Tichys Einblick
Kanzlerdämmerung

In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod

Mit der Wahl von Brinkhaus zum neuen Fraktionsvorsitzenden verschärfen sich die Widersprüche und Spannungen innerhalb der Fraktion und mit dem Koalitionspartner SPD. Spätestens beim Thema Fachkräftezuwanderungsgesetz wird nicht nur die Koalition, sondern auch die Unions-Fraktion vor einer weiteren Zerreißprobe stehen.

The Reichstag building, which houses the Bundestag lower house of parliament, is reflected in a puddle, in Berlin on October 5, 2017

© John MacDougall/AFP/Getty Images

Die Zeit der faulen Kompromisse zwischen CDU, CSU und SPD läuft (noch) schneller ab, als es sich anhand der Causa Maaßen in den letzten Wochen schon abgezeichnet hat. Die gegen den ausdrücklichen Wunsch von Merkel, Seehofer und Dobrindt erfolgte Wahl von Ralph Brinkhaus zum neuen Fraktionsvorsitzenden von CDU und CSU ist ein untrügliches Indiz dafür, dass die Mehrheit der Fraktion das bislang praktizierte „Durchregieren“ seitens des Kanzleramtes inzwischen nicht mehr weiter akzeptiert. Das war anläßlich des Streits zwischen Seehofer und Merkel um die Rückweisung von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen schon im Sommer deutlich erkennbar und wurde in der Abwahl einer der treuesten Paladine der Kanzlerin, Volker Kauder, nun zu einem fait accompli.

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Ralph Brinkhaus hat sich nach seiner Wahl zwar umgehend bemüht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, zwischen ihn und die Kanzlerin passe politisch kein Blatt und auch die Zusammenarbeit mit der Fraktionsführerin der SPD, Andrea Nahles, werde bestens funktionieren; derlei Beteuerungen sind aber nichts weiter als Nebelkerzen, die er als Fraktionsführer werfen muss, um die tatsächlichen Widersprüche und Spannungen innerhalb der eigenen Fraktion und dem Koalitionspartner zu übertünchen und die Merkel- bzw. Kauder-Anhänger in der eigenen Fraktion zu beruhigen. Mit seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden sind diese Spannungen nämlich keineswegs kleiner, sondern größer geworden. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten von CDU und CSU sind in geheimer Wahl dem Wunsch der Kanzlerin, ihr durch die Bestätigung von Kauder als Fraktionsvorsitzenden den notwendigen Rückhalt zur weiteren Verfolgung ihrer politischen Linie zu geben, nicht gefolgt. Ihre Motive mögen dabei durchaus unterschiedlich gewesen sein, so dass nicht alle Brinkhaus-Wähler innerhalb der Fraktion ausgesprochene Merkel-Gegner sein müssen; unübersehbar ist aber, dass mehr als die Hälfte der Fraktion nicht mehr bereit ist, Merkels politischen Vorgaben wie Lemminge zu folgen. Das hat Brinkhaus, anders als Merkel, Seehofer und Dobrindt, wohl gespürt und zu seinen Gunsten mutig genutzt.

Als neuer Fraktionsführer hat er es nun allerdings mit einer Fraktion zu tun, deren eine Hälfte Merkel nicht mehr vorbehaltlos folgen möchte; die andere Hälfte besteht dagegen aus Merkel-Anhängern, die mit der Wahl Kauders bekundet haben, dass sie weiterhin willens sind, sich von einem Fraktionsvorsitzenden führen zu lassen, der sich ausdrücklich als verlängerter Arm der Kanzlerin versteht. Mit seiner tatkräftigen Hilfe hat sie seit Jahren politische Konzepte der SPD und der GRÜNEN übernommen und nicht nur gegen einen Teil der eigenen Wähler, sondern auch der eigenen Fraktion durchgedrückt. Die Anhänger dieses Kurses innerhalb der Fraktion sind mit der Abwahl von Kauder nicht verschwunden. Offenkundig sind die Kritiker und Gegner dieses Kurses in der Fraktion inzwischen aber so stark, dass es zur Wiederwahl Kauders nicht mehr reichte.

