Tichys Einblick
Impfzwang ab 50

Die nächste Spaltung im Zeichen der Impfpflicht: Jung gegen Alt

Mit der anberaumten Impfpflicht ab 50 bleibt die deutsche Corona-Politik ihrer Linie treu: Die Spaltung der Gesellschaft und der politische Kompromiss triumphieren über Problemlösung und öffentliches Wohl.

IMAGO / Markus Tischler

Deutschland ist das Land vollendeter Corona-Politik. Freilich, weder sahen wir eine komplette Abschottung wie in Neuseeland und Australien oder die Trucker-Aufstände vom kanadischen Kaliber. Doch die Leidenschaft, mit der die alte wie die neue Bundesregierung ihre Corona-Politik betreiben, hat fast faustischen Charakter. Man will hoch hinaus und sich von der Erde lösen. Indes die umliegenden Länder das Thema Corona ad acta legen – oder wenigstens auf den nächsten Spätherbst verschieben –, spricht Deutschland immer noch über Corona-Maßnahmen, als stünde ein unbekanntes Killervirus direkt vor der Türe.

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Im Gespräch mit zwei Amerikanern kam die ironische Bemerkung vonseiten der transatlantischen Freunde zum Ausdruck, dass Deutschland nun das Land sei, das in den ausländischen sozialen Medien als Verteidigerin der Freiheit wahrgenommen werde. Gemeint war damit die auch für die Einheimischen überraschende Demonstrationskultur. Die wäre allerdings nicht möglich gewesen, hätte es zuvor nicht eine der restriktivsten Corona-Gesetzgebungen gegeben.

Es gibt zudem wohl kaum ein Land der Welt, wo die Maßnahmenfrage so ideologisch und ersatzreligiös aufgeladen ist wie hierzulande. Während in Italien das Regiment nicht viel zahmer ist als in Deutschland, so fehlt dort im persönlichen Gespräch häufig jener moralisch-kantianische Impuls, der aus einer persönlichen Tat gleich ein verpflichtendes Menschheitsgesetz ableiten will. Nördlich der Alpen fehlt dagegen vor allem eines: die Einsicht zur Kurskorrektur.

Aus italienischen Erfahrungen nichts gelernt

Bleiben wir einen Moment im „Belpaese“. Wenn wir über die Impfpflicht ab 50 reden wollen, sollte man auch von dem Land sprechen, das dieses System eingeführt hat – und zwar nicht im Frühling, sondern mitten im Winter. Die Erfahrungen sind zwiespältig – insbesondere, was die Durchsetzung von Bußgeldern angeht. Und während hierzulande weder absehbar ist, wann ein solcher Zwang zur Spritze eingeführt oder wieder aufgehoben wird, hat die Regierung Draghi in ihrem Fahrplan den 15. Juni als Stichtag zur Aussetzung angegeben. Aussetzung ist nicht Abschaffung; aber das betrifft leider einen großen Teil der alten und vielleicht zukünftigen Maßnahmen.

Das Projekt einer „Impfpflicht ab 50“ steht damit in einer guten deutschen Tradition, die seit Beginn der Corona-Krise gilt. In Deutschland ist fast täglich Corona-Murmeltiertag. Die offensichtlichste Grundlinie bei der anberaumten Gesetzgebung: die Spaltung der Gesellschaft.

Seit März 2020 lastet ungeheuerlicher moralischer Druck auf der Bevölkerung. Wer sich nicht solidarisch zeigt, steht außen vor. Kritik an der Regierungslinie ist Kritik am Staat und damit immunzersetzend. Der Corona-Jargon klang bereits in der Anfangsphase befremdlich martialisch. Defaitisten und Deserteure waren und sind gefährlich. Die Erfahrung aus dem Jahr 2015 sitzt offenbar tief. Statt die Probleme zu lösen und sich auch unangenehme Fragen gefallen zu lassen, inszeniert die Parteipolitik ein Spiel aus Schuldigen und Unschuldigen, Artigen und Unartigen, Menschenfreunden und Menschenfeinden.

Die erste Linie: Corona-Politik ist Spaltungspolitik

Der nächste Akt im Theaterspiel ist daher zwangsläufig. Das Menetekel, dass beide Bundesregierungen in der Corona-Politik versagt haben, die meisten Handlungen unnütz in der Pandemiebekämpfung waren und der Machbarkeitswahn offenbar nicht alles bewältigen kann, steht flammend an der Wand. Wenn aber die Politik den Mythos verliert, jedes Problem bewältigen zu können – insbesondere im merkelisierten Nanny-Staat Deutschland –, dann verliert sie die Kraft ihrer Legitimation. Die Maßnahmen müssen wirken, die Impfung muss schützen, und die Impfpflicht muss die Pandemie beenden. In dem Zuge, in dem sich die Politik dieses Staates bemächtigt, Grundrechte außer Kraft gesetzt und eine chinesische Kopie von Autorität durchgesetzt hat, muss sie auch liefern.

