Tichys Einblick
Kein Triumph des "Populismus"

Boris Johnson: Der Erfolg eines ehrgeizigen konservativen Pragmatikers

Will man die englische Einzigartigkeit bewahren, dann war der Austritt aus der EU ein logischer Schritt trotz der vielen problematischen Aspekte einer solchen Entscheidung, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.

BEN STANSALL/AFP via Getty Images

Wer sich die Berichterstattung der deutschen Medien vor der englischen Wahl ansah, gewann von den Vorgängen in Großbritannien meist einen etwas eigenartigen und einseitigen Eindruck, vor allem galt das für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Auf der einen Seite stand, so wurde es oft dargestellt, ein englischer Trump, ein nationalistischer Populist, mit gelegentlichen Neigungen zu rassistischen Äußerungen, der die Wähler schamlos anlog (die ARD hat ihn schon mal als „gewissenlosen Clown“ und „rücksichtslosen Zocker“ bezeichnet – Anette Dittert, 28. 6. 2016). Auf der anderen Seite standen jene Kräfte, die tapfer für die Idee des Friedens in Europa und eine immer stärker werdende EU eintraten, aber auch gegen Fremdenfeindlichkeit und die Diskriminierung von Minderheiten kämpften.

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Während Johnson, so wurde es oft behauptet, vor allem von den sprichwörtlichen alten weißen Männern mit einer ausgeprägten Sehnsucht nach vergangener imperialer Größe, oft verbitterten Rentnern in spießigen Badeorten oder heruntergekommenen Industriegebieten unterstützt wurde, standen auf der anderen Seite die Kräfte des Fortschritts, getragen vor allem von den jüngeren Wählern, bunt, tolerant, cool, multikulturell und pro-europäisch. Sicher, Corbyn war auch aus deutscher Sicht für viele ein etwas allzu radikaler Politiker. Aber das Ausmaß seiner Allianz mit offen antisemitischen Kräften in- und außerhalb Großbritanniens überging man doch meist mit betretenem Schweigen oder stellte die Kritik an entsprechenden Fehlleistungen von Labour sogar als eine Kampagne der „rechten“ Presse dar, wie dies im deutschen Fernsehen tatsächlich der Fall war. Das Gleiche galt für Corbyns Begeisterung für den Sozialismus ganz alter Schule mit umfangreichen Verstaatlichungen und massiv steigenden Steuern auch für die Mittelschicht.

Ein tieferes Verständnis für die Motive des Austritts aus der EU fehlt hingegen in Deutschland in Kreisen der Politik, der Wirtschaft und der Medien meist vollständig. Die lange parlamentarische Tradition Großbritanniens und eine ungeschriebene Verfassung, die vor dem Beitritt zur EU auf eine vollständige Souveränität des Parlamentes  – ohne eine Kontrolle der Gesetzgebung durch Gerichte – zugeschnitten war, schufen von Anfang starke Spannungen zwischen England und dem Rechtsgefüge der EU mit ihrem übermächtigen, stark politisiertem Gerichtshof, dem EuGH, und einem Parlament, das echte Debatten und Konflikte meist nur simuliert und auch nicht demokratisch gewählt ist.

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Der Bruch, zu dem es 2016 kam, war sicherlich nicht von Anfang an unvermeidbar, zumal die Mehrheit für den Austritt aus der EU beim Referendum denkbar knapp war, aber die Möglichkeit der Eskalation zeichnete sich in Wirklichkeit schon in den späten 1990er Jahren ab, als klar wurde, dass Großbritannien dem Euro nie beitreten würde, eine im übrigen im Rückblick außerordentlich weise Entscheidung. Es ist natürlich richtig, dass kein Land mittlerer Größe heute noch absolut souverän ist. Auf diese oder jene Weise ist man immer von anderen Ländern oder supranationalen Organisationen abhängig. Von daher, so mag es scheinen, ist die Aufgabe einer ohnehin nur relativen Souveränität zugunsten der EU, die gemeinsame europäische Interessen vertreten soll, auch kein großes Opfer. So denkt man jedenfalls in Deutschland überwiegend.

Dabei wird aber übersehen, dass es in England nicht um politische  Souveränität im allgemeinen geht, sondern um das Recht das Parlamentes, legislative Entscheidungen zu treffen, ohne einer höheren Instanz Rechenschaft ablegen zu müssen. Diese Parlamentssouveränität wurde zwar in den letzten Jahrzehnten schon erheblich durch die Rechtsprechung des EuGH, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, aber in letzter Zeit auch durch englische Gerichtshöfe wie den 2009 geschaffenen Supreme Court eingeschränkt. Aber wenn Reste dieses Verfassungsprinzips überhaupt noch bewahrt werden sollen, dann, so zumindest dachten die Brexiteers, musste jetzt die Reißleine gezogen worden, da in der Tat die zentralistischen Tendenzen in Brüssel immer stärker werden. Von der Leyens „Regierungsprogramm“ zeigt das ja überdeutlich. Die EU ist und bleibt nun einmal ein nicht lernfähiges politisches System, das vollständig unfähig ist, aus Rückschlägen und Krisen irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Die Antwort auf Probleme ist immer nur dieselbe: Mehr Europa, gleichgültig was geschieht. 

