 Milliarden Euro Kaufkraft reduziert.

Aber auch im Jahr 2026 wird die Bundeswehr noch lange nicht „kriegstüchtig“ sein, auch wenn ab da die ersten der 35 bestellten F-35-Kampfjets (Kostenpunkt: 10 Milliarden) und der 60 bestellten CH-53G-Transporthubschrauber (Kosten: 7 Milliarden) ausgeliefert werden. Mit der materiellen Einsatzbereitschaft schaut es ohnehin nicht gut aus; sie wird sich mit den 100 Milliarden zwar bessern, aber es sind zunächst vor allem Milliarden, mit denen längst Überfälliges beschafft werden muss. Beispiel Munition: Deren Bestand reicht aktuell gerade mal für wenige Tage einer größeren kriegerischen Auseinandersetzung. Allein 10 Milliarden Euro sind notwendig, um hier die Nato-Vorgabe zu erfüllen: Munition für 30 Tage vorzuhalten.

Pistorius geht medial in die Offensive

Nun ist Pistorius, der schon seit Monaten als angesehenster Minister im Ampel-Kabinett und als „Reservekanzler“ gilt, auch medial in die Offensive gegangen. Am 23. April 2024 konnte das ZDF die 44-Minuten-Doku „Mensch, Pistorius“ bringen.  Am 24. April stand er bei ARD-„Maischberger“ 30 Minuten Rede und Antwort.

Dort und auch sonst macht er derzeit öffentlich zwei große „Fässer“ auf. Er weiß, dass er für seine Pläne nicht nur den Rückhalt der Ampel-Parteien und gegebenenfalls der CDU/CSU-Opposition braucht, sondern dass er die Stimmung im Lande für seine Absichten gewinnen muss. Diese beide Absichten haben es in sich: Pistorius möchte die 2011 von der Merkel-GroKo ausgesetzte Wehrpflicht wieder einführen. Er hält das für Deutschland für „überlebenswichtig“. Und er möchte die Schuldenbremse zugunsten der Bundeswehr gelockert oder gar abgeschafft sehen. Beide Vorhaben sind ohne Änderung des Grundgesetzes nicht möglich.

Thema „neue Wehrpflicht“

Die Wehrpflicht wurde durch Kabinettsbeschluss im Jahr 2011 ausgesetzt. Im Grundgesetz blieb sie als Möglichkeit bis zum heutigen Tag erhalten. Artikel 12a (1) lautet unverändert: „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.“ Pistorius will mehr. Er will auch Frauen gewinnen – nicht nur Frauen, die wie bislang schon freiwillig (!) mit einem Personalanteil von 13 Prozent bei der Bundeswehr dienen.

Pistorius hat sich mit dem neuen Wehrpflichtmodell des neuen Nato-Landes Schweden vertraut gemacht, dieses schwebt ihm wohl vor. Dort erhalten Männer und Frauen zum 18. Geburtstag einen Fragebogen, werden abhängig von den Antworten zu einer Musterung eingeladen und dann zum Teil zum Wehrdienst einberufen. Pistorius beschreibt es so: „Dort werden alle jungen Frauen und Männer gemustert und nur ein ausgewählter Teil von ihnen leistet am Ende den Grundwehrdienst.“ Es ist also eine Art Kontakt-Wehrpflicht. Die jungen Leute sollen einmal im Leben mit der Bundeswehr in Berührung oder gar ins Gespräch kommen, letztlich aber selbst entscheiden, ob sie zur Bundeswehr gehen.

Nach Darstellung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags sieht das 2017 eingeführte schwedische Modell so aus: Im Geburtsjahrgang 2000 gab es 93.000 Männer und Frauen. Alle mussten einen webbasierten Fragebogen zu Motivation, Fähigkeiten und Interessen ausfüllen. Auf dieser Grundlage sollten 11.000 Personen zur Musterung geladen werden, um sie insbesondere körperlich zu untersuchen. Für das Jahr 2019 wollte Schweden am Ende 4.000 Rekruten zum Dienst verpflichten – wobei in der Regel nur Männer und Frauen eingezogen wurden, die auch Interesse geäußert hatten. Der Dienst dauert zwölf Monate und wurde 2019 mit umgerechnet 14 Euro pro Tag vergütet (plus Verpflegung und Unterkunft).