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Dies wird die ohnehin schon zunehmenden Spannungen innerhalb der Fraktion nicht nur zwischen CDU und CSU, sondern auch innerhalb der beiden Fraktionspartner weiter verschärfen und das Zusammenspiel mit der SPD noch mehr erschweren. Offen zu Tage treten wird dies schon recht bald unter anderem an dem im Koalitionsvertrag angekündigten „Fachkräftezuwanderungsgesetz“. Hier fordert die SPD, unterstützt von zahlreichen Hilfsorganisationen für Asylbewerber, einigen Unternehmen, einigen Unternehmensverbänden sowie den Gewerkschaften einen Verzicht auf die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, sofern diese einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen. Wie die Stuttgarter Zeitung vom 27. September berichtet, hat sich die neue Integrationsbeauftragte der Kanzlerin, Annette Widmann-Mauz, inzwischen mit der Initiative „Spurwechsel“ einiger Unternehmen „auf gemeinsame Ziele verständigt, Flüchtlingen trotz abgelehntem Asylbescheid in Deutschland eine längere Perspektive zu bieten.“ Demgegenüber hat sich die Fraktion von CDU und CSU unter Kauders Führung bislang gegen die damit verbundene neuerliche Aufweichung des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes ausgesprochen hat. Damit zeichnete sich schon ab, dass die Befürworter einer restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik in der Fraktion gegenüber dem Kanzleramt allmählich in die Vorhand gekommen sind.

Die Kanzlerin wartet, wie gewohnt, bislang ab, taxiert die Interessen- und Stimmungslage unter allen Beteiligten und hat sicherlich geplant, zu gegebener Zeit in kleiner Runde einen Kompromiss zu zimmern, der auch die SPD zufriedenstellt. Diese hat ihrerseits schon eine Kompromisslinie vorgezeichnet, indem sie eine Stichtagsregelung ins Spiel brachte, der in jedem Fall die bislang zugewanderten abgelehnten Asylbewerber vor einer Abschiebung schützen soll. Da täglich weiterhin tausende von Asylbewerbern nach Deutschland kommen, die auch ohne Anerkennung sofort arbeiten dürfen, wird sich dieses Problem so jedoch nicht lösen lassen. Den wie auch immer gestalteten Kompromiss sollte, so Merkels Kalkül, Volker Kauder dann, am besten im Einklang mit Alexander Dobrindt, in der Fraktion durchsetzen.

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Die Abwahl von Kauder macht ein solches Vorgehen wohl nicht mehr möglich. Es ist gut möglich, dass sich die entschiedenen Gegner einer weiteren Aufweichung des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes innerhalb der Fraktion von CDU und CSU angesichts der bisherigen und noch zu erwartenden Wahlerfolge der AfD auf den üblichen Kuhhandel mit der SPD nicht mehr einlassen wollen und stattdessen auf die Durchsetzung einer restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik pochen. Tun sie es nicht, wird dies die AfD aller Voraussicht nach noch mehr stärken. Das entschiedene Merkel-Lager wird demgegenüber unter Verweis auf die notwendige Sacharbeit und den erneut drohenden Koalitionsbruch auf einen Kompromiss mit der SPD pochen. Und die SPD-Führung wird, gedrängt von ihrem Co-Vorsitzenden Kevin Kühnert, zum wiederholten Mal vor der Frage stehen, ob sie eine ihrer Forderungen zurückzieht oder den Koalitionsbruch riskiert.

Ralph Brinkhaus ist angesichts dieser Gemengelage nicht um seine neue Aufgabe zu beneiden. Er hat unter anderem erklärt, dass er sich dafür einsetzen will, den Diskurs mit den zur AfD abgewanderten ehemaligen CDU/CSU-Wählern wieder aufzunehmen. Das wird ihm freilich nur gelingen, wenn er die Kritiker von Merkels Politik in den eigenen Reihen unterstützt und stärkt sowie als Fraktionsvorsitzender dafür sorgt, dass die von Merkel erzeugte Repräsentationslücke für national-konservative Wähler wieder geschlossen wird. Damit läuft er allerdings Gefahr, die links-liberal-grünen Wähler, die Merkel seit 2005 insbesondere von der SPD und den Grünen für die CDU gewonnen hat, wieder an diese Parteien zu verlieren. Brinkhaus wird deswegen wohl darauf setzen, die Fraktion auf eine Art Mittelweg zu führen, der beide Lager zufriedenstellt. Der Charakter von CDU und CSU als Volksparteien, die unterschiedliche Wählerschichten bedienen, soll auf diese Weise erhalten bleiben. Die Crux ist allerdings, dass es diesen Mittelweg derzeit und wohl auch in Zukunft gar nicht (mehr) gibt. Die Widersprüche zwischen einer links-liberal-grünen Politik und einer national-konservativen Politik sind dafür inzwischen zu groß geworden. Sie bilden inzwischen auch in Deutschland mit der AfD und den GRÜNEN zunehmend die gegensätzlichen Pole einer sich allmählich herausbildenden neuen politischen Landschaft. Der neue Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU wird sich daher entscheiden müssen, ob er sich hinter die Merkel-Anhänger oder die Merkel-Kritiker in der eigenen Fraktion stellt und damit eher auf zukünftige Koalitionen mit der AfD oder mit den GRÜNEN zusteuert. Offenkundig bewahrheitet sich für CDU und CSU inzwischen der alte Sponti-Spruch: In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.