Dass das in England nicht sehr gut ankam, ist verständlich. Wie hat der englische Politikwissenschaftler Vernon Bogdanor so schön über die aus der Sicht Brüssels so seltsame Idee der nationalen Parlamentssouveränität geschrieben? „The concept of parliamentary sovereignty is not like baldness a mere matter of degree. It is rather an absolute, like virginity; just as one cannot be a qualified virgin, so also one can not be a qualified sovereign. A parliament is either sovereign or it is not.“

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Die politischen Kulturen in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU unterscheiden sich stark von einander und die englische ist auf ihre Weise sicherlich einzigartig. Wollte man diese Einzigartigkeit bewahren – und keineswegs jeder in Großbritannien will das, wie man einräumen muss – , dann war der Austritt aus der EU wohl doch ein logischer Schritt trotz der vielen problematischen Aspekte einer solchen Entscheidung, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Hier wird auch Johnson als Premier noch viele Hindernisse zu überwinden haben, denn ohne einen Handelsvertrag mit Brüssel wird es nicht gehen und für einen solchen Vertrag wird Großbritannien vermutlich schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen, so wie auf andere Weise es auch die Schweiz in der Vergangenheit getan hat. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Verhandlungen mit Brüssel wirklich schon Ende des Jahres 2020 erfolgreich abgeschlossen werden können, allenfalls ist ein weiteres Provisorium in Sicht, dass eine spätere umfassende Einigung vorwegnimmt.

Es gibt für die Konservativen auch andere Aspekte, die die Freude über den Sieg ein wenig trüben könnten. Die Partei hat insgesamt, das darf man nicht vergessen, nur rund 1 % der Stimmen gegenüber 2017 dazugewonnen, wenn man auf das gesamte Vereinigte Königreich blickt. Auch ist die Konservative Partei am Ende des Tages eben doch die Partei der älteren Wähler, wenn auch nicht unbedingt der Rentner geblieben. Bei den Wählern, die jünger sind als 45, hat Labour deutlich besser abgeschnitten, besonders bei den Frauen. Das Parlament dominieren die Tories jetzt nur, weil Labour insgesamt rund 8 % der Stimmen gegenüber dem Stand von 2017 verloren hat. Oder anders ausgedrückt, die Verluste der Konservativen in großstädtischen, kosmopolitisch geprägten Wahlkreisen wurden überkompensiert durch den Zusammenbruch der Machtstellung Labours in Nordengland, vor allem in Wahlkreisen, in denen Facharbeiter oder generell die untere weiße Mittelschicht ohne akademische Bildung den Ausschlag gaben. Diese früher sehr loyalen Wähler hat Labour verloren, möglicherweise auch auf Dauer. In keiner sozialen Gruppe haben die Konservativen diesmal so gut abgeschnitten wie bei den Facharbeitern („skilled working class“), mit einem Stimmenanteil von 50% (Labour 30 %).

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Es zeigt sich dabei, dass eine ehemals sozialdemokratische Partei, die einerseits mittlerweile von der linken, postnational gesinnten Bourgeoise dominiert wird und andererseits vor allem die Stimmen von Immigranten, die sich in Großbritannien oft nicht ganz heimisch fühlen, zu gewinnen sucht, viele traditionelle Wähler nicht mehr an sich binden kann. Linke Politiker, nicht nur in Großbritannien, werden sich damit trösten, dass die Demographie langfristig für sie arbeitet, denn es wird in Zukunft immer mehr Wähler mit Migrationshintergrund geben und auch mehr akademisch gebildete Wähler, und ältere Stimmbürger, die diesmal noch konservativ gewählt haben, werden in 10 Jahren tot sein. Allerdings, je mehr man der weißen unteren Mittelschicht ohne Studium klarmacht, sie zähle ohnehin nicht mehr, man könne ihre Wertvorstellungen, die ohnehin komplett überholt seien, straflos ignorieren, desto mehr werden sich diese Wähler radikalisieren, desto weiter werden sie nach rechts rücken. Hinzu kommt der Umstand, dass Immigranten der zweiten oder dritten Generation sich zum Teil doch assimilieren werden, was ja zum Teil auch bereits geschehen ist. Sie werden sich als Briten definieren und daher die grundsätzliche Ablehnung des Nationalstaates, die sich heute große Teile der politischen Linken auf die Fahne geschrieben haben, nicht unbedingt unterstützen. Anderen wiederum ist es oft wichtig, wichtiger als Briten ohne Migrationshintergrund, dass die traditionelle Familie aus Mann, Frau und Kindern und die Ehe an sich geschützt werden. Das ist schwer mit einem politischen Programm vereinbar, dass jeden Hinweis auf die biologische Zweigeschlechtlichkeit des Menschen bereits als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ sprachpolizeilich unter Strafe stellen will und auch ansonsten sich ganz an der besonderen Agenda sexueller Minderheiten orientiert. Hier liegt für die Konservativen in Zukunft durchaus ein gewisses Wählerpotential. 