Da es um eine Wehrpflicht geht, müssen nach dem schwedischen Modell aber auch Rekruten eingezogen werden, wenn sich nicht genügend geeignete junge Männer und Frauen interessieren. Es geht eben nicht nur um eine Musterungspflicht, wie manche in Deutschland das Modell derzeit missverstehen. Um ein derartiges Modell in Deutschland einzuführen, wäre zunächst ein Gesetz erforderlich, das die 2011 beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht rückgängig macht. Da die Wehrpflicht in Artikel 12a Grundgesetz (GG) weiter vorgesehen ist, kann der Bundestag sie jederzeit wieder einführen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte bereits 2002 (Urt. v. 20.02.2002, Az.: 2 BvL 5/99) klar gemacht, dass es sich hier um eine freie politische Entscheidung des Parlaments handelt. Neben der Sicherheitslage könnten auch viele andere Faktoren eine Rolle spielen, etwa die Nachwuchsgewinnung, Kostenfragen oder die demokratische Kontrolle der Armee. Dennoch: Das schwedische Modell, bei dem am Ende nur ein kleiner Teil der Männer und Frauen Dienst leisten muss, wäre mit den derzeit geltenden deutschen verfassungsrechtlichen Vorgaben also schwer vereinbar.

Eine Verfassungsänderung wäre auch aus einem zweiten Grund erforderlich: Denn Frauen würden nach geltender GG-Lage nicht erfasst. Die dafür notwendige GG-Änderung dürfte – um die Zwei-Drittel-Mehrheit zustande zu bringen – von CDU/CSU mitgetragen werden. Dort diskutiert man ein eigenes Modell: nämlich ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle Schulabgänger. Bei der FDP kann man sich nicht sicher sein. Die „Grünen“ würden wohl mitziehen, seit sie sich wegen „Ukraine“ von Tauben zu Falken gewandelt haben.

Pistorius hat bei diesen Plänen Rückenwind aus der Bevölkerung. Aktuell sind laut Forsa-Umfrage im Auftrag von „stern“ 52 Prozent der Bürger für einen verpflichtenden Dienst bei der Bundeswehr, 43 Prozent dagegen, 5 Prozent äußern keine Meinung. Die stärksten Befürworter einer Wehrpflicht finden sich mit 59 Prozent in der älteren Generation (60 Jahre und darüber). Bei den 18- bis 29-Jährigen, die persönlich davon betroffen wären, sind 59 Prozent gegen einen militärischen Pflichtdienst. Bei den Jüngeren gibt es zudem Unterschiede zwischen den Geschlechtern: 52 Prozent der jüngeren Männer sind gegen die Wehrpflicht, bei den jüngeren Frauen sind es sogar 68 Prozent.

Auch bei den Anhängern der Parteien sind die Unterschiede groß. Viel Unterstützung für die Wehrpflicht gibt es bei den Wählern der Union (67 Prozent), der AfD (67 Prozent) und des Bündnisses Sahra Wagenknecht (68 Prozent). Uneinigkeit zeigt sich bei den Anhängern der Ampel-Koalition: Die SPD-Wähler sind zu 51 Prozent für eine Wiedereinführung, die Wähler von Grünen (57 Prozent) und FDP (62 Prozent) mehrheitlich dagegen. Eine allerdings nicht repräsentative Umfrage des NDR vom Februar 2024 ergab sogar 66 Prozent Zustimmung zu einer neuen Wehrpflicht.