Tendenz zur Impfpflicht ab 50
Es wird vermutlich keinen allgemeinen Impfzwang geben
Nun heißt es nicht mehr geimpft gegen ungeimpft, sondern jung gegen alt. Der Gram zeichnet sich ab. Denn es sind im Parlament Politiker unter 50, die sich besonders intensiv für das Projekt 50+ aussprechen. Wenn dann auch noch eine Figur wie Kevin Kühnert voranreitet, die als Manifestation studentischen Nichtsnutzes und lebensweisheitlicher Unterqualifikation für die Impfpflicht ab 50 streitet, ist das Feindbild für die Älteren gesetzt. Der Typus Emilia Fester spitzt die Feder, revidiert die Passagen ihrer letzten Rede und kann nun den Älteren, die sich nicht impfen lassen wollen, den Schwarzen Peter zuschieben: Hättet ihr euch alle impfen lassen, müssten wir keine Impfpflicht für euch ungezogenen Alt-68er und Boomer verabschieden, dann wären wir jetzt frei!
Das neue Narrativ: Freiheit nur durch Impfpflicht

Auf der anderen Seite stehen Anheizer wie Karl Lauterbach, die ihrer eigenen Generation ins Gewissen reden, denn die Impfrate bei den Alten sei im europäischen Vergleich niedrig. Damit steht das Narrativ vor der Haustüre, dass es in Deutschland vor allem die Alten waren, die sich nicht impfen ließen und die Quote verschlechtert haben. Der Schlüssel zum Ende der Pandemie ist demnach der Impfzwang für Senioren. Und viele werden diesen Schlüssel gerne in die Hand nehmen, um die eigene Verantwortung zu delegieren, kritische Fragen mit einer einfachen Wahrheit zu beantworten und damit einen eleganten Ausweg aus der Pandemie zu finden, der vermeintlich „erfolgreiche Politik“ und „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ demonstrieren kann.

Um die ganze Absurdität dieses Vorgangs zu veranschaulichen: Am selben Tag, als man in den Medien darum fürchtet, dass es keine allgemeine Impfpflicht ab 18 gibt, beendet die Schweiz de facto die Pandemie. Nicht wegen der Impfquote; sondern weil Omikron schlicht nicht mehr den Horror der Vorgängervarianten entfacht. Es gibt keine Krankenhausüberlastung, dafür jedoch eine gute Durchseuchung. Diese Grundimmunität, nicht die Impfquote, ist der Auslöser für die eidgenössische Freiheit. Die Spritze spielt keine Rolle.

Indes schwurbeln die „Gummihälse“ sich mal wieder um Kopf und Kragen über ein Projekt, das historisch als Debatte über die Schwertkampfkunst im Zeitalter der Musketen anzusiedeln wäre. Dabei kommt eine andere Grundlinie der Corona-Politik zum Tragen: Der politische Kompromiss gewinnt gegenüber fachlichen Belangen. Bereits 2021 öffnete Europa zu Ostern, indes die deutsche Politik über die Bundesnotbremse diskutierte – und die heute komplett verdrängte Osterpause. Während alles auf eine Entspannung der Lage hindeutete, fabulierten Medien und DIVI vom unvermeidlichen Notstand in den Krankenhäusern.

Die zweite Linie: Corona-Politik wird ausgefeilscht

Wer die damalige Diskussion im zuständigen Ausschuss erlebt hat, wird neben dem dramatischen Auftreten des DIVI-Vertreters – ganz im Kontrast zum Papier der Deutschen Krankenhausgesellschaft – vor allem eine politische Zuspitzung in Erinnerung behalten haben: den Streit um die Inzidenzen. Die Frage, ab welcher Inzidenzzahl etwa Schulen zu schließen seien, war ein reines Politikum. Nicht medizinische, ökonomische, gesellschaftliche, pädagogische oder sonstige fachliche Erwägungen spielten eine Rolle; sondern das nackte Geschacher zwischen den Forderungen von Union und Grünen, zusammen mit einer SPD, die dazwischen changierte. So stand im ersten Entwurf noch, dass die Schulen erst bei einer Inzidenz von 200 geschlossen werden sollten. Um dem politischen Gegner, der eine Inzidenz von 100 forderte, entgegenzukommen, traf man sich am Ende in Richtung Mitte: bei 165. Die angebliche Gesetzgebung auf Leben und Tod fand im Klein-Klein des üblichen Basarfeilschens statt, als ginge es um eine neue Umgehungsstraße im Sauerland.

Einrichtungsbezogene „Impfpflicht“
Gesundheitsämter drohen Impfunwilligen
Wen verwundert es da, dass die Wiederauflage des Konflikts zwischen den Bundestagsfraktionen so ausgeht, dass der Kompromiss zwischen Impfpflicht ab 18 und gar keiner Impfpflicht die Impfpflicht ab 50 ist? Niemand sollte sich indes darüber täuschen, dass diese Gesetzgebung ein Schlussstein ist. Vielmehr handelt es sich um ein Sprungbrett, dass, unter gegebenen Umständen im Herbst, doch noch zu einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 umgebaut werden könnte. Grund zur Freude gibt es deswegen für jene, an denen der Kelch vorbeigegangen ist, nicht. Es ist ein politisch durchschaubares Manöver.
Angst treibt die Politiker – aber nicht die Angst vor dem Virus

Die Angst, die die Politik treibt, ist nicht die Angst vor dem Virus, sondern die Angst vor den Medien. Trotz Tuchfühlung und Hofberichterstattung: Nichts liebt der Journalist mehr als eine Trophäe an der Wand. Diejenigen, die Lauterbach hochgeschrieben haben, schreiben ihn auch wieder herunter, um von der eigenen Beteiligung abzulenken. Sollte die Pandemie mit dem kolossalen Scheitern des letzten großen Corona-Projektes enden, dann wird für Spott und Wut gesorgt sein – nicht nur wegen der üblichen Häme, sondern auch von den Überzeugungstätern in den Redaktionen, für die Freiheit ein Unwort und Normalität eine Drohung ist.

Das wissen die Politiker in Berlin. Und dafür sind sie bereit, wirtschaftliche, gesellschaftliche und gesundheitliche Schäden in Kauf zu nehmen. Was nützt ihnen die Seele, wenn sie an der Welt verlieren?

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