Man sollte auch nicht vergessen, dass Umfragen immer wieder zeigen, dass eine deutliche Mehrheit der Wähler eine unbegrenzte, unkontrollierte Einwanderung – und das wird eben immer mehr zum Programm der politischen Linken in ganz Europa – für falsch halten. In Großbritannien waren z. B. 2018 immerhin 58 % der Wähler zwischen 25 und 49 (also eben nicht nur die Rentner) der Meinung, die Immigrationszahlen der vergangenen Jahre seien deutlich zu hoch gewesen. Unter diesen 58 % befinden sich vermutlich durchaus auch Bürger, die selber einen Migrationshintergrund haben. 

Großbritannien wählt Freiheit
Das alles ist für die Durchsetzung der Ziele der neuen Linken, der es vor allem um eine Kulturrevolution geht, die sich gegen eine ganze Reihe von Traditionen, zum Beispiel die Idee einer nationalen „Leitkultur“, richtet, keine gute Voraussetzung. Namentlich die Idee der politischen Korrektheit mit ihren immer neuen sprachpolizeilichen Maßnahmen und die überstarke Betonung der düsteren Seiten der  gesamten nationalen und sowie auch der europäischen Geschichte, in Großbritannien etwa mit Blick auf den Kolonialismus, stößt viele Menschen vor den Kopf, zumal Labour vor der Wahl für die Schulen schon ein entsprechendes „Umerziehungsprogramm“, z. B. mit eigenen Unterrichtseinheiten in Black History, angekündigt hatte. Irgendwie war das dann wahltaktisch dann wohl doch nicht der ganz große Erfolg.

Man kann das alles natürlich wie Corbyn mit ganz traditionellen sozialistischen Vorstellungen (mehr Umverteilung, mehr Sozialstaat) verbinden, riskiert damit aber andererseits Wähler, die kulturell eher links orientiert sind, aber auf Marktwirtschaft, nicht auf den allmächtigen Staat setzen, und auch keine höheren Steuern zahlen wollen, zu brüskieren, was Corbyn in Großbritannien ohne Zweifel gelungen ist. Jedenfalls zeigt die Wahl in Großbritannien, dass die Bäume der politischen Linken nicht in den Himmel wachsen, und das ist erst einmal auch eine beruhigende Botschaft. Gespalten bleibt Großbritannien als Land fürs Erste dennoch, denn man sollte nicht vergessen, dass nur etwa 47 % aller Wähler für Parteien (einschließlich der Ulster Unionists und der Brexit Party) gestimmt haben, die eindeutig den Brexit befürworten, die übrigen 53 % hingegen für solche, die ihn entweder ablehnen oder zumindest für ein zweiten Referendum eintraten, was freilich noch nicht heißt, dass diese Wähler alle selbst „Remainers“ sind, so wie es umgekehrt auch unter den Wählern der Konservativen weiter Bürger geben wird, die eigentlich den Brexit für eine Fehlentscheidung halten, aber Corbyn verabscheuen.

Es wird Johnsons Aufgabe sein, die Wunden der letzten Jahre zu heilen und das Land wieder zu einen. Gelingt ihm das und kann er überdies einen mehr denn je drohenden Austritt der Schotten aus der Union mit England ebenso vermeiden wie eine wirtschaftliche Rezession als Folge des Brexit, die weiterhin denkbar bleibt, auch wenn sie deutlich unwahrscheinlicher geworden ist, könnte Großbritannien vielleicht sogar zu einem Gegenmodell zur gegenwärtigen EU werden. Während die EU sich vom klassischen System der parlamentarischen Demokratie immer weiter entfernen wird – offiziell legitimiert auch durch die Notwendigkeit, eine Art wohlwollende, paternalistische „Umweltdiktatur“ zu schaffen – wird Großbritannien, oder zumindest England (falls Schottland unabhängig wird) an diesem System festhalten. In Kontinentaleuropa zeichnet sich ab, dass die Verbindung aus Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaat, die eine der größten Errungenschaften der europäischen Geschichte ist, in nicht allzu ferner Zukunft in ihrer klassischen Form der Vergangenheit angehören wird, weil sie mit dem europäischen Einigungsprozess kaum vereinbar ist. Vielleicht gibt es dann – neben der Schweiz – immer noch ein Land in Europa, das diese Tradition bewahrt und dem Rest Europas zeigt, worin trotz aller Konflikte und Krisen ihr Wert bestehen kann. Auch das wäre schon etwas wert. Es wäre nicht das erste Mal in seiner Geschichte, dass England eine solche Sonderrolle in Europa spielt.

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