„Ich denke, ich werde noch im Monat Mai mit einem konkreten Vorschlag rauskommen“, sagte Pistorius bei „Maischberger“. Damit will Pistorius allerdings nicht die Bundeswehr vergrößern. Vielmehr brauche eine kriegstüchtige Armee solche Reservisten, die im Ernstfall (siehe Israel!) zur Verfügung stehen könnten. „Das ist überlebenswichtig“, betonte er. Womit Pistorius’ Argumentation allerdings etwas schräg wird, denn Reservisten hat man erst dann, wenn sie zuvor rund ein Jahr regulär gedient haben und ausgebildet wurden. Inwieweit damit die angepeilte Aufstockung der Truppe von derzeit 181.000 auf 203.000 realisierbar ist, bleibt fraglich, zumal jetzt schon Leute fehlen und 20.000 Dienststellen unbesetzt sind.

Thema „dreistellige Milliardenbeträge“

Mehr Personal, mehr Munition, mehr und moderne Waffensysteme. Nicht mitgerechnet: Militärhilfen für die Ukraine (bislang 32 Milliarden Euro). All das kostet. Allein Litauen-Brigade der Bundeswehr, die bis 2028 mit rund 5.000 „Mann“ stehen soll, schlägt mit mehr als zehn Milliarden Euro zu Buche.

Zudem erforderte der personelle Aufwuchs allein viele Milliarden. Denn für Zigtausende Soldaten, die die Bundeswehr zukünftig zusätzlich haben soll, fehlen allein schon die Kasernen und die Übungsplätze. All das wurde ja nach 2011 verhökert. Auf Kasernengeländen wurden Einkaufszentren errichtet, Übungsplätze wurden zu Naturschutzgebieten oder Sportplätzen. Die Milliarden für den neuen F-35 und für den neuen Transporthubschrauber werden ja noch aus den 100 Milliarden Sondervermögen gezahlt. Wartung und Ersatzteilbevorratung angeblich mitgerechnet.

Pistorius ist hier Realität und Utopist zugleich. Er sagt: „Der Faktor Zeit hat erste Priorität“, das sei eine „klare dienstliche Anweisung an alle beteiligten Dienststellen“. Zudem gelte es, auf „vorhandene Lösungen“ zurückzugreifen, statt auf „individuelle Wünsch-dir-was-Lösungen“. „Goldrandlösungen“ hießen diese Lösungen im Soldatenjargon. Dadurch habe er im letzten Jahr die Prozesse beschleunigen können.

Und dann spricht er etwas aus, was eine weitere Änderung des Grundgesetzes voraussetzt: Die Neuausrichtung der Bundeswehr werde „dreistellige Milliardenbeträge“ kosten, die sich nicht mit Haushaltskürzungen ausgleichen lassen. Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) hatte 2023 gar von einem Bedarf an zusätzlichen 300 Milliarden gesprochen. Deutschland könne es sich allerdings, so Pistorius weiter, nicht erlauben, zur Finanzierung der Verteidigung einen „sozialen Kahlschlag“ in Kauf zu nehmen, der die Gesellschaft auseinandertriebe und unliebsame Parteien fördere. Nun ja, überfällige Kürzungen bei der Alimentation von Hunderttausenden von „Asylbewerbern“ durch Eindämmung dieser Art von Zuwanderung und die Durchleuchtung von höchst erklärungsbedürftigen Milliarden für Entwicklungshilfe sind ja nun wahrlich kein „sozialer Kahlschlag“.

Was Pistorius in Sachen Schuldenbremse fordert, ist jedenfalls klar. Er ist da doch echter Sozialdemokrat. Schulden, Schulden, Schulden – auch wenn sie Sondervermögen heißen. Hier bahnt sich – sofern nicht andernorts gewaltig gespart wird – qua Lockerung der Schuldenbremse ein Dammbruch an, weil dann auch all diejenigen, die auf Klima, Bürgergeld und Kindergrundsicherung machen, Blut lecken.